Ist Ungarn noch demokratisch?

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orbo
schrieb am 14.03.2013, 13:20 Uhr (am 14.03.2013, 13:31 Uhr geändert).
Aber, aber, das sind doch alles nur Potemkinsche Dörfer! Es gibt in Ungarn nirgendwo mehr ernstzunehmende „nationale Minderheiten“, wage ich zu behaupten.

Diverse Verbote in der kommunistischen Zeit haben auch in Ungarn viel Schaden bei der deutschen Bevölkerung verursacht. Die Schäden können natürlich nicht durch plötzliche Verwaltungsmaßnahmen behoben werden. Habe ich auch nicht behauptet. Allerdings steht Ungarn zu seiner Verpflichtung ethnischen Minderheiten gegenüber. Auch steht Ungarn zu den Verbrechen der Vertreibung und gedenkt deren. Das schätze ich. Habe kein Problem, wenn andere diesen Verdienst nicht erkennen.

Die aktuelle Situation der deutschen Minderheit in Ungarn kann ich selber nur aus meinen Erfahrungen 1991 bis ca. 2005 einschätzen. Damalige Gespräche mit Vertretern der ungarndeutschen Presse, Vertretern der sog. dt. Freundschaftskreise, Besuche von Heimatmuseen und vereinzelt Theateraufführungen veranlassen mich zur Annahme, dass die Angebote zur Selbstverwaltung angenommen worden sind/werden.

Ein ähnliches Gespräch habe ich Ende der 90er in Giuläu/Gyula mit dem Herausgeber der einzigen rumänischsprachigen Zeitschrift geführt. Die 2xmtl. erscheinende Schrift hätte ohne Zuschüsse nicht bestehen können, einzelne Veranstaltungen nicht durchgeführt.

In Ödenburg und Steinamanger habe ich solche Gespräche nicht führen können, war aber auch nur kurz dort.

Land und Leute sind besser als die jetzige Regierung vermuten lässt.

Und übrigens: Potemkin hat sich entgegen der weitverbreiteten Meinung auf der Wolgareise getäuscht, wie bei Al. v. Humboldt nachzulesen ist. Da sieht man, dass eine weitverbreitete Meinung nicht unbedingt die zutreffende sein muss....
zockerbaby2
schrieb am 14.03.2013, 13:37 Uhr
Ein paar sachliche Hinweise zu den Fragen:


Wieso ist eine 2/3 Mehrheit in Ungarn demokratiegefährlich, in Bayern, oder Rumänien, oder wo immer, nicht? Dazu sind doch die 2/3-Regelungen da, damit Demokratie gewährleistet wird.


und


Wo steht über das deutsche Verfassungsgericht die Kompetenz über Erlass/Änderung von Grundgesetz?


In Deutschland ist wie angesprochen eine 2/3 Mehrheit erforderlich, um die Verfassung zu ändern. Jedoch wäre ein Gesetz, bei dem nicht eine Mindestanzahl von Abgeordneten bei der Abstimmung vorhanden ist, nichtig [http://de.wikipedia.org/wiki/Qualifizierte_Zweidrittelmehrheit].

Selbst bei Einhalten der Mindestanzahl von Abgeordneten bei der Abstimmung, kann das BVerfG die geänderte Verfassung überprüfen. Und zwar dahingehend, ob das Verfassungsänderungsgesetz nicht selbst der Verfassung widerspricht, Stichwort "verfassungswidriges Verfassungsrecht" http://de.wikipedia.org/wiki/Verfassungswidriges_Verfassungsrecht.

Ganz explizit dazu die Ausführungen des BVerfG zum grossen Lauschangriff: "Die gegen die Änderung des Art. 13 GG erhobenen Einwendungen sind [...] als Anregung zur inzidenten Nachprüfung der Zulässigkeit der Verfassungsänderung, soweit sie für die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Vorschriften von Bedeutung ist (vgl. BVerfGE 30, 1 <17>). Diese Nachprüfung gehört zu der in diesem Verfahren dem Bundesverfassungsgericht gestellten Aufgabe."

In Deutschland ist es der Bundespräsident, der ein ausschliesslich formelles Prüfungsrecht und (grds) kein materielles Prüfungsrecht hat. Daher wird gesagt, dass der Bundespräsident daher hauptsächlich "repräsentative" Aufgaben habe. [http://de.wikipedia.org/wiki/Bundespr%C3%A4sident_(Deutschland)#Unterzeichnung_und_Pr.C3.BCfung_von_Gesetzen]
Magyar Emberek
schrieb am 14.03.2013, 13:44 Uhr (am 14.03.2013, 13:45 Uhr geändert).
@orbo

Der Begriffsinhalt des „Potemkinschen Dorfs“ dürfte durch Sprachkonvention klar vorgegeben sein ...

Julau (Gyula) ist ein hübsches Beispiel dafür, dass es wo in Ungarn in einem Ort ganz konkret keine deutschsprachigen Kinder mehr gibt ...

So nebenbei: Als „Reservewerbes“ = der rumänischen Sprache und Kultur Kundiger haben Sie sich gewiss in Julau - dem aktuellen Verwaltungssitz in der Gespanschaft Bekesch - mit der Situation am zweisprachig madjarisch-rumänischen Gymnasium „Nicolae Bălcescu“ befasst und auch die Situation der Zweisprachigen mit Madjarisch/Rumänisch beobachtet ...

Wenn Sie mir im Großraum Ofenpest bodenständige Jugendliche namhaft machen könnten, die zur Unterhaltung untereinander noch irgendeine Version von Deutsch gebrauchen, wäre ich Ihnen überaus verbunden. Vergebens versuche ich seit Jahren für ein Gastkind aus Ungarn solche Kinder, bzw. jetzt bereits Jugendliche, zu finden um dessen Deutschniveau zu verbessern, bzw. überhaupt zu erhalten ...

Vielen herzlichen Dank im Voraus!
getkiss
schrieb am 14.03.2013, 14:47 Uhr
Noch. Wart mal das Inkrafttreten der jeweiligen Gesetze ab...

Alte Leier. Gut gebräuchlich zum diskreditieren des (rechten) Politik-gegners. Das höre ich schon seit 2011, als noch über den Verfassungsentwurf diskutiert wurde. Und es wird noch immer frei diskutiert.

Ansonsten haben wir halt verschiedene Sicht der Dinge
orbo
schrieb am 14.03.2013, 14:55 Uhr (am 14.03.2013, 14:55 Uhr geändert).
scho recht...
orbo
schrieb am 14.03.2013, 14:57 Uhr
Julau (Gyula) ist ein hübsches Beispiel dafür, dass es wo in Ungarn in einem Ort ganz konkret keine deutschsprachigen Kinder mehr gibt ...

Stimmt. Ganz konkret aber rumänischsprachige Kinder, die von den Regelungen für Minderheiten in Ungarn auch betroffen sind.
getkiss
schrieb am 14.03.2013, 15:03 Uhr (am 14.03.2013, 15:04 Uhr geändert).
Danke, @zocker....
Sehr interessante Gegenüberstellung. Oberflächlicherweise habe ich ein Zitat betr. die ehemalige Hegemonialmacht Österreich rausgefischt:
In Österreich ist das Verfassungsrecht im Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) kodifiziert und darüber hinaus in sonstigen sogenannten Bundesverfassungsgesetzen. Die Gerichtsbarkeit des Verfassungsgerichtshofs erstreckt sich nicht nur auf einfaches Bundesrecht, sondern auch auf Bundesverfassungsrecht. Da allerdings ein neues Bundesverfassungsgesetz die Verfassung inhaltlich ändert und somit selbst Teil derselben wird (lex posterior derogat legi priori bzw. lex specialis derogat legi generali), kann es inhaltlich nicht verfassungswidrig sein. Häufige Praxis ist daher, dass für verfassungswidrig erklärte einfachgesetzliche Regelungen danach vom Parlament als Bundesverfassungsgesetze verabschiedet werden, um sie durch das qualifizierte parlamentarische Votum der Inhaltskontrolle zu entziehen

Aha.
Aber wenn´s die Ungarn kopieren, dann ist es gegen EU-Recht
Thja, gegen Plagiat ist kein Kraut gewachsen....
Vielen Dank für die Argumentationshilfe!
Magyar Emberek
schrieb am 14.03.2013, 15:44 Uhr (am 14.03.2013, 15:46 Uhr geändert).
Wenig sinnvoll sich all zu sehr um „Verfassungen“ zu scheren ...

„Verfasst“ wurde immer und zu allen Zeiten was es im jeweiligen Interesse der jeweiligen Machthaber zu „verfassen“ gab. Die Machthaber wechselten gelegentlich schneller als die Verfassungen!

Um beim Beispiel Österreich zu bleiben: Streckenweise ist die österreichische Verfassung totes Recht. Es gibt z.B. keine real existierende selbstverwaltete 4. Gebietskörperschaft neben Gemeinden, Ländern und Bund. Die Bezirke erlangten in der österreichischen Ausführungsgesetzgebung niemals „Rechtsrealität“ im Sinn einer „Selbstverwaltung“ wie sie Bund, Länder oder Gemeinden haben. Real sind die Bezirke bloße Untergliederungen der Länder ohne jegliche eigene Befugnis. Der Bezirkshauptmann ist ein weisungsgebundener Beamter und kein politischer Funktionär. Solchen „rechtlichen Schrott“ dürfte es in vielen Verfassungen geben ...

Länder wie die Bundesrepublik Deutschland „schafften“ es überhaupt nicht zu einer eigenen „Verfassung“ zu gelangen. Der von den Westalliierten besetzte Teil des durch Kriegsereignisse untergegangen Deutschen Reiches bekam von der amerikanischen Besatzungsmacht ein „Grundgesetz“ als Verwaltungsvorgabe verpasst. Tja, das war es auch bereits ... Da diese Besatzungsmacht unverändert mit ihren Truppen in diesem Restteil des untergegangenen Deutschen Reichs steht, vermag sie auch unverändert „weiter zu verpassen“ ...

Usw.

Zur österreichischen „Realität“ noch so viel: Hans Kelsen, dem die Hauptverantwortlichkeit für die geltende österreichische Bundesverfassung zugerechnet wird, hat sich Mitte der 30er Jahre von seiner deutschen und österreichischen Staatsbürgerschaft „verabschiedet“ und ist zu einem „Tschechoslowaken“ mutiert. Anscheinend war es ihm doch in Europa zu brenzlich oder auch zu fad geworden und er hat sich daher nach Nordamerika abgesetzt, wo er auch in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts verstorben ist. So bunt wie sein Leben scheint auch die von ihm maßgeblich beeinflusste österreichische Bundesverfassung zu sein, die den Österreichern noch immer wie ein Mühlstein um den Hals eines Schwimmers hängt ...

Zur Frage der Abänderung einer Verfassung durch mit qualifizierter Mehrheit beschlossenen ihrer Rechtsnatur nach jedoch „einfachen“ Gesetzen gibt es die durchaus Sinn machende Meinung, dass ab einem gewissen „Durchlöcherungsgrad“ einer Verfassung durch „einfache“ Gesetze die Verfassung als solche in Zweifel zu stellen ist. Grundsätzlich ist all das Ausfluss eines „zügellosen Rechtspositivsmus´“, der natürlich als solcher durchaus „zu Recht“ in Zweifel gezogen werden kann ...

Nur, was bringt´s?
zockerbaby2
schrieb am 14.03.2013, 15:54 Uhr
@getkiss:

Gerne geschehen. Es lohnt sich auch noch weiterzulesen:
"Bundesverfassungsgesetze können aber formal verfassungswidrig sein, wenn sie verfassungswidrig zustande kamen, wenn also die in der Verfassung festgelegten Erzeugungsregeln (teilweise) nicht eingehalten wurden. Der überwiegende Großteil dieser Erzeugungsregeln ist eindeutig und bereitet daher kaum Probleme (siehe Gesetzgebungsverfahren (Österreich) für einen Überblick). Immer wieder kommt es aber zu Diskussionen, ob ein konkretes Bundesverfassungsgesetz eine Gesamtänderung der Bundesverfassung darstellt, da in diesem Fall eine Volksabstimmung zwingend nötig wäre, die aber meistens unterbleibt.

Der Verfassungsgerichtshof hat aus diesem Anlass bereits eine Verfassungsbestimmung (§ 126aVorlage:§/Wartung/RIS-Suche Bundesvergabegesetz) als verfassungswidrig aufgehoben, da diese Norm einen schweren Eingriff ins rechtsstaatliche Prinzip darstellte, ohne durch eine Volksabstimmung legitimiert zu sein."

In Österreich braucht man also sogar eine Volksabstimmung, um die Verfassung zu ändern. Und falls keine stattfindet, ist das Gesetz verfassungswidrig.
Magyar Emberek
schrieb am 14.03.2013, 16:06 Uhr (am 14.03.2013, 16:25 Uhr geändert).
@orbo

Stimmt. Ganz konkret aber rumänischsprachige Kinder, die von den Regelungen für Minderheiten in Ungarn auch betroffen sind.


Danke für diese Ausführungen!

Können Sie uns ein wenig mehr über die Situation der rumänischen Minderheit in Ungarn informieren?

Es gibt z-B. im Internetz

http://crisia.mtariicrisurilor.ro/pdf/2010/GMoisa.pdf

HISTORIOGRAPHY OF ROMANIANS FROM HUNGARY
CONCERNING THE PAST OF COMUNITY (1920-2010)

oder die Seite

http://romaniinungaria.blogspot.co.at/

Auf dieser Seite scheint es auch eine ins Rumänische übersetze Version der ungarischen Verfassung zu geben. Zumindest einen Verweis darauf, der anscheinend nur zu öffnen geht, wenn man sich registriert. Vielleicht ist diese Seite interessant für die Leute hier, die nur Rumänisch und nicht Ungarisch können?

Teilweise sind mir Leute der „rumänischen Szene“ in Ungarn zumindest namentlich bekannt.

Wie allerdings die soziale Realität aussieht ist mir so gut wie unbekannt. Zwar war ich einiger Male in Julau, aber mehr war´s eben nicht ...


Haben Sie selber mit autochthonen rumänischsprachigen Kindern in Julau gesprochen und deren sprachliche und sonstige „rumänische Kompetenz“ beobachten können?

http://www.youtube.com/watch?v=KwUkP__4a_A berichtet über das erste Kinderjugendlager für rumänische Kinder in Ungarn aus dem Jahre 2012. Vor ein paar Jahren suchte ich so eine Aktivität in Ungarn für meinen eigenen Nachwuchs ...

Hoffentlich geraten die Dinge wirklich in Fluss und es bieten sich damit neue Wege an Kindern kulturelle Vielfalt nahe zu bringen in Mitteleuropa.
orbo
schrieb am 14.03.2013, 16:23 Uhr
Haben Sie selber mit autochthonen rumänischsprachigen Kindern in Julau gesprochen und deren sprachliche und sonstige „rumänische Kompetenz“ beobachten können?

Nicht mit Kindern, aber mit jungen Erwachsenen Ende der 90er. Wir kommen aber hier vom 100sten ins 1000ste....
Magyar Emberek
schrieb am 14.03.2013, 16:29 Uhr
@orbo

Nicht mit Kindern, aber mit jungen Erwachsenen Ende der 90er. Wir kommen aber hier vom 100sten ins 1000ste....

Ja und nein ...

Es macht meiner Meinung nach wenig bis gar keinen Sinn an solche "europäischen Themen" ethnozentrisch heranzugehen.

All das betrifft uns alle!

Die "Ausschließlichkeit" der von den Medien der Dominanz aufgezwungenen Pseudoinformationen zu akzeptieren bedeutet die eigene Inferiorität zu akzeptieren ...
getkiss
schrieb am 14.03.2013, 16:33 Uhr
einem gewissen „Durchlöcherungsgrad“ einer Verfassung

danke.
Der Satz war gut.
Was bleibt danach?
...schweizer Kas....
orbo
schrieb am 14.03.2013, 16:36 Uhr
Es macht meiner Meinung nach wenig bis gar keinen Sinn an solche "europäischen Themen" ethnozentrisch heranzugehen.

Eben. Deshalb habe ich ein Beispiel aus Juläu zusätzlich zu den Donauschwaben eingebracht.

Der vorgenannten Mediendominanz kann man durch eigenes Reisen begegnen.
Die gefährlichste aller Weltanschauungen
ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben. (Alexander von Humboldt)
zockerbaby2
schrieb am 14.03.2013, 16:40 Uhr

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