27. September 2002

Paul Niedermaier: "Den Becher wieder gemeinsam füllen"

Den Festvortrag zum diesjährigen Nordsachsentreffen am 25. August im niedersächsischen Munster, das unter dem Motto "Unsere Gemeinschaft hat Zukunft" stand, hielt Prof. Dr. Paul Helmut Niedermaier, Landeskirchenkurator der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien und Leiter des Hermannstädter Forschungsinstituts für Geisteswissenschaften, der zu diesem Anlass aus Hermannstadt angereist war.
An dem Nordsachsentreffen in der Lüneburger Heide, das im zweijährigen Turnus stattfindet, nahmen rund 500 Landsleute aus den Landesgruppen Niedersachsen, Schleswig-Holstein/Hamburg und Berlin/Neue Bundesländer teil. Das kulturelle Programm bestritten die Sing- und Theatergruppe Berlin, die Kultur- und Trachtengruppe der Siebenbürger Sachsen Kokeltaler e.V. Wolfsburg, der Chor der Kreisgruppe Wolfsburg sowie die Siebenbürger Blaskapelle Wolfsburg.

Nach den Ergebnissen der Volkszählung im März dieses Jahres ist die Zahl der Deutschen in Rumänien innerhalb der letzten zehn Jahre um die Hälfte auf rund 60 000 zurückgegangen. Werden die Traditionen und Werte unserer Vorfahren spurlos verschwinden? Paul Niedermayer beantwortete diese Frage in seinem Festvortrag mit einem klaren Nein. Der Historiker referierte aus Sicht der in der alten Heimat Verbliebenen über die Auswirkungen des großen Exodus im vergangenen Jahrzehnt auf Erhalt und Pflege unseres kulturellen Erbes in Siebenbürgen. Gebetsmühlenartig hervorgestoßene Unkenrufe vom Untergang des Siebenbürgisch-Sächsischen haben sich bis zum heutigen Tag nicht bewahrheitet. Freilich steht die im Land verbliebene deutsche Minderheit in Rumänien vor erheblichen Probleme, so Niedermaier: "In Siebenbürgen bedeuten die Zahlen, dass auf die Einsatzfreudigen immer mehr Aufgaben zukommen - bei der Kirche, beim Forum, in der Frauenarbeit, in der Armenhilfe und an verschiedenen anderen Stellen."

Das Kulturerbe könne nicht vollständig bewahrt werden, in den Städten jedoch wirksamer denn am Land. In den Dörfern verfielen Bauernhäuser, in Nordsiebenbürgen seien die meisten Kirchen verkauft worden und nun im Besitz orthodoxer Gemeinschaften. Anders in Südsiebenbürgen, wo die Hemmschwelle zur Veräußerung höher liege.

Als tendenziell neue Entwicklung beschrieb der Referent die zunehmende institutionelle Verflechtung zwischen den Siebenbürger Sachsen in der alten Heimat und den Aussiedlern. Beleg hierfür sei u.a. die Zugehörigkeit der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien und des Demokratischen Forums der Deutschen in Siebenbürgen zum Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturrat e.V. Heidelberg.

Darüber hinaus attestierte Niedermaier eine "betontere ethnische und soziale Eingliederung" der deutschen Minderheit in das kultur- und gesellschaftspolitische Umfeld. "So sind heute in Rumänien Siebenbürger Sachsen in immer mehr Gremien vertreten - nicht nur im Parlament. Ein Extremfall ist die Wahl des Hermannstädter Bürgermeisters (Klaus Johannis), der einen Stimmenanteil von 70 Prozent erhielt".

Stiftungen und Institutionen leisteten hervorragende Aufbauarbeit. Als Beispiel nannte Niedermaier die Saxonia Stiftung, die wirtschaftliche Initiativen unterstützt. Vorneweg würdigte der Festreferent die Leistungen der Kirche. Diese stehe "für den Fortbestand schlechthin, wobei sie - weitgehend mit Hilfe aus Deutschland - alte, einstmals verlorene Organisationen wieder aufbauen konnte, so z.B. Altenheime und Sozialstationen." Auf diese Weise sei anstelle des Diasporaheims in Hermannstadt ein neues Schülerheim entstanden. Auch habe das Diakonische Werk Aufgaben außerhalb unserer Gemeinschaft übernommen. Und es gibt weitere Lichtblicke: "Am Rande kirchlicher Strukturen entstehen verschiedenartigste Einrichtungen, wie ein Kirchenburgenschutzverein, eine Zunftherberge für wandernde Handwerksgesellen oder eine Versorgungsstelle für Straßenkinder. Ganz wichtig sind die Kirchenchöre, denn diese spiegeln in ihrem Weiterbestand und ihren regelmäßigen Treffen geradezu den Existenzwillen der Gemeinschaft wider."

Optimistisch stimmte Prof. Niedermaier in diesem Zusammenhang die Rückerstattung von Eigentum, von Häusern und Grundbesitz. Die Kirche habe bereits eine Reihe von Liegenschaften zurückerhalten.

So zog der Festreferent abschließend das Fazit: "Blicken wir auf die Ereignisse der letzten Monate, Jahre und Jahrzehnte zurück, so ist die Frage berechtigt: Ist der Becher halb voll oder halb leer? Vor zehn Jahren hätten wir im Blick auf Siebenbürgen sicher geantwortet, er sei fast leer. Heute trifft eine solche Einschätzung sicher nicht mehr zu. Lassen Sie uns den Becher wieder gemeinsam füllen!"

(Gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 15 vom 30. September 2002, Seite 12)

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