3. Oktober 2005

Friedrich von Bömches’ Graphiken zur Deportation 1945

Im allerseits geschätzten „Kürschners Handbuch der Bildenden Künstler“, Band I, A bis O, dessen letzte Ausgabe 2004 im Hause Saur in München/Leipzig erschien, ist der 1916 in Kronstadt geborene Friedrich Ritter Bömches von Boor auf Seite 76 umfangreich vermerkt. Der zurzeit bekannteste unter den aus Siebenbürgen stammenden Malern und Graphikern – zu dessen Arbeitsbereichen das Lexikon Öl, Acryl, Tusche, Pastell, Kohlezeichnung, Lithographie und Holzschnitt zählt – ist auch derjenige, der sich wie kein anderer eines der großen dramatischen Themen des 20. Jahrhunderts zur Aufgabe machte und rund fünf Jahrzehnte mit immer neuen Aussageaspekten gestaltete: Flucht und Vertreibung. Der Autor von 250 Selbstbildnissen, über 200 Porträts – darunter Heidegger, Peter Ludwig, Genscher, Baronin Krupp, Beitz, Max Adenauer – schuf weit über 1 000 z. T. großformatige Ölgemälde, ungezählte Kohle- und Bleistiftzeichnungen und ist in Museen und Galerien vieler europäischer und überseeischer Länder vertreten.
In Paris, Brüssel, Wien, Bern, Berlin, München, Stuttgart, Moskau und anderen Orten erregte von Bömches’ malerische und graphische Gestik nicht zuletzt deswegen Aufmerksamkeit, weil dieser Künstler das Fieber eines gebeutelten Jahrhunderts in seine Bilder übernahm. Das Schrecknis des Zweiten Weltkriegs 1939-1945 bis hin nach Stalingrad und das Erleiden der Zwangsdeportation in die UdSSR 1945-1949 waren nicht allein persönlich erfahrene Daseinsstationen und -proben, sie wurden auch zum Ausgang des Kunstverständnisses von Bömches’. Niemals hat sich dieser Mann losgesagt vom Durchlebten, er nahm es zum Anlass künstlerischer Zeugenschaft ohne jeden Anhauch von Sentimentalität und Heroisierung. Der Mensch in der Extremsituation äußerster Not, als wehrlos Vertriebener und angstgepeitschter Flüchtling erscheint bei ihm jenseits wehklagender Selbstbemitleidung und peinlicher Märtyrerpose. Die Unumwundenheit der malerischen und graphischen Mitteilung unter diesem Gesichtspunkt macht von Bömches’ Werk zu einer Dokumentation, vor der mancher Betrachter kapituliert. So eindringlich, ja so rücksichtslos ist sie vorgetragen.
Weg zum Lager, Kohle, 70 x 100 cm, 1994.
Weg zum Lager, Kohle, 70 x 100 cm, 1994.


Künstlerische Zeugenschaft eines gebeutelten Jahrhunderts


In das umfangreiche Spektrum der Passionsveranschaulichungen, die von Bömches dieser Art schuf, gehören die Zwangsverschleppungen der Deutschen Südosteuropas in die UdSSR – „nach Russland“, wie es falsch heißt –, die gegen Kriegsende hin auf Anweisung Stalins vorbereitet und durchgeführt wurden; von Bömches war 1945-1949 einer der Betroffenen. Und so wie er auf dem Rückzug von Stalingrad 1942/43 als Soldat der Rumänischen Königlichen Armee mit einer kleinen Fotokamera Bilder „geschossen“ hatte, deren Ausstellung in München und Berlin 2001 der Anlass allgemeiner Aufmerksamkeit war, so zeichnete und skizzierte er während der Deportationsjahre auf Papierfetzen, Sackleinen, wertlose Geldscheine, Zigarettenschachteln und Kartonschnipsel die Fratze der Demütigung und Missachtung der Kreatur, die er nun in neuer Form täglich an sich selber und ringsum erfuhr: die Armee der Hungernden, Entkräfteten, Erschöpften, Kranken, Sterbenden. Ob Stacheldraht die zu Phantomen des Leids Verkommenen wie Gekreuzigte erscheinen lässt oder der über den Blechteller geneigte Kopf als Totenschädel den Nebenmann anstarrt – jedes Bild wurde zum Dokument.

Friedrich Bömches von Boor brachte kaum etwas von diesen Entwürfen mit, als er Ende der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wieder in Kronstadt eintraf. Aber die Bilder hatten sich in seinem Innern mit solcher Nachdrücklichkeit eingewurzelt, dass er sie nie wieder los wurde. Im Gegenteil: Durch eigenes Erdulden war er auf ein Thema der Epoche gestoßen worden, das nicht nur den kleinen Kreis seiner Landsleute betraf, sondern, wie sich herausstellen sollte, als Jahrhundertthema auch die folgenden Epochen bis in unsere Tage überschattete: Vertreibung, Flucht, Hunger, Angst – schon in der biblischen Maria-und-Josef-Flucht festgehalten, die von Bömches mehrfach malte und zeichnete – historisch unzählige Male erlitten, in barbarischen Formen irgendwann auf allen Kontinenten und in allen Kulturen praktiziert. D i e s wurde dem 1972 aus Siebenbürgen illegal nach Deutschland West emigrierten „Pitz Bömches“, wie ihn die Freunde nennen, zur Obsession: Die nicht abreißende Wiederkunft der vom Menschen am Menschen verübten Gewalttat – der Mensch als Opfer des Menschen, die gepeinigte Kreatur als Objekt ihrer jenseits der humanitas agierenden Mitkreatur.
Menschenrechte: Stacheldraht, Kohle, 100 x 70 cm, 1994.
Menschenrechte: Stacheldraht, Kohle, 100 x 70 cm, 1994.


Wer das Anliegen der Flucht-, Vertreibungs- und Verschleppungsdarstellungen von Bömches’ im Kern begreifen will, wird die Bilder durch dies Prisma der Blickwinkelerweiterung sehen müssen. Die Elendsgestalten auf den Kartons, Leinwänden, Holzflächen und Blättern sind nicht mehr allein die von Sondereinheiten des NKWD (NKGB) unter dem Kommando Berijas Ausgehobenen und zumeist ins Donez-Steinkohlenbecken Deportierten. Es sind vielmehr a l l e im Millionenheer der im vorigen Jahrhundert und darüber hinaus dieser Art durch die Hölle Gegangenen, Gequälten und zu Tode Gekommenen.
Der Hunger, Kohle, 100 x 70, 1994.
Der Hunger, Kohle, 100 x 70, 1994.


Von Bömches entfernt sich durch diese Sicht nicht vom konkreten Anlass: vom Deportationsvorgang, dessen Räderwerk ihn selber zusammen mit seinen Landsleuten erfasst hatte. Er gibt diesem, im Gegenteil, durch seine Auffassung erst das ganze Gewicht, das ihm eignet. Er macht ihn als das europäische Phänomen deutlich, das er war, ja, als das globale, das er immer noch ist. Er führt den ehemals Betroffenen die Totale des Ereignisses vor, zu dem sie als Teil, als Ausschnitt gehörten. Auf diese Weise scheint hinter dem Einzelschicksal die geschichtliche Dimension in ihrer Gesamtheit auf. Das Anonyme der Gesichter auf den Kohle-, Bleistift- und Kreide-Tusche-Graphiken, das Schemenhafte der Kinder-, Frauen- und Männergestalten, gleichviel ob sie im Zug unterwegs zur Fronarbeit oder auf dem von der bewaffneten Eskorte begleiteten Marsch ins Lager sind, und die Gänsehaut hervorrufende Verwischung der Konturen: Das Schmerz- und Albtraumhafte solcher Darstellungsweise ist die dem Vorgang angemessene bildnerische Formel, mittels derer Friedrich Bömches von Boor zu einem der bedeutendsten deutschen Künstler wird, die sich je diesem Stoff zuwendeten.

Sechzig Jahre danach sei auch anhand des künstlerischen Dokuments an das Ereignis erinnert und der Gegenwart wie der Zukunft eine Mahnung mitgegeben.

Hans Bergel


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