2. Juni 2004

Birgit Fischer: Patenland fühlt sich weiter in der Pflicht

Durch ihr kulturelles und soziales Engagement leisten die Siebenbürger Sachsen einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der Bürgergesellschaft und darüber hinaus für den europäischen Einigungsprozess. Dies erklärte Birgit Fischer, Ministerin für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie von Nordrhein-Westfalen, am Pfingstsonntag auf der Kundgebung des Heimattags. Die Festrede wird im Folgenden im Wortlaut veröffentlicht.
Ich freue mich, dass wir heute am Pfingstsonntag gemeinsam den Heimattag 2004 feiern können. Ich freue mich darüber, einige Worte als Gruß aus dem Land Nordrhein-Westfalen überbringen zu können. Zunächst möchte ich mich recht herzlich bedanken für diesen wunderschönen Festumzug. 57 einzelne Gruppen haben die Vielfalt der Siebenbürger Sachsen sehr deutlich gemacht, aber eben auch die Gemeinschaft der Siebenbürger Sachsen. Es war ein wunderschönes Bild. Recht herzlichen Dank.



Ministerin Birgit Fischer bei ihrer Rede auf der Kundgebung in Dinkelsbühl. Foto: Günther Melzer
Ministerin Birgit Fischer bei ihrer Rede auf der Kundgebung in Dinkelsbühl. Foto: Günther Melzer
Als so genannte „Patentante“ der Siebenbürger Sachsen möchte ich Ihnen auch die Grüße des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Peer Steinbrück überbringen. Die Patenschaft bedeutet eine Verbundenheit mit den Siebenbürger Sachsen und zugleich eine Verpflichtung, die Siebenbürger Sachsen in ihren Anliegen, in ihrer Arbeit zu unterstützen und zu begleiten. Das galt nicht nur vor 47 Jahren, sondern das ist auch heute noch nach wie vor der Fall. Vor wenigen Wochen war ich auf der Drabenderhöhe mit dem Bundespräsidenten Johannes Rau und habe dort das Engagement der Siebenbürger Sachsen sehr eindrücklich kennen gelernt. Nämlich ein Engagement für ihre rumänische Heimat, aber auch ihr Engagement in Kulturfragen und sozialen Fragen und vor allem auch ein Engagement für die Gemeinschaft der Siebenbürger Sachsen, also für ihre neue Heimat und ihre alte Heimat. „Heimat suchen - Heimat finden“ ist das Motto des diesjährigen Heimattages. Es zeigt die Verbundenheit mit der Tradition, aber gleichermaßen auch mit der Zukunft.

Ich schätze an den Siebenbürger Sachsen, dass sie trotz einer schwierigen Vergangenheit nicht rückwärtsgewandt sind, aber traditionsbewusst. Sie schaffen es, das Bewusstsein dafür wachzuhalten und zu verankern, und dadurch fest verwurzelt zu sein. Denn nur eine enge Verbundenheit auch mit der alten Heimat gibt die Identität, gibt die Sicherheit und das Selbstvertrauen, um daraus die Kraft zu entwickeln, auch neue Herausforderungen zu meistern.

Der Heimattag findet in einer Zeit statt, die dokumentiert, dass sehr viel in Bewegung ist, wovon wir vor Jahren noch geträumt haben. Ich meine das zusammenwachsende Europa, das am 1. Mai mit zehn neuen Beitrittsländern einen deutlichen Beweis dafür hergibt. Die Hoffnung, dass das vereinte Europa zusammenwächst, wird allmählich Realität. Dies ist die einzige Möglichkeit, damit die Wunden der Vergangenheit heilen. Ihre Landsmannschaft hat sich immer für Versöhnung und für Verständigung eingesetzt. Träume erfüllen sich nicht von selbst, sondern Träume brauchen engagierte Menschen, brauchen Beharrlichkeit, brauchen Überzeugung und brauchen Hoffnung. Sie geben die Kraft, die man aufbringen muss für einen durchaus steinigen Weg, den es zu gehen galt und den es nach wie vor zu gehen gilt. Wir können nichts von dem Unrecht ungeschehen machen, das durch Unterdrückung, Vertreibung und durch selbstzerstörerische Kriege geschehen ist. Aber der Traum ist zum Greifen nahe, dass dieser Kontinent zu einem Raum des Friedens, der Stabilität und der Menschenrechte wird.

Die Schuld an der Vergangenheit belastet die Zukunft mit einer schweren Hypothek. Wir haben jetzt die einmalige Chance, das Zusammenleben der Völker Europas endlich so zu gestalten, dass wir alle angstfrei zusammen leben können. Im sich vereinigenden Europa ist nirgendwo Platz für Vertreibung, Unterdrückung, Enteignung oder Diskriminierung als Mittel der politischen Macht überhaupt denkbar. Wir haben den Teufelskreis durchbrochen. Auf Gewalt folgt nicht immer wieder Gewalt.

Das vereinigte Europa gibt niemandem seine verlorene Heimat zurück, es schafft aber etwas anderes. Das Verlorene wird erlebbar und das Verlorene wird begreifbar. Die Vertriebenenverbände und Landsmannschaften haben eine wichtige Funktion zu erfüllen in der Vergangenheit, in der Gegenwart, aber vor allem auch in der Zukunft. Denn sie haben die Möglichkeit, für Solidarität unter den Völkern Europas einen wesentlichen Beitrag zu leisten, das heißt die Brückenbauer für diese gemeinsame Zukunft zu sein. Brücken bauen bedeutet, viel dazu beizutragen, damit Rumäniens Weg zu einem vereinigten Europa – mit den guten Voraussetzungen Rumäniens – auch tatsächlich gelingt. Es ist ein schwerer Weg zu gehen, um die wirtschaftlichen und sozialen Reformen zu schaffen, die die Beitrittsbedingungen erfordern. Aber ich bin davon überzeugt, es wird gelingen. Das Land braucht Solidarität von außen. Darum möchte ich die Siebenbürger Sachsen ausdrücklich ermuntern, ihr wirtschaftliches, kulturelles und soziales Engagement weiter fortzusetzen. Das bürgerschaftliche Engagement der Siebenbürger Sachsen ist unersetzlich für die eigene Gemeinschaft sowohl in der neuen als auch in der alten Heimat.

Das bürgerschaftliche Engagement ist für unsere Gesellschaft unersetzlich. Es ist die Grundlage für eine lebendige Demokratie. Wir leben in Europa, wir leben hier in Deutschland in einer sich entwickelnden Bürgergesellschaft. Sie ist die Fortsetzung und Weiterentwicklung einer Demokratie. Sie lebt von der Bereitschaft des Einzelnen, Verantwortung zu übernehmen, für sich, für eine Gemeinschaft und für ein Gemeinwesen. Bürgergesellschaft bedeutet, dass jeder Einzelne in einem Land lebt, in dem er frei leben kann und in dem es Chancengerechtigkeit gibt. Bürgergesellschaft bedeutet aber auch Selbstbestimmung und Teilhabe an den gesellschaftlichen Entwicklungen, an den gesellschaftlichen Möglichkeiten. Es bedeutet drittens auch eine Verpflichtung zur Verantwortungsbereitschaft, zum bürgerschaftlichen Engagement. Denn nur so wird es möglich sein, Freiheit, Chancengleichheit und Solidarität gleichermaßen in einer Gesellschaft zu leben. Der Zusammenhalt in einer Gesellschaft ist abhängig von diesem bürgerschaftlichen Engagement.

Wir wollen dieses bürgerschaftliche Engagement einsetzen, um die Chancen in unserer Gesellschaft zu nutzen und um gleichzeitig aber auch Risiken abzuwehren. Jede Neuerung birgt immer auch Risiken. Wir wollen aber nicht, dass es zu neuen sozialen Spaltungen kommt. Wir wollen, dass die Länder zusammenrücken. Das bedeutet zugleich, dass wir die Grundlagen für eine Vielfalt schaffen müssen. Diese Vielfalt darf nicht zu neuen Ressentiments führen. Das gelingt nur, wenn wir alle bereit sind, uns zu engagieren und daran mitzuwirken, damit ein vereinigtes Europa auch all die Leiden der Vergangenheit wettmacht und unseren Kindern eine Zukunft in Freiheit bietet.

Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Hermann Hesse, der gesagt hat: „Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden.“ In diesem Sinne wünsche ich dem Heimattag der Siebenbürger Sachsen alles Gute, viele schöne Stunden, eine gute Zukunft und schließe mit einem herzlichen „Glück auf!“.

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