Altes Haus - Brücken in die Vergangenheit

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Tarimona
schrieb am 25.08.2021, 08:57 Uhr
Kurt, das ist einfach herrlich. Auch ich sehe diesen Strand immer noch vor meinem inneren Auge. Danke für diese überaus amüsante Schilderung :-)

Hier auch wieder mal was Erinnerungen..

Der Speisewagen

Manchmal muss man erst so alt werden bis sich ein fast vergessener Kinderwunsch erfüllt. Manchmal wird, wenn man jemand anderem einen Wunsch erfüllt, auch der eigene Wunsch wahr. Oh, nichts wirklich Wichtiges, eine kindliche Vorstellung die mit den Jahren romantisiert und einfach weiter als verträumter Gedanke geschlummert hat. Und dann, unerwartet und überraschend rückt die Erfüllung nahe.

Als Kind fuhren wir oft mit dem Zug in einen nahe gelegenen Ort (Salzburg in der Nähe von Herrmanntadt/Rumänien). Da gab es herrliche Salzseen, an und in denen wir öfter mal die Sonntage verbrachten. Meistens fuhren wir mit dem Regionalzug dahin. Ab und an jedoch war es ein Transitzug, der von so weit her kam und so weit hin fuhr, wie ich es mir gar nicht vorstellen konnte. Wenn wir nun am Gleis entlang zu unserem Wagon liefen, blieb ich regelmäßig vor einem Wagen stehen und starrte verträumt dort hinein.

Da saßen schön gekleidete Menschen an weiß gedeckten Tischen vor dampfenden Tellern oder zierlichen Tassen und plauderten munter vor sich hin. Das müssen die glücklichsten Menschen der Welt sein, dachte ich damals. In dem Wissen (und weil meine Oma nach mir rief), dass ich so etwas nie erleben würde, lief ich den anderen hinterher. Beim Plantschen und Schwimmen in den Seen vergaß ich alles wieder.
Doch an manch anderem Sonntag wurde der Wunsch, auch einmal zu den glücklichsten Menschen der Welt zu gehören, immer wieder genährt.

Man wurde schließlich erwachsen und die Illusion, dass es sich bei diesen Menschen in diesen Wagons um die glücklichsten Menschen der Welt handelte, platzte. Der Zug rückte weit in den Hintergrund und das Auto eroberte sich seinen Stellenwert beim Überbrücken von Distanzen.

Unlängst jedoch, ergab sich die Gelegenheit eine Fahrt in einem alten Dampfzug mitzumachen. Als ich so die Wagons entlang lief, und unseren suchte, blieb ich plötzlich stocksteif stehen. Da stand es, in dicken Buchstaben auf einem royalblauen Wagon: SPEISEWAGEN. Und an den weiß gedeckten Tischen saßen sie wieder, die glücklichsten Menschen der Welt von anno dazumal. Und dieser Wagon hing an unserem Zug. Wir stiegen in unseren Wagen, suchten unser Abteil auf, machten uns mit den vier anderen Mitreisenden bekannt und waren gespannt, was diese Fahrt noch bringen mochte.

Dann fragte mich mein Mann ob ich nicht einen Happen essen wollte und vielleicht auch eine Tasse Kaffee. Ich nickte nur. Dann standen wir auf und ich folgte ihm. Wie selbstverständlich öffnete er die Tür vom Speisewagen schritt zu einem freien Tisch und setzte sich hin. Ich staunte erst einmal und vor lauter Aufregung fühlte ich mich wieder wie damals mit acht Jahren. Nur stand ich diesmal auf der anderen Seite der Wagonwand, war mittendrin.

Mein Herz klopfte unsinnig und ich setzte mich. Unser Tisch war am Fenster und als ich raus sah, spazierte gerade eine Mutter mit ihrer Tochter an unserem Wagon vorbei und alles wurde wieder lebendig. Als dann der Kaffee und das belegte Brötchen vor mir standen, die Dampflok ihr Huuu-Huuuu ertönen ließ, die herbstliche Landschaft sanft an mir vorüberzog, ja da war ich für ein paar Minuten der glücklichste Mensch der Welt!
Kurt Binder
schrieb am 26.08.2021, 13:25 Uhr
Wahrlich, ich sage euch:

Wer in 24 Stunden mit solch einer märchenhaften Geschichte beinahe 100 Aufrufe verbucht, der hat die Forum-Charts erfolgreich erstürmt, und sollte mit der Erzähler-Qualität – an die Börse gehen :-))) !
Tarimona, ich lupfe mein Sonnenhütchen!!

Emotional motiviert hier ein paar Gedanken zu MICH:

Es war einmal

Sehr lang ist die Brücke,
über die ich in die Vergangenheit schwebe ...
Die Jahre durchgeisternd
empfinde ich nicht nur Glück und Zufriedenheit,
denn herb war mein Leben,
vom dritten Schrei an,
drückend wie eine bleierne Last,
deren Sinn ich nie begriffen habe,
und die mir oft die Süßspeise versalzen hat.

Zugegeben - es waren treue Lasten,
loyale Begleiter durch all die Jahrzehnte.
Dennoch haben sie mein Leben pikant gewürzt -
unglaublich, aber wahr!
Ich wäre ja heute sonst nicht der, der ich bin,
und mit dem ich äußerst zufrieden – sein muss!
Kurt Binder
schrieb am 05.09.2021, 12:03 Uhr
Harro

Es waren unvergessliche Monate, die ich 1975 mit meiner Familie im Übergangslager von Stadeln verbracht hatte. Da wir uns in dem dürftig eingerichteten Appartement ziemlich allein fühlten, konsultierte ich mein Adressbuch, und stieß auf die Anschrift meines Cousins Harro Birkner, der in Erlangen wohnte – keine 10 km von uns entfernt.
Ich zögerte lange, ihn anzurufen. Da wir uns ja zu dem Zeitpunkt von dem Übergangsgeld noch kein Auto leisten konnten, müsste ich ihn bitten, uns zu besuchen – und das war mir peinlich. Doch da ich ihn unbedingt wiedersehen wollte, nahm ich mir ein Herz und rief Harro einfach an. Er schien sehr überrascht zu sein, dass ich nun auch in Deutschland war, und wusste anfangs nicht so recht, was er sagen sollte. Bald lockerte sich unser Gespräch, und er sagte zu, uns noch am heutigen Abend zu besuchen.
Als er in unser primitiv eingerichtetes Appartement trat, sah er sich mit einer Miene um, die ich nicht deuten konnte. Ich machte ihn mit meiner Frau und den Kindern bekannt, und dann holte er aus seiner Umhängetasche eine Pralinenschachtel und ein paar Süßigkeiten hervor, die er meiner Frau galant überreichte. Die Kinder jubelten vor Freude natürlich gleich los und tanzten ausgelassen im Kreis, denn solche Naschereien konnten wir ihnen nur selten leisten.
Und dann begann er zu plaudern - wider Erwarten nur von sich. Er fragte nicht einmal, wie wir in unsrer neuen Heimat zurecht kämen, und ob wir etwas bräuchten, sondern redete und redete, und wir stellten erstaunt fest, dass er sich uns als ein vom Schicksal gebeutelter Mensch darstellte, der auch nach drei Jahren in der Bundesrepublik in erheblichen Schwierigkeiten steckte. Er klagte über alles und jedes, ließ kein gutes Haar an der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen, und meckerte auch ausgiebig über die Regierung, denn „überall säßen nur Alt-Nazis und Versager“. Nach und nach hörten wir immer deutlicher heraus, dass er sich tatsächlich als Opfer der gebündelten Intrigen aller seiner Mitmenschen empfand, die es nur auf sein Geld abgesehen und ihn in den finanziellen Ruin getrieben hätten. Bald erfuhren wir dann, ohne fragen zu müssen, was so seine konkreten Nöte waren. Harro war Lehrer, und Alleinverdiener in seiner 5-köpfigen Familie, und hatte sich von Anfang an in verschiedene finanzielle Abhängigkeiten gestürzt. Die Kreditangebote waren verlockend, und so hatte er sowohl ein freistehendes Haus mit Garten, als auch ein luxuriöses Mobiliar auf Raten gekauft. Doch bald darauf begannen die Rückzahlungsschwierigkeiten, die er mit Umschuldungen zu lösen versuchte – was ebenfalls in die Hose ging. Und genau das war seine Situation, als er uns besuchte.
„Weißt du, Kurt“, sagte er besorgt, „alles kostet Geld, wie zum Beispiel auch dieser Besuch. Es ist für euch so einfach zu sagen: ‚Komm uns besuchen'. Aber keiner denkt daran, was mich das kostet! Der Weg hin und zurück beträgt mindestens 25 km. Bei dem Spritverbrauch meines Wagens sind das fast 6 Liter Superbenzin, was etwa 5 Mark kostet. Mit allen anderen Betriebskosten, wie der Reifenverschleiß, der des Motors und der Ölverbrauch kommt dann noch die mit jedem gefahrenen Kilometer zunehmende Entwertung des Autos hinzu!“
Ich hatte ihm geduldig zugehört. In mir stieg spontan heißes Mitleid mit diesem geplagten Mann auf, und ich überlegte schon, ob ich ihm die enormen, durch meine unbedachte Einladung verursachten Ausgaben bezahlen solle. Zwar hatte er uns kein einziges Mal gefragt, wie es uns ginge und ob wir als Neuankömmlinge auch zurecht kämen. Doch angesichts seiner bemitleidenswerten Lage lebten wir in unsren zwei Zimmern ja wirklich wie im Schlaraffenland.
„Mein Gott, Harro“, sagte ich zu Tränen gerührt, „deine Lage ist allerdings bitter; wie du das bloß aushältst? Doch - was für ein Auto fährst du eigentlich?“
„Natürlich einen Mercedes! Es ist zwar nur ein 250 SE mit 150 PS, Modell 1968, und er verbraucht auch etwas viel Benzin, jedoch ...“
„Ja, aber Harro“, unterbrach ich ihn, „wenn du so knapp bei Kasse bist, wieso schaffst du dir statt diesem durstigen Benzinschlucker keinen kleineren Wagen an - einen VW-Polo oder einen Opel Kadett?“ Den entsetzten, sehr missbilligenden Gesichtsausdruck, mit welchem er mir das Folgende verkündete, habe ich nie vergessen:
„Aber Kurt, das ist doch der totale Schwachsinn! Mein Nachbar ist Ausländer, arbeitet am Fließband, und fährt einen neuen Opel Commodore! Und da soll ich als Akademiker nur einen - Kadett fahren?“
Wie gut ich ihn verstand! Also das durfte er wirklich nicht auf sich sitzen lassen. Natürlich gehörte zu diesem, unter erheblichen Opfern grotesk aufgezogenen Konvoi aus Sachwerten auch ein „standesgemäßes“ Auto, und wenn man dafür täglich nur Pellkartoffeln essen müsste! Das Image unsrer integren Persönlichkeit muss um jeden Preis gewahrt werden - zumindest in substanziellen Aspekten!
Nun, da kann man nur hoffen, dass sich nicht allzu viele Menschen im Bestreben, sich gesellschaftlich comme il faut zu etablieren, von dem ruinösen Sog dieser Überbietungsmentalität mitreißen lassen.
“Und da wäre noch etwas", schloss er seine einleuchtenden Betrachtungen ab, „ihr Aussiedler lebt ja hier auch auf meine Kosten - als Steuerzahler!“
Ich kann nicht behaubten, dass ich daraufhin erwogen habe, nach Rumänien zurückzufahren. Auf jeden Fall war dies Wiedersehen zwar nicht das angenehmste, auf jeden Fall aber das lehrreichste! Wie wir in den darauf folgenden Jahren gehört hatten, soll Harro durch spekulative Investitionen nur Verluste verbucht haben. Das Einzige, was ihm trotz allem verblieb, war seine charakterliche Standfestigkeit als Saubermann, und sein intaktes, glückliches Familienleben.
Kurt Binder
schrieb am 24.09.2021, 11:18 Uhr (am 24.09.2021, 11:19 Uhr geändert).
Verhängnisvolle Einschätzung

Es war im Sommer 1948. Im pubertären Alter von 15 Jahren stand ich vor dem Problem, mich für einen Beruf zu entscheiden. Nach längeren Erwägungen entschied ich mich für eine dreijährige Handelsschule, eine "Şcoala profesională". nach deren Abschluss ich allerdings keine Hochschulreife erlangt hätte. Eines der Aufnahmefächer war Geschichte, und das Thema lautete:: Der Zweite Weltkrieg! Dabei war nicht etwa nur eine Episode gefragt, sondern das gesamte verheerende Geschehen, von seinen Anfängen bis hin zum leidvollen, bitteren Ende. Und wir hatten nur zwei Stunden Zeit dazu, um dies umfangreiche Thema zu behandeln.
Leider hatte ich nicht die geringste Ahnung von der Feinstruktur dieses weltweiten Desasters. Meine Vorstellungen davon waren zum Teil noch geprägt aus den Jahren, als auch ich als Pimpf der DJ - der Deutschen Jugend in Rumänien - von der mitreißenden Fassade des Nationalsozialismus geblendet und beeindruckt war. Als Kind mit elf Jahren hatte ich mir freilich nie die Frage nach der Moral, einer Logik oder gar der Rechtmäßigkeit der deutschen Eroberungskriege gestellt. Das alles war erst vier Jahre her, und wurde ja dann brüsk abgelöst durch andere Wegbereitungen für eine neue Marschrichtung - von der ich ebenso wenig Ahnung hatte. Und nun musste ich aus diesen Dunkelzonen meines Wissens heraus eine Prüfungsarbeit verfassen, von der möglicherweise mein späterer Beruf abhängen sollte!
Befangen von der Kenntnis meiner Unkenntnis begann ich also zögernd zu schreiben. Es wurde die reinste Faselei, denn ich ließ fast ausschließlich meine Phantasie spielen. Ich brachte kühn alles zu Papier, was mir grundsätzlich zu einer kriegerischen Auseinandersetzung einfiel, eigene Kommentare und Betrachtungen, welche eher zu einer naiv-subjektiven Philosophie zum Krieg schlechthin geeignet gewesen wären. Jedenfalls tobte ich mich hemmungslos aus, verdammte die Kriegshetzer, sang eine Lobeshymne auf den Frieden, streichelte und fütterte die Weiße Taube und verspann so manches Stroh zu Gold.
Meine Arbeit wurde eine Wucht, meinte ich. Doch als die Ergebnisse bekannt gegeben wurden - war ich durchgefallen. Mehr noch, ich wurde sofort nach der Bekanntgabe der Ergebnisse in die Direktion zitiert.
„Bist du der Binder Kurt?“, fragte mich der Direktor, ein korpulenter Herr mit grauen Schläfen. Ich bejahte schüchtern.
„Und dein Vater war bei der Waffen-SS, hat für euren Hitler gekämpft?“ Auch das musste ich zugeben, denn er wusste ja ohnehin alles über mich. Er betrachtete mich mit einem Ausdruck im Gesicht, den ich nicht deuten konnte. Dann murmelte er:
„Deine Arbeit ist im Allgemeinen gut; du solltest Philosoph, und nicht Buchhalter werden.“ Ich spürte, wie sich die Verkrampfung in meinem ganzen Körper auf einmal lockerte. Doch - warum wurde ich dann nicht angenommen? Er fuhr verhalten fort:
„Leider hast du am Thema vorbei geschrieben! Es war der Zweite Weltkrieg gefragt, und nicht der Krieg als solcher, verstehst du?“ Ich konnte nur zaghaft nicken. Und dann steigerte sich seine Stimme:
„Und warum zum Teufel hast du nicht den Mut, diesen Hitler als das darzustellen, was er war, nämlich als wahnsinniges Monstrum, he? Hat uns das Schwein nicht genug angetan, uns und der halben Welt? Und dir und deiner ganzen Familie?“ Er reichte mir meine Arbeit.
„Da - lies vor, und zwar das über der roten Wellenlinie!“ Ich nahm das Blatt entgegen und las stotternd:
„ ... und dann hat Herr Hitler auf einmal einen Krieg gemacht, der eigentlich gar nicht nötig war.“ Ich hörte auf zu lesen und sah zum Direktor auf. Der stand dicht vor mir, die Lippen verkniffen, und ich bemerkte, dass er nur mühsam seine Erregung unterdrückte.
„Ach so“, sagte er dann langsam und mit gepresster Stimme, „du bist also der Meinung, dass dieser Krieg von deinem Herrn Hitler - nicht nötig war?“ Die Ironie in seinem Ton war mir nicht aufgefallen, auch nicht, dass er von „meinem“ Hitler sprach. Und so nickte ich eifrig, froh darüber, dass er meine Haltung zum Krieg offensichtlich teilte.
„Ja, er war wirklich nicht nötig, Genosse Direktor!“ Ich glaube, dass ich ihn nach dieser scheinbar positiven Wende des Gesprächs sogar angelächelt hatte. Das war ein Fehler, denn diese Ruhe war trügerisch - vor dem Sturm!
„Jetzt hört euch diesen Knaben an!“, tobte er plötzlich los. „Da gelingt es einem Wahnsinnigen, die halbe Welt in einen mörderischen Krieg zu verwickeln, bei dem mehrere zig Millionen Menschen krepiert oder ermordet worden sind ... und ... und da kommt so ein unbedarftes Bübchen einher, nennt diesen Satan auch noch ‚Herr’, und behauptet bloß, das sei - unnötig gewesen!“ Er war feuerrot im Gesicht vor Erregung, und ich erwartete jeden Augenblick eine Ohrfeige. Doch das geschah nicht - im Gegenteil. Er atmete noch eine Weile tief durch, und sagte dann in einem leicht versöhnlichen Ton zu mir:
„Jetzt hör mal zu, mein Junge, ist dir bewusst, dass Hitler auch deinen Vater in den Tod getrieben hat? Du musst lernen, die Wahrheit zu erkennen, aber auch, sie auszusprechen und dazu zu stehen, verstehst du mich?“ Ich verstand genau, was er mir mitteilen wollte. Es hatte mir allerdings an Mut gefehlt, jemanden offen zu verurteilen, was vor weniugen Jahren ein Todesurteil gewesen wäre.
An dieser Schule wurde ich nicht angenommen. Meine Untertreibung, mittels derer ich den Mord an vielen Millionen Menschen verharmlost hatte, war eben zu gravierend, doch hatte ich daraus gelernt.

Kurt Binder
schrieb am 30.09.2021, 10:10 Uhr
Heute stelle ich meine Zeitmaschine auf das Jahr 1950 ein. Ich bin Schüler im zweiten Jahr der Şcoala profesională de energie electrică in Hermannstadt, und Zeuge eines der üblichen Schauprozesse in der Zeit des sogenannten, noch ziemlich desorientierten Sozialismus.


Der Fall Stein

Eines Morgens wurden wir nach dem Frühstück angewiesen, uns im Hof in einem Karree aufzustellen. Direktor Boboc, umgeben von seiner treuen Gefolgschaft, den Genossen Pädagogen, trat mit seiner typischen todernsten Miene aus dem Gebäude heraus, stellte sich vor die offene Seite des Karrees - und kam auch gleich zur Sache.
„Der Genosse Stein soll augenblicklich vortreten!“, rief sein zu jeder Zeit ergebenes Sprachrohr, der Genosse Pädagoge Pîrjoală, über die geduckten Köpfe der Schüler hinweg. Ein Aufatmen säuselte durch die Reihen. Wenn man mit dem Direktor konfrontiert wurde, bedeutete das meistens nur Unheil.
Jakob Stein trat langsam hervor. Der Direktor musterte ihn mit einem bitterbösen Blick, wusste aber anscheinend nicht so recht, wie er beginnen sollte.
„Wie es uns scheint“, sagte er dann, „fühlt sich der Genosse Stein bei uns nicht mehr wohl - stimmt das, Stein?“
„Doch, Genosse Direktor“, antwortete dieser sehr selbstsicher, „ich fühle mich ganz ausgezeichnet!“
„Dann erklär uns bitte, warum du uns verlassen willst! Ich glaube, dass du dir deiner Verantwortung nicht ganz bewusst bist!“ Stein runzelte die Stirn, blieb aber ruhig.
„Ich fahre nach Israel, Genosse Direktor, in meine Urheimat, gerade weil ich Verantwortung empfinde.“ Boboc wurde dunkelrot. Dann zelebrierte er eine Geste, die wir schon oft beobachtet hatten, wenn er in Verlegenheit geriet: Er griff sich mit der linken Hand in den Schritt und hob sie zweimal auf und ab. Wir nannten das amüsiert die ‚Hodenschaukel’.
„Deine Heimat ist hier, Stein“, rief er entrüstet, „hier, wo du geboren bist! Was hast du in Israel verloren, he?“
„Israel braucht mich, Genosse Direktor!“, entgegnete Stein.
„Auch die Volksrepublik Rumänien braucht dich!“, ereiferte sich der Direktor. „Und sie hat dich 18 Jahre lang ernährt - das solltest du nie vergessen!“
„Fünf Jahre, Genosse Direktor, nur fünf!“, korrigierte ihn Stein. „Die drei Jahre davor haben wir alle, Sie übrigens auch, gegen die Russen gekämpft. Und die restlichen zehn Jahre haben wir gemeinsam unter den unmenschlichen Lebensbedingungen in der Monarchie gelitten!“ Sein Zynismus war kaum zu überhören. „Außerdem - bin ich Jude!“, fügte er leise, fast andächtig hinzu.
„Dann geh doch zu deinen Juden!“, rief Boboc wütend, weil Stein mit der mathematischen Aufstellung der zeitlichen Anteile seiner Lebensjahre vor und nach dem Frontenwechsel Rumäniens Recht hatte. Da ihm kein Gegenargument einfiel, wandte er sich uns zu und ergänzte höhnisch:
„Seht ihn euch gut an, wie er dasteht, dieser jämmerliche Zionist! Damit es euch allen gut in den Kopf hineingeht: Verräter der Republik haben in unseren Reihen nichts zu suchen!“
Jakob Stein stand erhobenen Hauptes schweigend da. Sein Blick fixierte irgendeinen imaginären Punkt in weiter Ferne - vielleicht war es schon die Vision seiner künftigen Heimat. Dieser Schauprozess war eine einzige Farce, und seine gestraffte Haltung drückte nur Verachtung aus. Er war sich keiner Schuld bewusst. Warum sollte ein Mensch nicht die Freiheit haben, die Wahl seiner Heimat - wie immer dieser Begriff auch interpretiert wird - selbst zu treffen? Er antwortete auch nicht, als der Direktor ihm mit schallender, pathetischer Stimme den Todesstoß versetzte:
„Ich erkläre dich hiermit aus den Reihen unsrer Genossen ausgeschlossen! Du existierst für uns nicht mehr!“ Das bedeutete, dass er sofort exmatrikuliert werden sollte. Stein rührte sich nicht. Man sah ihm an, wie sehr es ihn schmerzte, nicht mehr „Genosse“ sein zu dürfen, nachdem er dies Glück fünf Jahre lang genossen hatte. Nach dieser moralischen Exekution war die Show zu Ende und wir gingen in die Klassen.
Jakob Stein durfte die laufende Woche noch in unsrer Schule bleiben; danach haben wir ihn nicht wieder gesehen. Etwa zehn Jahre später sollte ich nochmals Zeuge einer ähnlichen Säuberungsaktion der Gesellschaft werden, allerdings von noch groteskeren Ausmaßen - in jeder Hinsicht!

Kurt Binder
schrieb am 09.10.2021, 12:07 Uhr
Gott und seine Genossen

Im Herbst 1950 begann also unser zweites Schuljahr an der Berufsschule für Elektriker in Hermannstadt. Rumänien hatte damals infolge eines Abkommens etwa 50 Mädchen aus Griechenland, damals noch eine Monarchie unter König Paul I. aufgenommen. Sie waren fast alle klein und mollig, und die rumänischen Jungs waren besonders in der ersten Zeit ganz verrückt nach ihnen. Es kam gelegentlich sogar zu Keilereien um die eine oder andere, obwohl die halbreifen Zankäpfel oft gar nicht wussten, dass es um sie ging. Weil sie von den Pädagoginnen aber streng behütet wurden, blieben demnach meines Wissens diese Verehrungen rein platonisch.
Die Hellenen, die fast ausnahmslos sehr hübsch waren, lebten sich schnell und problemlos in die neue Umgebung ein. Die rumänische Sprache hatten sie vorher schon in einem einjährigen Sprachkurs gelernt. Nun hatte man ihnen außer Sprachkenntnissen auch eine politisch-ideologische Dressur verpasst - sozusagen die „hohe Schule“ des neuen Verhaltens in einem sozialistischen Staat. Schon bald nahmen einige von ihnen die Gelegenheit wahr, sich auf dieser Ebene durch besondere Beflissenheit den Führungskadern der Schule zu nähern. So scharwenzelten sie eifrig sowohl um den Sekretär der UTM (Vereinigung der Arbeiterjugend), als auch um die diversen Pädagogen und Pädagoginnen, ja sogar um den Genossen Direktor Boboc (zu dt: Küken) persönlich herum. Und so wurden wir eines Tages mit einer völlig neuen Problematik konfrontiert.
Sofie war eine besonders engagierte Nachwuchs-Erbauerin des Sozialismus - und auch die hübscheste, und so wurden ihre eifrigen Bemühungen um die Gunst der Obrigkeit spielend mit einem unübersehbaren Erfolg belohnt. Wie eine Katze strich sie schnurrend um den Direktor herum, und der streichelte mit unverhohlenen Blicken ihre süßen, jungen Hüften. Sie plauderten immer öfter miteinander, und dann eines Tages ...
Es war in der großen Pause. Ein schöner, sonniger Tag hatte alle Schüler veranlasst, sich in dem riesigen Hof des Theresianums die Füße zu vertreten. Auch Direktor Boboc war heute im Hof, und in seiner unmittelbaren Nähe verdrehte Sofie ihre schönen Augen. Sie unterhielten sich, lachten von Zeit zu Zeit laut auf und lugten immer wieder zu uns. Im Gespräch begriffen, schlenderten sie dann langsam herüber und blieben ganz in unserer Nähe stehen. Sofie nickte Boboc zu, dann ging sie direkt zu einem rumänischen Mitschüler, der dicht bei uns stand und in einem Heft las, und fragte ihn auffallend laut:
„Genosse Vasile, glauben Sie an Gott?“
Die Schüler der höheren Klassen mussten offiziell gesiezt werden. Vasile blickte erstaunt auf, sah zu Boboc hinüber - und erriet sofort den Zusammenhang. Er kam vom Land, und es war anzunehmen, dass er von seinen orthodoxen Eltern sicher eine entsprechend strenge religiöse Erziehung mitbekommen hatte. Doch er wusste, dass es angeraten war, bei solchen Provokationen diplomatisch zu sein. Also erwiderte er:
„An - Gott? Natürlich nicht - ich bin doch nicht blöd. Wieso?“
„Sehr gut“, lobte ihn Sofie, „sehr gut. Wie soll man auch an etwas glauben, was es gar nicht gibt?“ Boboc hatte mitgehört. Er nickte zufrieden und scharrte, auf den Boden starrend, mit der Schuhspitze im Sand. Dann trat Sofie an uns heran und wandte sich lächelnd an Erhard Kremer:
„Genosse Kremer, glauben Sie an Gott?“ Erhard wurde über und über rot vor Empörung. Er hatte sie vorhin Vasile fragen gehört und wusste, dass das nur ein Ablenkungsmanöver war, um hernach an die eigentliche Zielgruppe ihrer Umfrage - an uns Sachsen heranzutreten. Er war sehr schüchtern, und ausgerechnet ihm stellte die verschlagene, kleine Aphrodite dieselbe verfängliche Frage.
„Es gibt nämlich keinen Gott!“, erklärte Sofie dem total Verdatterten aus ihrem sicher sehr fundierten Wissen heraus. Doch angesichts der Unverschämtheit, mit der sich dies Persönchen hier in Szene setzte, wuchs Erhard mit einem Mal hoch über sich hinaus.
„Ich meine“, stotterte er, „dass der Glaube etwas ganz Persönliches ist. An dem Glauben eines Menschen, egal wie er auch sei, kann man also weder Kritik üben noch darüber streiten!“ Sofie war verdutzt und sichtlich verärgert. Auf solchen Widerstand war sie nicht gefasst.
„Aber es gibt keinen Gott!“, beharrte sie stur und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. „Haben Sie ihn denn jemals gesehen?“ Erhards spontan aufgebäumter Kampfgeist schien zu brechen. Er wandte sich verlegen ab. Boboc hatte diese Szene verfolgt und grinste nun offen zu uns herüber - sehr zufrieden, wie es aussah. Sein Liebling schlug sich tapfer. In mir aber kochte es. Wie kam dieses kleine, ungebildete Gänschen eigentlich dazu, uns über unsere Weltanschauung auszufragen? Als hätte Sofie meine Wut gerochen, kam sie prompt auf mich zu.
„Und Sie, Genosse Binder, glauben Sie an Gott?“
„Natürlich glaube ich!“, zischte ich sie mühsam beherrscht an.
„Aber es gibt gar keinen Gott!“, postulierte sie stereotyp.
„Und ich glaube, dass es ihn doch gibt!“ Dann kam die Frage, die mich in die Enge treiben sollte:
„Haben Sie Gott schon einmal gesehen?“
„Nein, habe ich nicht!“, knurrte ich sie an. Verdammt, ich musste etwas Zeit gewinnen, denn so einfach wollte ich mich nicht geschlagen geben. Auch konnte ich diese von völlig inkompetenter Seite gestellte Gretchenfrage nicht akzeptieren.
„Also, gibt es ihn nicht!“, rief Sofie triumphierend. Diese denkbar primitive Schlussfolgerung, dass es nur das gäbe, was der Mensch sehen kann, suggerierte in mir jedoch spontan ein überzeugendes Gegenargument, und ich fragte sie höhnisch:
„Hast du - Stalin schon mal gesehen?“
„Den Genossen Stalin? Nein, aber ...“
„Siehst du! Und würdest du deshalb behaupten, dass es ihn gar nicht gibt?“ Boboc runzelte die Stirn, denn diese außerplanmäßige Wende gefiel ihm ganz und gar nicht. Er griff sich gewohnheitsgemäß an die Hoden, trat dicht zu mir und knurrte mich an:
„Was - was redest du da über den Genossen Stalin?“
„Sofie behauptet, wenn man Gott nicht sehen kann, dann gäbe es ihn auch nicht!“, erklärte ich ihm. „Sie hat aber auch Stalin ... den Genossen Stalin noch nie gesehen!“
„Ja, aber wir kennen ihn aus Büchern!“, wehrte sich Sofie heftig.
„Gott auch!“, antwortete ich mit sardonischem Grinsen. „Aus der Bibel!“ Die Selbstsicherheit Sofies war spürbar ins Wanken gekommen.
„Und ... und von den vielen Bildern ... aus dem Radio ...!“
„Gott auch! Sieh dich doch mal in einer Kirche um!“
„Aber ... aber der Genosse Gott ist doch nur ...“, stotterte sie feuerrot und sah hilflos zu Boboc. Der verbiss nur mühsam seine Wut über Sofies verbalen Ausrutscher, doch vor uns wollte er sein Herzpinkel auf keinen Fall tadeln
„Lass ihn doch und komm“, brummte Boboc. „Jetzt weiß ich wenigstens, dass er in die Kirche geht.“ Und drohend zu mir gewandt zischte er:
„Um dich kümmere ich mich noch, verlass dich darauf! Du wirst es noch bereuen, was du da Abfälliges über unsern geliebten Genossen Stalin gelästert hast!“
Seltsamerweise empfand ich trotz dieser Drohung keine Angst vor ihm. Im Gegenteil - ich verspürte sogar einen kleinen Triumph über meinen Etappensieg. Ich hatte zwar nichts Abfälliges über Stalin gesagt, aber ich traute dem Küken zu, dass es das gegebenenfalls behaupten würde.


Kurt Binder
schrieb am 15.10.2021, 09:31 Uhr
Am Hundsrücken 1947

Es war die Zeit des Sturm und Dranges -
wir spielten Völkerball und Fanges,
und hatten dennoch in den Pausen
genügend Muße um zu jausen,
ein Leckes- oder Fettenbrot -
was es halt gab so in der Not.

Und wenn wir stürmisch im rasanten
Zickzack durch alle Gänge rannten,
entgegen jeder Disziplin
uns wild die Hälse heiser schrien,
Hans dem Karlutz ganz kollegial
die wilde Balagroß empfahl,
dann war der Schuldiener, Herr Müller,
als guter Geist ein echter Knüller:
„Ich und der Herr Direktor hassen
das blede Schrei’n, das sollts ihr lassen,
und nicht mehr toben so rabiat -
ihr seids nicht in der Löffelstadt!“

Ob wir nun stuckten oder schwänzten,
uns pespernd geistig mal ergänzten;
mit unsrem Miklosch zackig turnten,
vor einem Ex gemeinsam zwurnten;
die Zehn Gebote deklamierten,
mal einen Lehrer buserierten -
ich möchte jene Zeit nicht missen,
so hart sie war, und oft - bescheiden!
Kurt Binder
schrieb am 15.10.2021, 09:47 Uhr
Sory - habe nicht erwähnt:
Das oben geschilderte Geschehen hat sich in Hermannstadt im Gymnasium abgespielt!

Ei ei ei ...
Kurt Binder
schrieb am 21.10.2021, 19:16 Uhr
Mit dieser Begebenheit knüpfe ich an "Gott und seine Genossen" an:

Die "Sachsengarde"

Die offensichtliche Abneigung Direktor Bobocs uns gegenüber hatte bewirkt, dass wir Sachsen noch mehr zusammenrückten - und von da bis zu einem organisierten Zusammenschluss war es nunmehr nur noch ein kleiner Schritt. Im Vordergrund stand die Idee, uns erst einmal darüber klar zu werden, was wir eigentlich wollten. Noch bevor wir wussten, ob wir einen Verein, einen Klub oder gar eine politische Jugendpartei gründen wollten, schlug Fritz Sitzler als Namen für unsre Gruppierung „Sachsengarde“ vor, was von allen mit Begeisterung angenommen wurde. Dieser Name hatte einen derart guten Klang, dass wir allein dadurch schon für eine Sache motiviert wurden, die noch völlig im Dunkeln lag und noch gar nicht thematisiert war. Trotzdem ordneten wir uns von Anfang an eine große Bedeutung zu, denn es ist eins, einer namenlosen, über die aktuellen Zustände meckernden Clique anzugehören, oder aber einer „Garde“, die per definitionem eine mit klaren Aufgaben betraute Elitetruppe mit militantem Charakter sein sollte. Und da die Mitglieder Sachsen waren, war der grundsätzliche, ethnisch orientierte Aufgabenbereich eigentlich klar:
Dem Sachsentum in Siebenbürgen zu einer Autonomie und somit zum Überleben zu verhelfen, in einer Weise, die noch festzulegen war. Diese vage Vorstellung wurde bald darauf mit einer sehr konkreten Zielsetzung ergänzt:
„Siebenbürgen den Siebenbürger Sachsen!“ Und so begannen wir unsere Aktivitäten mit regelmäßigen Zusammenkünften, die abwechselnd bei den Mitgliedern stattfanden. Dies war nötig, um bei den Nachbarn nicht aufzufallen. Um dennoch einen Grundstein für den offiziellen Charakter unsrer Gruppe zu legen, beschlossen wir, als Symbol und Erkennungszeichen unserer Zugehörigkeit zwei Stecknadeln mit rotem, bzw. blauem Kopf vorne auf dem Revers des Rockes oder auf dem Hemdkragen zu tragen. Das sofortige gegenseitige Erkennen über unsre Landesfarben war nötig, denn die Garde sollte ja erweitert werden, so dass es zuletzt, wie wir hofften, viele auch uns fremde Mitglieder geben würde, die sich nicht untereinander kannten. Einen Gruß schlossen wir aus, denn der könnte auf der Straße von Unbefugten gehört, bzw. gesehen werden und Verdacht erregen.
Und dann schlug Sitzler vor, ein Statut zu schreiben, um dadurch endgültig ein richtiges, legitimes Gepräge zu erlangen. Dies Statut sollten wir vervielfältigen, unterschreiben und es wie ein Parteibuch ständig bei uns tragen. Wer es verliere, sollte als Verräter gelten, da man daraus den subversiven Charakter unsrer jungen Vereinigung erkennen würde, und mit den bekannten Methoden der Securitate sofort alle Mitglieder ermitteln könnte. Auch dieser Gefahr waren wir uns leider nicht bewusst. Es bahnte sich also ein gefährliches Spiel mit einem Feuer an, das noch nicht einmal richtig angefacht war, sich aber rasend schnell zu einen Flächenbrand erweitern konnte, in dem sich auch viele Unbeteiligte die Finger verbrennen würden.
Unsere kleine „Garde“ bestand zu dem Zeitpunkt ihrer Geburt aus zwölf Jungs, alle im Alter von etwa 17 Jahren. Fritz Sitzler war etwas älter als wir und war kein Klassenfreund. Wie wir zu ihm gestoßen waren, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, dass er mit einem unserer Freunde verwandt war, der uns dann von Sitzlers Idee erzählt hatte.
Erst beim zweiten Treffen begannen wir darüber zu sprechen, welche Methoden zur Durchführung unsres Vorhabens überhaupt in Frage kämen. Einer schlug vor, die Garde zunächst als Opposition wirken zu lassen. Wir könnten im Untergrund aktiv werden, z.B. durch kleine Sabotageakte, oder Flugblätter mit aufrüttelnden Texten verteilen. Die Idee mit den Flugblättern wurde gutgeheißen, aber die Sabotageakte wurden einstimmig verworfen; sie könnten sich vielleicht gegen unschuldige Menschen auswirken. Auch wäre ein derartiges Vorgehen unsrer Zielsetzung keinesfalls dienlich.
Eine revolutionäre Lösung kam auch nicht in Frage. Dazu warenir viel zu schwach und besaßen auch keine Waffen. Beide Argumente machten also diese Möglichkeit von Anfang an gegenstandslos. Auch war keiner von uns geschichtlich genügend informiert, um ersehen zu können, ob diese Variante hinsichtlich eines historisch-rechtlichen Anspruchs Rumäniens auf Siebenbürgen überhaupt ratsam wäre. An dieser Ungewissheit scheiterte also auch ein parlamentarisches Vorgehen, da in einem sozialistischen Staat ein Parlament die reinste Farce war!
So kamen unsre Umtriebe nicht über die Schwelle einiger Zusammenkünfte hinaus, und nachdem keinem von uns etwas Kluges, Durchführbares einfiel und wir nur noch im Kreis redeten, wurden diese immer spärlicher. Dazu waren wir bereits alle von pubertären Irritationen geplagt, und somit von gewissen verführerischen Reizen des Lebens mehr angetan, als mit todernsten Gesichtern über Probleme zu debattieren, deren Lösungen schon im Ansatz unsre Möglichkeiten sowie unsre diesbezügliche Qualifikation haushoch überstiegen. So blieb unsre kurzlebige Bewegung auf dem Stand einer naiven, geschichtlich total unfundierten Idee, die uns für kurze Zeit das Gefühl einer Bedeutung gegeben hatte, die wir nicht erringen konnten. Sie war leider nichts weiter als eine spontan empfundene, emotional gesteuerte Renitenz in denkbar unreifen Schalen.
Kurt Binder
schrieb am 04.11.2021, 09:49 Uhr
Tarort: Hermannstadt
Tatzeit: 1946
Tatmotiv: Inspektor Barneby ermittelt noch ...


Das elfte Gebot


Die Gottesfürchtigkeit wurde uns in der Sekunda, der zweiten Gymnasialklasse, von Herrn Pfarrer Maaß* eingebläut. Das geschah manchmal mit einem gewissen handfesten Nachdruck, von uns einfach nur "eine Pletsch" genannt. Diese pädagogisch geprägte Zuwendung ließ keine Zweifel an seinem felsenfesten Entschluss aufkommen, uns stets vor der immer und überall lauernden Sünde zu bewahren, und uns somit keimfrei auf dem Pfad der Tugend wandeln zu lassen.
Die Religionsstunden machten uns richtig Spaß. Eigentlich sollte uns dieses Schulfach, in Hermannstadt auch Gegenstand genannt, im Sinne unsrer Glaubensbildung zu kritischen Überlegungen anregen, und zwar über die Art der Auseinandersetzung des Menschen mit der transzendentalen Frage. In jenem Alter machten wir uns jedoch keine Gedanken darüber, sondern lernten die Geschichten und Legenden aus dem ‚Buch der Bücher' so, wie sie geboten wurden. Anderswie war das auch kaum möglich, da sie uns meist in einem Ton vorgetragen wurden, der kaum Spielraum für eigene Meinungen offen ließ. Auf diese Weise konnte man sich das Wohlwollen von Pfarrer Maaß sichern, und an Stelle einer manchmal schmerzhaften Korrektur der Eigeninterpretation eine gute Note erzielen.
So machten uns auch die Zehn Gebote aus dem Kleinen Katechismus keine Schwierigkeiten. Sie waren relativ leicht auswendig zu erlernen, weil sie uns selbst aus unsrer jugendlichen Erfahrung heraus einleuchteten.
Pfarrer Maaß hatte die Gewohnheit, vor dem Beginn der Stunde die Zehn Gebote abzufragen. Er trat dann dicht vor die Klasse, ließ die Augen über uns gleiten - und dann richtete sich sein Zeigefinger wie ein Dolch zielgenau auf das Opfer, begleitet von der stereotypen Frage:
„Wie lautet das -te Gebot?“ Und es war sehr ratsam, die Antwort nicht länger als 5 Sekunden zu verzögern! So auch heute. In der vergangenen Stunde hatten wir die „Speisung der Fünftausend“ aus dem Johannesevangelium - Kapitel 6, Vers 1 bis 15 durchgenommen und eingehend besprochen. Diese wundersame Begebenheit hatte ich mir gründlich einverleibt - und dabei die 10 Gebote vergessen! Nun, die Gebote an sich waren recht leicht zu erlernen, nur mit der näheren Erläuterung auf die Frage „Was ist das?“ gerieten wir manchmal etwas durcheinander.
Pfarrer Maaß blieb heute während seiner Eröffnungsfragen sitzen. Dafür kreisten seine Blicke umso lebhafter über unsren roten Köpfen - und kurz darauf dröhnte es mir in den Ohren:
„Binder, wie lautet das Zehnte Gebot?“ Erleichtert stand ich auf. Das Zehnte Gebot war uns allen geläufig, weil wir Jungstiere es als äußerst prickelnd empfanden, „des Nächsten Weib“ zu begehren, wiewohl wir noch nicht so ganz begriffen, was hier egentlich so begehrenswert war. Nachdem ich ihm also treuherzig versichert hatte, dass ich weder sein Weib, noch sein Vieh begehre, begann ich kühn, die Rolle Gottes zu diesem meinen Entschluss zu kommentieren. Leider verquirrlte ich sowohl die Gebote, als auch das Sollen und Nichtsollen derart miteinander, dass Pfarrer Maaß schon beim ersten Ausrutscher in die Höhe schnellte.
„Was ist das?", schnatterte ich weiter. „Gott soll uns fürchten und lieben, auf dass er ... in Worten ... aber auch in Werken keusch ... und in der Ehe züchtig ...“
Das war eindeutig zuviel! Pfarrer Maaß neigte den Kopf vor, seine Miene verfinsterte sich, und dann kam er drohend auf mich zu - sicher nicht in der Absicht, mich zu umarmen. Doch als er mein schreckensbleiches Gesicht sah, zögerte er einen Augenblick, und anstatt mir eine zu schmieren, rüttelte er mich nur kurz und rief: „Merk dir eins, Binder - ab heute lautet dein elftes Gebot: Ich muss die Zehn Gebote fehlerfrei auswendig können, verstanden?"
An dies Gebot habe ich mich gewissenhaft gehalten - schon meiner körperlichen Integrität zuliebe!

*) Namen geändert




Kurt Binder
schrieb am 13.11.2021, 10:36 Uhr
Idylle im Frühling
Erinnerung an meine Klassenlehrerin Frau Käthe Conrad von Heydendorff

Ich kann nicht behaupten, dass der Deutsch-Unterricht unser aller Lieblingsfach gewesen sei, denn die Interessen der Schulfreunde waren vielfältig. Doch seitdem Frau Professorin von Heydendorff die Aufgabe hatte, uns am Knabengymnasium in Hermannstadt mit der Schönheit der deutschen Sprache und der Literatur vertraut zu machen, wurde unsere geballte Aufmerksamkeit auf einmal in dieselbe Richtung orientiert. Zugegeben, es war wohl weniger die Konjugation der Hilfszeitwörter, oder die Beugung eines substantivierten Adjektivs, welche diesen Interessenkonsens ausgelöst hatten.
Frau von Heydendorff hatte uns von der ersten Stunde an mit ihrem selbstsicheren, forschen Auftreten beeindruckt. Wir waren restlos in ihren Bann geschlagen, zumal sie die Gabe hatte, uns die Werke der deutschen Dichter mit Charme und Mutterwitz nahezubringen. Der Ehrlichkeit halber muss ich heute erwähnen, dass die sympathische, damals etwa 30 Jahre junge Professorin nicht nur wegen ihrem Wissen und ihren ausgeprägten pädagogischen Qualitäten von uns bereits 14-jährigen Tertianern heimlich verehrt wurde.
An einem schönen Wochenende im Frühjahr 1947 unternahm sie mit uns einen Ausflug auf den Götzenberg (Măgura) südlich von Michelsberg. Dieser 1310 Meter hohe, lang gestreckte Bergrücken war ein beliebtes Ausflugsziel für die Hermannstädter - sozusagen ihr Hausberg. Bei dieser Gelegenheit lernten wir unsere Professorin von einer ganz neuen Seite kennen.
Wir stiegen also über den dicht bewaldeten Mehlseifen hinauf. Dann ging es weiter bis auf den Götzenberg, auf dessen südlichen Seite sich das Zoodtal erstreckt.
Obwohl es erst Frühling war, brannte die Sonne ganz schön auf unseren Köpfen. Nachdem wir oben angekommen waren, und unsere Jausenbrote gegessen hatten, lümmelten wir uns ins Gras, um auszuruhen. Auch Frau von Heydendorff legte sich ins Grüne und schaute in den blauen Himmel. Nach einer Weile schloss sie die Augen, und wir hatten den Eindruck, dass sie in einen leichten Schlummer gefallen war.
Es war für uns ein ungewohntes, aber recht angenehmes Gefühl, mit einer Professorin außerhalb der strengen schulischen Umgebung, wenn auch nur vorübergehend auf einer herrlich gelockerten privaten Ebene zu weilen. Und das ermutigte uns spontan zu einer kollektiven Sympathiebekundung.
Um uns herum blühten bereits tausende Narzissen Wir erhoben uns leise, schlichen davon, und jeder pflückte eine Handvoll dieser zart duftenden weißen und gelben Frühlingsboten. Dann näherten wir uns vorsichtig unserer Klassenlehrerin - und deckten sie im wahrsten Sinne des Wortes mit den Blumen zu. Sie öffnete langsam die Augen, drohte uns mit scherzhaft erhobenem Zeigefinger, schüttelte lächelnd den Kopf und sagte dann mit leiser Stimme:
„Danke, Jungs - das war wirklich schön von euch!“ Dabei huschte über ihre Wangen ein zarter Rotschimmer, der nicht nur von der heißen Mittagssonne herrührte.
Nun, hinunter war der Weg das reinste Vergnügen, und jede Müdigkeit war wie weggeblasen. Obwohl wir den längeren Abstieg durch den Rosengarten gewählt hatten, tänzelten wir förmlich über die Hänge hinab, beschwingt von diesem einmaligen, für uns kaum fassbaren Erlebnis.

Frau Käthe Conrad von Heydendorff ist am 9. September dieses Jahres im Alter von fast 105 Jahren verstorben.
Kurt Binder
schrieb am 21.11.2021, 12:05 Uhr
Gech uch Kampest
das Nektar und Ambrosia der Siebenbürger

Erinnerungen an zwei kulinarische Idole, die besser geschmeckt als gestunken haben!

„Aha – ai pritocit varză!”
Mit dieser lapidaren Feststellung begrüßte mich eines Tages unsere Mieterin, als sie von ihrem Weihmachtseinkauf zurückkam und ins Haus trat. Es war eine ältere Frau aus Constanţa, die seit einem Jahr bei uns im Untergeschoss wohnte. Die Wohnung grenzte dicht an den Heizraum, aus welchem der Ursprung dieser verräterischen Düfte strömte - ein großes weißes Fass!
Nun, was ein echter Sox ist, hat längst getscheckt, was in einem großes weißes Fass, aus dem betörende, die Sinne verwirrende Düfte strömen, und das in einem Heizraum, Keller oder Schopfen (niemals im Schladzimmer!) steht, wohl drin sein mag. Richtig, und ich könnte mir im Weiteren eine aufklärende Beschreibung sparen. Doch möchte auch auch den letzten Zweifler vor dem Irrtumn bewahren, anzunehmen, dass in diesem großen weißen Fass Grießkoch in Vogelmilch sein könnte!
Da liegen also in einer Salzlake - 10 Gramm Meersalz pro 1 Liter Wasser - seit einigen Tagen jungfräuliche Krautköpfe, umgeben von Dill, Eisenkraut und Krenstücken (gegen den Kam), und bemühen sich, bis Weihnachten zu vollwertigem Sauerkraut zu reifen. Dabei träumen sie von ihrer künftigen Bestimmeung, in Form von Sarmale und Geschnetzeltem unsre Gaumen orgastisch zu laben und unsere Mägen zu füllen - zusammen mit Palukes und Rahm!
Um diesem Prozess der Säuerung einen homogenen Verlauf zu gewährleisten, muss die Lake täglich umgewälzt werden. Das bedeutet, wie Fans es bestätigen können, dass durch einen unten am Fass angebrachten Zapfhahn die Lake in einen Eimer gezapft, und oben wieder ins Fass gegossen wird. Manche Leute sind zu diesem Muskeltraining nicht bereit, und blasen einfach durch ein Rohr in die Lake hinein. Da ich jedoch überzeugt war, dass durch die Beifügung körpereigener Säfte die Qualität des angestrebten Sauerkrautes nicht verbessert wird, besonders wenn der Bläser Raucher ist, habe ich davon abgesehen - zur hellen Freude meiner ebenfall umwälzenden Gäste!
Ist dann nach 4 bis 6 Wochen die Metamorphose vollzogen, dürfen sich die Krauköpfe "Kampest", und die Salzlake "Gech" nennen, was in der siebenbürgischen Gastronomie einem Adekstitel gleichkommt!

Ich wünsche euch guten Appetit - umgewälzt oder geblasen ;-)) !

Kurt Binder
schrieb am 21.11.2021, 12:32 Uhr
Übrigens wird die Gech nicht zu Sarmale mit Palukes getrunken, sondern nach dem Essen als Magenbügler schluckweise genossen - eine altbewährte Maßnahme, um den mit Sicherheit überforderten Magen zu besänftigen!
Tarimona
schrieb am 04.12.2021, 20:15 Uhr
Hui Kurt, was gab es da nicht alles interessantes von dir zu lesen. Lustiges, nachdenkliches, philosophisches.. ja die ganze Palette wurde abgedeckt. Danke dir.

Hab hier ein kleines Gedichtlein, das einfach das Leben wiederspiegelt.

Ein Herz aus Glas

Mein Herz aus Glas
wie leicht brach das
in tausend Teile
vor langer Weile
es dauerte lange
und mir ward bange
doch Stück für Stück
kehrte es zurück
malte es erst an
setzte es zusammen dann
fehlerhaft und nicht perfekt
doch kunterbunt und neu erweckt!

Kurt Binder
schrieb am 08.12.2021, 16:22 Uhr
Danke für die Blumen, liebe Tarimona – Mann bemüht sich, wenn auch recht einsam auf den weiten Fluren unsres Forums.
Das Broken-Heart-Syndrom sollte hier sicher nicht im medizinischen Sinn verstanden werden. Ich sehe es hier als ein Symbol unsrer Zerbrchlichkeit schlechthin – und das nicht nur unter der Last der Langeweile ;-)) !
Rührend Dein Bekenntnis zu Deinem Unvemögen, es perfekt wieder zusammenzuflicken. Was solls; es ist trotzdem kunterbunt, eben - ein herziges Herz :-)) !
Meine Verse haben irgendwie auch etwas mit dem Herzen zu tun:


Ein Lied für Dich


Ich sing Dir ein Lied – nicht von Liebe:

Ich schätze Deine spontane Art,
die Dinge und Probleme unseres Lebens
treffend einzuschätzen und zu lösen,
die wahren Werte anzustreben.

Ich bewundere Deine Entschlossenheit
in Deinem Handeln, Tun umd Lassen,
Deinen Willen, Gutes zu pflegen
und Bösem entgegezutreten.

Ich folge gerne Deinen Ratschlägen
in allen Lebenslagen,
von weiblichem Feingefühl
herzlich und gemütvoll geprägt.

Dein Lachen ist mein Lebenselixir,
und ich lache mit Dir,
von Deiner fröhlichen Seele angesteckt.

Wenn Du weinst, muss auch ich weinen,
denn ich empfinde Deine Trauer,
Deine Schmerzen, als wäre ich Du.

Ich mag Dich einfach, so wie Du bist;
kann das vielleicht - Liebe sein?

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