27. Juli 2001

Impulse für eine bessere Aussiedlerpolitik

Experten haben bei einer Tagung zum Thema "Deutsche Spätaussiedler – Zuwanderer oder mehr?" vom 20. bis 22. Juli in München wichtige Impulse für eine bessere Aussiedlerpolitik und Lösungsansätze zur gesellschaftlichen Integration von Neuankömmlingen geliefert. Rund jeder vierte Deutsche ist ein Vertriebener, Aussiedler oder stammt von diesen ab. Dennoch werden die Interessen von Aussiedler in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, auch vom Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, Jochen Welt, einem profillosen SPD-Politiker nicht, dessen Vorhaben wie "Netzwerke der Integration" oder Partnerschaften mit osteuropäischen Kommunen in der Projektphase stecken geblieben sind.
"Die Bayerische Staatsregierung hält aus historischer Verantwortung und humanitärer Verpflichtung an der weiteren Aufnahme von Aussiedler fest", stellte Sozialstaatsekretär Georg Schmid in einer Rede am 20. Juli fest. Spätaussiedler seien ein Gewinn für die sozialen Sicherungssysteme, da rund 44 Prozent der aufgenommenen Aussiedler jünger als 25 Jahre seien. Bayern biete dank seines Arbeits- und Lehrstellenmarktes gute Ausgangsbedingungen für die Integration der Spätaussiedler. Schmid sprach sich für realistische, rational nachvollziehbare Kriterien bei der Überprüfung von Sprachkenntnissen aus.
Das tragische Schicksal der Deutschen aus Russland und Südosteuropa müsse besser bekannt gemacht werden – das sei ein Auftrag für Politik, Bildung und Medien, betonte Bernd Posselt, Mitglied des Europäischen Parlaments (EP). Die "Union der Vertriebenen" wolle den Entwicklungen der letzten Jahre Rechnung tragen und sich demnächst in "Union der Vertriebenen und Aussiedler" umbenennen. Posselt, der Vizepräsident des Innenausschusses des Europäischen Parlaments ist, kritisiert die doppelten Standards, die von den deutschen Sozialdemokraten ausgingen. Während SPD-Abgeordnete im Europäischen Parlament vehement darauf drängen, den Familienbegriff und damit die Nachzugsberechtigung in der EU zu erweitern, grenzen SPD-Politiker im Inland den Familienbegriff mit Bezug auf Aussiedler zunehmend ein.
Der Zuzug von Aussiedlern wird vom Bundesverwaltungsamt in Köln so gesteuert, dass am Jahresende die gesetzlich vorgeschriebene Zahl von bis zu 100 000 Neuzugängen herauskommt. Christoph Hübenthal berichtete aus der Arbeit der Behörde in Köln, die derzeit einen Stau von 380 000 zu bearbeitenden Fällen hat. Bescheide erhalten die Antragsteller in etwa drei bis fünf Jahren, erst nachdem sie in den Herkunftsländern von Mitarbeiter des BVA einem Sprachtest unterzogen werden. Es reicht nicht aus, wenn die Antragsteller rein fremdsprachliche Kenntnisse vorweisen, sie müssen auch in der Familie erworbene Kenntnisse besitzen. Das BVA legt die Sprachtests besonders streng aus, auch mit erheblichem gerichtlichem Aufwand gegen Antragsteller. Dass Deutsche in Russland ihre Sprache oft gar nicht pflegen konnten, hatte zuvor Alfred Eisfeld, Leiter des Instituts für Deutschland- und Osteuropaforschung des Göttinger Arbeitskreises e.V., in einem überzeugenden Referat festgestellt. Deutsche in der Sowjetunion wurden vor und nach 1945 als "innere Feinde" verfolgt, diskriminiert und deportiert.
Zusätzlich erschwert wird die Aussiedleraufnahme durch die einzelnen Bundesländer, die in einem separaten Verfahren die Aussiedlerbescheinigung gewähren oder noch öfter verweigern. Sogar Bayern, das sich als aussiedlerfreundliches Land bezeichnet, erschwert die Aufnahme von Deutschen aus Russland und Rumänien durch besonders strenge Verfahren und fechtet erstinstanzlicher Urteile an, die zu Gunsten der Aussiedler ausgefallen waren.
Die unzumutbare Situation der Aussiedler wurde von mehreren Teilnehmern, darunter Christoph Lippert (Herzogenaurach) heftig kritisiert. Aufgrund ihres Schicksals seien Deutsche aus Russland gar nicht in der Lage, die Sprache zu können. Nach fünfjähriger Wartezeit auf den Bescheid verkauften sie ihr Eigentum gegen ein symbolisches Entgelt, und würden nach ihrer Einreise den Schikanen deutscher Behörden ausgesetzt. "So eine Situation kann man nur Menschen zumuten, die gewohnt sind, schikaniert zu werden, und das sind die Russlanddeutschen", betonte Lippert. "Es ist demütigend und unredlich", stellte auch Lena Khuen-Belasi aus ihrer 24-jährigen Erfahrung als Beraterin jugendlicher Aussiedler fest. Aufgrund des strikten Aufnahmeverfahrens kommen bereits drei Viertel nur noch als Familienangehörige, da sie den Sprachtest nicht schaffen. Als Familienangehörige stehen ihnen weniger Rechte zu. Aber auch hier plant die Bundesregierung schon "Abhilfe" und will demnächst Sprachtests auch für Familienangehörige einführen.

Ein Gewinn für Deutschland

In einer Podiumsdiskussion unter der Leitung von Otfried Kotzian, Leiter des Bukowina-Instituts in Augsburg, brachten mehrere Aussiedler ihre Integrationserfahrung zur Sprache. Erhard Graeff berichtete, wie seine Familie 17 Jahre lang auf die Ausreise gewartet und unter dem Eindruck "Wir gehen bald fort" in einem Provisorium in Siebenbürgen gelebt habe. Der Großvater sei als Kaufmann enteignet worden, und mangels beruflicher Aufstiegschancen habe sich die Familie schon früh für eine Aussiedlung entschlossen. Die Integration in Deutschland sei erfolgreich verlaufen, der Bruch zum Herkunftsland definitiv, betonte Graeff, der Bundesgeschäftsführer der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen ist.
Ähnlich problemlos verlief auch die Integration von Arthur Bechert, einem diplomierten Naturwissenschaftler aus Russland, der 1991 einreiste und heute in Regensburg lebt. Die Euphorie der neu gewonnen Freiheit habe er eingesetzt, um die Integration in Deutschland zu bewältigen. Bechert beklagte, die Aussiedler der letzten Jahre merkten, dass man ihnen Steine in den Weg lege. Bei ihrer Einreise stellten sich keine positiven Gefühle mehr ein. Trotz gewisser Vorbehalte sei die deutsche Bevölkerung "um mindestens drei Stufen" weniger fremdenfeindlich als die russische Gesellschaft gegenüber Deutschen, stellte Bechert klar. Er forderte die Bundesregierung auf, eine groß angelegte PR-Kampagne zu starten, um die Bevölkerung über die geschichtlichen Hintergründe der Aussiedler und ihren tatsächlichen Gewinn für Deutschland zu informieren.
Eine beispielhafte Integrationsarbeit leistet die Stadt Würzburg zusammen mit vielerlei Bürgerinitiativen. Dr. Peter Motsch, Vorsitzender des Sozialausschusses des bayerischen Städtetages, Stadt- und Bezirksrat in Würzburg, betreut das Sozialreferat der Stadt Würzburg. Seine These: "Wir müssen alles tun, um die soziale Ausgrenzung der Aussiedler zu vermeiden und ihre Beheimatung zu ermöglichen", hat er mit großer Überzeugungskraft mit Leben erfüllt. Die Grundschule in Würzburg-Heuchelhof, wo 440 Kinder aus 17 Nationen miteinander lernen, sei das Muster einer erfolgreichen Gesamtschule, wo auch drei Kurse Russisch als Muttersprache angeboten werden. Zudem wird Hilfe bei der Arbeitsvermittlung geleistet, das Projekt "Arbeiten-Lernen-Erfahrung sammeln" bereitet Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren für den Beruf vor, mehrere ideenreiche, liebevoll gestaltete Freizeitprojekte richten sich an Kinder. Aussiedler werden nicht nur in die Aussiedlerbetreuung eingebunden, sondern wirken gemeinsam mit Einheimischen auch in der Arbeitsgemeinschaft "Familien in der Stadt Würzburg" und im Verein "Stadt für Kinder" mit, um sich mit ihrer neuen Wohngegend zu identifizieren. "Wir empfinden Aussiedler und jüdische Emigranten als große kulturelle Bereicherung für Würzburg, es gibt bei uns keine rechte Szene", betonte Motsch. Dass Würzburg von allen bayerischen Städten am wenigsten pro Kopf für Jugendhilfe ausgibt, erklärt er so: Die Stadt macht alles in Zusammenarbeit mit Bürgerinitiativen, die sich ideell und finanziell einbringen.
Dieses Würzburger Modell, das von klaren, großzügigen Zielen getragen wird, sollte auch in anderen Kommunen bekannt gemacht werden und Nachahmung finden. Es bedeutet eine Investition in die Zukunft, noch lange bevor soziale Probleme auftauchen. Ein erfolgreiches Projekt zur "Sozialhilfeprävention für Spätaussiedler und Kontingentflüchtlinge" wird auch im Bukowina-Institut in Augsburg durchgeführt.
"Die zu uns kommenden Aussiedler sind mit ihrem starken Aufbauwillen, mit ihren jungen Familien und ihrem reichen Kulturgut ein Gewinn für unser Land", betonte Gustl Huber, Landesgeschäftsführer des BdV Bayern. Wünschenswert sei eine Identitätsfindung, bei der sich die Elemente aus beiden Kulturkreisen vermischen und die prägnant auf die Formel zu bringen sei: "Bayer werden, Siebenbürger bleiben."

Nur wenige Aussiedler sind problematisch

Das in der Öffentlichkeit und den Medien hochgespielte Vorurteil von kriminellen Aussiedlern hat Johannes Luff vom bayerischen Landeskriminalamt in einer Studie widerlegt. Der Soziologe hat die Polizeileiche Kriminalstatistik (PKS) von 1997 bis 2000 ausgewertet und in Bezug zur Gesamtzahl der Aussiedler gesetzt. Die Kriminalität von Aussiedlern sei nicht Besorgnis erregend, gleichwohl gebe die Tendenz Grund zur Sorge, sagte Luff. So sei der Anteil der von Aussiedlern begangenen Delikte im Untersuchungszeitraum von 5 Prozent auf 7,5 Prozent der gesamtbayerischen Straftaten gestiegen. Luff hat zudem Umfragen in fünf Landkreisen durchgeführt und festgestellt, dass polizeilich auffällige Aussiedler meist über schwache Sprachkenntnisse verfügen, so dass die Vermittlung der deutschen Sprache nach Ansicht des Soziologen ein wichtiges Instrument zur Prävention von Straftaten sei.
Auf die widersprüchliche Aussiedlerpolitik der Bundesregierung wies Ludwig Waldleitner vom Kolping-Bildungswerk München in seinem Referat über Förderung der sprachlichen, schulischen und beruflichen Integration durch Garantiefonds und den Europäischen Sozialfonds hin. Während die Zuwanderungskommission unter Rita Süssmuth ehrgeizige Vorhaben definiert habe, sei die Integrationsförderung der öffentlichen Hand seit Jahren stark rückläufig. Es sei zu befürchten, dass das von der Bundesregierung geplante Sprachförderkonzept durch zentralistische Vorgaben die Integrationsbedingungen weiter verschlechtern werde, sagte Waldleitner. Tags zuvor hatte Wilfried Mück vom Landescaritasverband in München beklagt, dass sich die derzeitigen öffentliche Debatte fast nur auf Arbeitsmigranten konzentriere und die Aussiedler wenig Resonanz finden.
Evelyn Beck vom Bayerischen Jugendring stellte ein Projekt für Jugendarbeit vor, das in der Jugendarbeit Tätige über junge Aussiedler informiert und Lobbyarbeit für die Aussiedler betreibt. Aussiedler hätten zwar ähnliche Probleme zu bewältigen wie andere Migrantengruppe, aber sie hätten sich sehr wohl Gedanken gemacht über ihre Herkunft und Abstammung. Diese Jugendliche mit deutschen Anteil seien wegen ihrer Fachkenntnise auch ökonomisch ein Gewinn für Deutschland, sie seien offen und integrationswillig und stellten in der Mehrheit keine Integrationsprobleme. In psychologisch eindringlichen Bildern präsentierte Lena Khuen-Belasi vom Internationalen Bund, Jugendgemeinschaftswerk Karlsruhe, das Selbstverständnis und die Ziele junger Aussiedler und plädierte für mehr Interesse und vorbehaltlose Akzeptanz durch die Aufnahmegesellschaft.
Die aufschlussreiche Tagung wird demnächst in einem Band der Schriftenreihe "Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen" der Hanns Seidel Stiftung, Akademie für Politik und Zeitgeschehen, dokumentiert. Als Herausgeber der Reihe zeichnet Bernd Rill, Referent für Recht, Staat und Europäische Integration, der die Tagung im neuen Konferenzzentrum der Hanns Seidel Stiftung in München souverän geleitet hat.

Siegbert Bruss


(Siebenbürgische Zeitung, Folge 12 vom 31. Juli 2001, Seite 4)


"Tor für Aussiedler"fast gänzlich geschlossen

Der Wortbruch bundesdeutscher Politiker, die den deutschen Minderheiten Osteuropas nach den Wende von 1989 stets ein "Offenes Tor" zugesichert hatten, wird durch die jüngste Aussiedlerstatistik des Bundesinnenministerium offensichtlich. Das Tor für Deutsche etwa aus Rumänien ist fast gänzlich geschlossen. So sind im ersten Halbjahr 2001 nur 171 Deutsche aus dem südosteuropäischen Reformland in die Bundesrepublik zugezogen, in den ersten sechs Monaten 2000 waren es 234, vor zwei Jahren 314, 1998 genau 382 und im Vergleichszeitraum 1997 noch 712 Personen. Von Januar bis Ende Juni 2001 kamen Angaben des Bundesinnenministeriums zufolge insgesamt 48 415 Spätaussiedler nach Deutschland, davon 48 005 aus der ehemaligen Sowjetunion, 214 aus Polen, 171 aus Rumänien, zehn aus Tschechien und der Slowakei, acht aus dem ehemaligen Jugoslawien, einer aus Ungarn und sechs aus sonstigen Ländern.

Weiterführende Links zum Thema Aussiedlerintegration

Fragwürdiges Gesetz gegen Aussiedler verabschiedet

Wortbruch gegenüber Aussiedlern

Restriktive Verwaltungspraxis widerspricht verfassungsmäßigen Grundsätzen

Problemfälle bei Aussiedleraufnahme erörtert

Restriktive Praktiken in der Spätaussiedleraufnahme gehen weiter

Patenminister Schartau lobt Integration in Drabenderhöhe

Positionspapier der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen zum Thema Aussiedlerintegration

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