13. November 2005

20-jähriger Briefwechsel einer Kronstädterin mit Albert Einstein

Der in Aachen lebende, aus Kronstadt gebürtige Musiker und Grafiker David Șerbu besitzt einen Schatz besonderer Art: eine Mappe mit Kopien von Briefen Albert Einsteins an Melanie Șerbu, seine Schwester. Seit Bekanntwerden dieser Korrespondenz Mitte diesen Jahres entstand beachtliches Medieninteresse. Schließlich feiert man 2005 anlässlich des 50. Todestages des genialen Physikers und 100 Jahre Relativitätstheorie das „Einsteinjahr“.
1928 adressierte die 19-jährige Tochter des Kronstädter Forstwirtes Nathan Șerbu und der Deutschlehrerin Stefanie (geborene Antler, aus Piatra Neamț stammend), einen Brief an: „Herrn Prof. Albert Einstein, Erfinder der Relativitätstheorie, Berlin“. Sie hatte sich bei der Lektüre von Eminescus „Der arme Dionys“ Gedanken über die Relativität unserer Sinnesempfindungen gemacht, wollte mehr wissen und wandte sich direkt an die höchste Autorität auf diesem Gebiet. Die Handelsschulabsolventin äußert in dem Schreiben u.a. auch den Wunsch, in die Geheimnisse der Mathematik und Physik einzudringen, und bittet Einstein um Rat. Erstaunt über diesen ungewöhnlichen Wunsch der jungen Frau bietet sich der 49-jährige Einstein an, ihr den Weg zu einem Mathematikstudium zu ebnen. Er empfiehlt ihr ein Buch von Hans Thirring, schickt Bücher und gibt Anweisungen, wie wissenschaftliche Lektüre anzugehen sei. So begann eine Korrespondenz, die 20 Jahre dauern sollte und für den Werdegang der jungen Kronstädter Jüdin bestimmenden Einfluss haben sollte.
Melanie Serbu
Melanie Serbu


Aus den Briefen und Anmerkungen kann man viel über den Gelehrten und Menschen Albert Einstein und über Melanie Șerbu erfahren. Der Gelehrte berichtet ihr über seine Arbeit, seine Versuche, die Relativitätstheorie mit der Quantentheorie zu verbinden. Er diskutiert mit ihr über wissenschaftliche Themen, teilt ihr Erfolge und Gedanken, und auch sein wissenschaftliches Credo mit. Manche Briefe verraten seine politische Kurzsichtigkeit: Er unterschätzt die Krankheit des Nationalsozialismus, von der die Mehrheit der deutschsprachigen Studenten aus Prag angesteckt sind. Einstein kann sich nicht vorstellen, dass sich im Auditorium die Bänke um die junge Jüdin sofort leeren, dass sie kaum angesprochen wird. Nach dem Krieg sieht er die Situation in Rumänien aus der Sicht der amerikanischen Medien: „Es ist doch ein so reiches und fruchtbares Land, das viel weniger bedroht ist als die Länder, die ganz auf den Export von Industrie-Erzeugnissen angewiesen sind.“ Später, als er mehr über die Gräuel in Europa wusste, soll er in einem Gespräch mit Prof. Frank sein Bedauern darüber geäußert haben, dass er Melanie von einer Ausreise nach Amerika abgeraten hatte.

Man erfährt, dass der Gelehrte „seit der Verwendung der Verwandlung der Masse in Energie in der Atombombe seine Zeit zum großen Teil dem Bestreben widmet, „die Verwendung der Atomenergie zu organisieren und zwar in einer Weise, dass sie nicht zu Kriegs-, sondern zu Friedenszwecken verwendet wird.“

Für Melanie erweist sich Einstein immer wieder als verlässlicher Freund. Er empfiehlt sie (ohne Abitur) zuerst dem rumänischen Unterrichtsminister Nicolae Iorga und später, seinem Nachfolger am Lehrstuhl für theoretische Physik an der deutschen Universität in Prag, Prof. Philipp Frank. Einstein nimmt aktiv an Melanies Werdegang teil, spricht sie als ihm gleichgestellt an, freut sich über ihre Fortschritte, lobt, tröstet, gibt Ratschläge, ja, er erlaubt sich sogar kleine Indiskretionen über ihre Professoren. Von Prof. Frank lässt er sich über Melanies Fortschritte unterrichten. So kann sie nach einer kurzen Zeit das Bakkalaureat (inklusive tschechische Sprache!) nachholen und als ordentliche Studentin immatrikuliert werden. Von da an spricht Einstein Melanie als „Liebes Frl. Șerbu“ an. In einem väterlich-herzlich gehaltenen Brief rät ihr Einstein aus dem gegebenen politischen Kontext heraus von einer Verbindung mit einem nichtjüdischen Partner ab. Einstein unterstützt ihr Bestreben in der neutralen Schweiz weiter zu studieren, weil die Situation in Prag für Melanie unerträglich wird. Als sie an Tbc erkrankt, empfiehlt er sie Prof. Zangger, obwohl er mit diesem seit Jahrzehnten zerstritten war, und lässt sich regelmäßig über ihr Befinden informieren. In seinem ersten Brief nach dem Krieg äußert Einstein seine Freude darüber, dass Melanie „die furchtbare Gefahr dieser Jahre überstanden“ hatte und „dazu noch Interesse und Unternehmergeist bewahrt“ habe. Sein letzter Brief spricht Einsteins Überzeugung aus, dass Melanies Berufung das Gebiet der reinen Forschung sei. Da das unter den gegebenen politischen Verhältnissen nicht möglich war und sie in Kronstadt Mathematik und Physik unterrichtet, versucht er sie zu trösten: „Das Lehren ist immer befriedigend, wenn man an den jungen Menschen Interesse hat.“ Die Korrespondenz zeigt auch Einsteins humorvolle Seite.

Albert Einstein hat Melanie als eine sehr ehrgeizige, hochintelligente junge Frau geschätzt, als Partner im wissenschaftlichen Gedankenaustausch. Melanie sah in ihm den Mentor, den Lehrer, aber auch einen väterlichen Freund. Er war ihr Vorbild, ihr Idol, an dessen Leben sie, wenn auch nur aus Nachrichten und Berichten anderer, bis an sein Lebensende intensiv teilnahm. Melanies Verhältnis zu ihm ist getragen von Ehrfurcht und Verständnis, von Feingefühl und Takt. Ihm teilt sie ihre Gedanken, Erfolge, Sorgen, Enttäuschungen mit. Sie stellt sich ganz in den Schatten seiner Persönlichkeit, ohne ihre Leistung, ihren Wert hervorzuheben. Frank, der selbst eine Biographie Einsteins verfasst hat, schreibt ihr: „Sie haben vermutlich eine Art von Traumbild (von Einstein), das oft wahrer ist als die Wirklichkeit, aber doch etwas anders.“ Ihre Doktorarbeit kann sie nicht beenden: „Krankheit, Krieg, das immer wieder Zurückgedrängtwerden in geistige Abgeschlossenheit, ließ es nicht zu. (...) Jüngere Kräfte, die Bücher, aber vor allem Zusammenarbeit und geistige Führung besitzen, mögen sich daran versuchen.“ Sie befolgt Einsteins Ratschläge, heiratet den Prager deutschen Dozenten nicht und verzichtet auch auf den Wunsch, nach Amerika auszureisen. Die Anmerkungen Melanies zu den Briefen zeigen die sensible Frau, die tapfer ihren steinigen Lebensweg geht, dankbar für Freundschaft, tolerant, herzlich, menschlich.

Die Sammlung schließt mit den humorvollen Erinnerungen von Ing. F. Paul Habicht an den im Physikexamen durchgefallenen Studenten Einstein. Melanie Șerbu beschließt mit einem eigenen Gedicht dieses so wichtige Kapitel ihres Lebens: „Aus der Weite des Alls,/ Führt ihre Bahn von Sehnsucht getrieben einander zu./ Es wäre fast geworden die Menschen-Liebe/ Doch gleiten sie aneinander vorüber ...“. Ihr Kommentar: „Das war Einstein ... und ich habe ihn nie gesehen“. 1958 emigierte Melanie Șerbu nach Israel. In Haifa verstarb sie 1985.

Gertrud Nicolae



Programmhinweis: Zu diesem Thema strahlt WDR 5 am Mittwoch, dem 16. November, 12.05 Uhr (Wiederholung um 21.05 Uhr), in der Reihe „Scala - Aktuelles aus der Kultur“ die Sendung aus: „Leidenschaft für Einstein. Briefwechsel zwischen dem Nobelpreisträger und der rumänischen Studentin Melanie Șerbu“ von Nicole de Bock.

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