12. Dezember 2005

Bundesregierung setzt positive Zeichen

Deutschland wird erstmals von einer Frau regiert. Angela Merkel wurde am 22. November 2005 als erste Bundeskanzlerin in der Geschichte der Bundesrepublik vereidigt. In ihrer ersten Ansprache vor dem Bundestag kündigte die 51-Jährige an, sie wolle mit "offenem Herzen und wachem Verstand" ihre Arbeit im Kanzleramt aufnehmen. "Die Erwartungen der Menschen an das Lösen der Probleme sind sehr groß", sagte die neue Regierungschefin. Für Vertriebene und Aussiedler gehen durchwegs positive Signale von der Kanzlerin und den neuen Ansprechpartnern aus, die im Folgenden anhand ihrer ersten Amtshandlungen kurz vorgestellt werden.
Bundespräsident Horst Köhler ermutigte die neue Regierung zu einer nachhaltigen Politik, "die die Probleme grundlegend anpackt und Lösungen entwirft, die über eine Legislaturperiode hinausreichen". Mit Kanzlerin Angela Merkel an der Spitze der großen Koalition wollen Union und SPD die Reformen in der Tat vorantreiben. Dem neuen Kabinett gehören neben Merkel acht Sozialdemokraten, fünf CDU- und zwei CSU-Mitglieder an.

Neben den enormen wirtschaftlichen und sozialen Problemen, die Deutschland zu bewältigen hat, gewinnt ein bislang teilweise verdrängtes Thema an Bedeutung: die Vertreibung von deutschen Heimatvertriebenen und Eingliederung von Aussiedlern. Am "Tag der Heimat" des Bundes der Vertriebenen hatte Dr. Angela Merkel ausgeführt: "15 Millionen Deutsche sind am Ende des Zweiten Weltkrieges vertrieben worden. Rund 3 Millionen deutsche Spätaussiedler sind vor allem in der Zeit nach 1990 zu uns nach Deutschland gekommen. Etwa zwei Millionen Deutsche leben heute noch als Minderheit in ihren Heimat- bzw. Herkunftsgebieten." Daher sei ein Wirken dort nach wie vor von großer Aktualität und Bedeutung. Merkel bekräftigte, dass die Union an der Seite der deutschen Spätaussiedler stehe, die Verantwortung Deutschlands anerkenne und die zu uns gekommenen Spätaussiedler "als Bereicherung für unsere Gesellschaft" verstehe.

Am 2. Dezember 2005 wurde in Anwesenheit des Bundespräsidenten Horst Köhler und des neuen Staatsministers für Kultur und Medien, Bernd Neumann, im Bonner Haus der Geschichte eine Ausstellung eröffnet, "die an den politischen Nerv Deutschlands und seiner östlichen Nachbarn rührt", so die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Es geht um Flucht und Vertreibung. Zum selben Zeitpunkt stattete Bundeskanzlerin Angela Merkel ihrem polnischen Amtskollegen den Antrittsbesuch ab.

Die FAZ schreibt: "Das Leid der Opfer und ihrer Nachkommen lag freilich Jahrzehnte begraben unter der zentnerschweren Platte historischer Schuld Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. Statt staatspolitischer Erinnerung gab es im öffentlichen Raum jedenfalls seit den Ostverträgen nur noch die quasi private Gruppenerinnerung der vom Staat mit schlechtem Gewissen geförderten Vertriebenenverbände." Einer Studie des Allensbacher Instituts zufolge wissen "die heute unter Dreißigjährigen über Schlesien und das Sudetenland nicht wesentlich mehr als über afrikanische Länder". Die europäische Dimension der Zwangsumsiedlungen eröffne die Chance, Erinnerungen europäisch zuzulassen und zu befrieden, ohne sie zu nivellieren. So würden junge Polen und Tschechen ein Zentrum gegen Vertreibungen begrüßen, wenn es nicht allein den deutschen Opfern der Vertreibung gewidmet sei.

Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, steht einer Stiftung vor, die sich seit fünf Jahren für ein "Zentrum gegen Vertreibungen" einsetzt. Die in Berlin geplante Einrichtung soll daran erinnern, dass in Europa mehr als 30 Völker Opfer von Vertreibungen geworden sind. Das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen und ihre Aufnahme durch die einheimische Bevölkerung sei "ein Teil unserer eigenen Identität", aber auch die europäischen Nachbarländern seien eingeladen, die Einrichtung in Berlin auf den Weg zu bringen.

Jahrelang war das "Zentrum gegen Vertreibungen" Gegenstand heftiger Kontroversen. Ein Durchbruch in der Sache bahnt sich neuerdings an. Union und SPD bekennen sich in ihrem Koalitionsvertrag dazu, in Verbindung mit dem "Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität" in Berlin ein "sichtbares Zeichen" zur Erinnerung an Vertreibung zu setzen. Noch als designierte Kanzlerin hatte sich Angela Merkel bei der parteiinternen Vertriebenenorganisation Ost- und Mitteldeutschen Vereinigung (OMV) erneut zum Bau eines Vertriebenenzentrums in Berlin bekannt und betont, sie fühle sich den Belangen der Heimatvertriebenen "ganz persönlich" verpflichtet. Zugleich kündigte sie Gespräche mit den Nachbarländern an, um Ängste abzubauen.

Der Außenexperte der CDU, Friedbert Pflüger, seit kurzem Verteidigungs-Staatssekretär, lässt keine Zweifel an der Grundausrichtung der Union: "Es geht uns ganz sicher nicht darum, Geschichte umzuinterpretieren und die Ursächlichkeit der Verbrechen des Nationalsozialismus für die Leiden des Zweiten Weltkrieges in Frage zu stellen." Es gehe vielmehr um einen europäischen Ansatz, um an das Leid der Vertreibung angemessen zu erinnern.

Als Kernaufgaben seiner Amtszeit betrachtet Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU), der dieses Amt schon im Kabinett Helmut Kohl inne hatte, die Ausländerpolitik und innere Sicherheit. Die jüngsten Vorkommnisse in Frankreich hätten deutlich gemacht, dass das Problem der Migration bewältigt werden müsse, sagte der Nachfolger von Innenminister Otto Schily (SPD). "Wir müssen die Integration derjenigen, die auf Dauer in unserem Lande leben, weiter verbessern. Das ist eine Schwerpunktaufgabe der Regierung, deswegen hat die Bundeskanzlerin auch entschieden, dass die Beauftragte der Bundesregierung für diese Aufgabe als Staatsministerin im Kanzleramt angesiedelt ist", erklärte Schäuble im Interview mit DeutschlandRadio. Im Innenministerium tätig ist der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Hans-Peter Kemper, der seit November 2004 im Amt ist und die Siebenbürger Sachsen beim Heimattag 2005 in Dinkelsbühl und im Juli auf einer Rumänienreise, gemeinsam mit dem landsmannschaftlichen Bundesvorsitzenden Dipl.-Ing. Arch. Volker Dürr, kennen und schätzen gelernt hat.

Neuer Staatsminister für Kultur und Medien im Kanzleramt ist, wie bereits erwähnt, Bernd Neumann ist. 1942 in Elbing in Westpreußen geboren, stieg er vom Lehrer im bremischen Schuldienst 1979 zum Landesvorsitzenden der Bremer CDU auf, ein Amt, das er seit 26 Jahren inne hat. Stetig nach oben ging es auch in der Bundespolitik. Seit 1987 ist er Mitglied des Bundestages, von 1989 bis 1995 war er Vorsitzender des CDU-Fachausschusses Medienpolitik und von 1991 bis 1998 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesforschungsministerium. Zuletzt war er Obmann im Kulturausschuss, wo er sich in der Medienpolitik hervortat.

In seiner ersten Amtshandlung als Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien sicherte Neumann die finanzielle Unterstützung für Film- und Drehbuchprojekte zu. Er kündigte an, er setze auf Dialog mit den Künstlern. Sie sollten "möglichst viel Luft zum Atmen, viel Freiraum" haben. Deshalb will der CDU-Politiker die Kultur aus den allgemeinen Sparzwängen heraushalten. "Dass der Bundeshaushalt generell reduziert werden muss, ist zwingend, aber mein Ziel ist es, ein Zeichen zu Gunsten der Kultur zu setzen, weil die große Koalition sich ausdrücklich dazu bekennt, in der Kultur keine Subvention, sondern eine Investition in die Zukunft zu sehen", so Neumann. Der Bundeskulturhaushalt erfülle mit 678 Millionen Euro eminent wichtige kultur- und gesellschaftspolitische Aufgaben und sei dennoch ein Etatzwerg, der sich nicht für Sparmaßnahmen eigne, sagte Neumann.

Neue Staatsministerin für Integration und Migration im Kanzleramt ist die CDU-Politikerin Maria Böhmer. Am 23. April 1950 in Mainz geboren, gehört sie seit 1990 dem Bundestag an und ist darüber hinaus seit 2001 Bundesvorsitzende der CDU-Frauenunion und stellvertretende Landesvorsitzende der CDU Rheinland-Pfalz. Dr. Maria Böhmer ist in ihrem beruflichen Werdegang seit 2001 Professorin für Pädagogik in Heidelberg.

Mit überwältigender Mehrheit wurde die SPD-Abgeordnete aus Maroldsweisach, Dr. h. c. Susanne Kastner, erneut zur Bundestagsvizepräsidentin gewählt. Bei der konstituierenden Sitzung zum 16. Deutschen Bundestag erhielt sie 496 der abgegebenen Stimmen, was einem Stimmenanteil von 82 % entspricht. Ihre Arbeit der vergangenen Jahre wird offenbar parteiübergreifend anerkannt. Dementsprechend motiviert will sie ihre Tätigkeit vor allem im Bereich "Jugend und Parlament" und dem Einsatz moderner Kommunikationstechnologien, wie beispielsweise der Einrichtung eines Parlamentsfernsehens, fortsetzen. Die SPD-Politikerin ist Vorsitzende des Deutsch-Rumänischen Forums in Berlin und engagiert sich vielseitig für Rumänien.

Eine Aufwertung seiner Aufgabe erfuhr der CDU-Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme (Salzgitter-Wolfenbüttel): Er war bislang Aussiedlerbeauftragter der Unionsfraktion, nun wird er Vorsitzender der Fraktions-Arbeitsgruppe für die Belange von Vertriebenen und Aussiedlern. Fromme sitzt damit auch im Unions-Fraktionsvorstand und bleibt Mitglied im wichtigen Haushaltsausschuss des Bundestages.

Die neuen Verantwortlichen in Berlin bieten also gute Voraussetzungen, dass die Anliegen der Aussiedler und Vertriebenen künftig mehr öffentliche Anerkennung finden und in ihrem kulturellen Wirken in Deutschland und darüber hinaus gestärkt werden.

Siegbert Bruss

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 20 vom 15. Dezember 2005, Leitartikel)

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