16. Dezember 2005

Agnetheln - erzählte Lebenswelt rund um Keller, Kammer, Küche

Über 50 Erinnerungsprotokolle namentlich genannter, ehemaliger Bewohner von Agnetheln im Harbachtal in Siebenbürgen, hat der Herausgeber Horst Fabritius zu einem "Lesebuch" besonderer Art aufbereitet: ein soziokulturelles Kaleidoskop verbürgerlichter Ländlichkeit mit Ausrichtung auf das leibliche Wohl in der sächsischen Gesellschaft des "Marktfleckens" während eines ganzen Jahrhunderts.
Die Erinnerung streift eine beeindruckende Vielfalt gemeinschaftlicher wie individueller Lebensäußerungen, sie lässt jenen überschaubaren und "identifizierbaren (Agnethler) Mikrokosmos, an dem der Einzelne Anteil hat" (Ina-Maria Greverus), in ungeahnter Lebendigkeit vor dem geistigen Auge des Lesers Revue passieren. Ob es sich nun um die knappen Wasservorräte der Region handelt, um die Viehwirtschaft oder die Bienenzucht im Ort, um das Schweineschlachten oder das Schnapsbrennen, um die Alltags- oder die Feiertagsküche, oder aber um Wochenmärkte oder Lebensmittelrationen und "Schlangestehen" in der kommunistischen Ära - die Agnethler verstehen es, ihre zurückgelassene Lebenswelt anschaulich zu schildern. Liebevoll und kenntnisreich heraufbeschworen, zuweilen treffend in mundartliche Aussage verpackt und mit Anekdoten verziert, bietet sich einem das Bild einer örtlichen Gemeinschaft, die bis tief ins 20. Jahrhundert hinein von Handwerk und agrarischer Subsistenzwirtschaft geprägt war.


Die tradierten Nahrungsgewohnheiten und die örtliche Esskultur im Blick führen die Eingeweihten den Außenstehenden mit einem Glas "oltenischer (Wein)Suppe in die Mariage-Runden ihrer Kränzchengesellschaft ein, verweilen mit ihm beim "geheimen Brunnen unter der Apotheke", lassen ihn zusehen, wenn die Hüterbuben auf der Viehweide "aus Maisstengeln Geigen (basteln), also krächzende Violinen, Spiele spielen und sich beim Hüten in der frischen Luft austoben". Sie lassen ihn von der raffiniert-geschmacklichen "Hätschum-Pätsch-Marmelade" kosten, bevor sie ihn mit einer Feldmahlzeit aus "Milchbrocke, Speck, Zwiebel und Brot" zur Schwerstarbeit in den Holzschlag entlassen oder ihm mit "Kukuruzwein" die Dürftigkeit des Seins in Kriegs- und Nachkriegszeiten vorhalten. Interne Sozialbeziehungen, Alltagsrituale und -routine, interethnische Aktionsmuster, mundartliche Gesprächskultur, selbstreflexive Äußerungen - von allem findet sich dabei etwas.

Wie eben solchen Erinnerungen zueigen, zeichnen die Schilderungen streckenweise das verklärte Bild von jenem verlorenen Lebensraum Agnetheln und eröffnen damit einen geistigen Kompensationsraum für das bundesdeutsche Hier und Jetzt. Es ist das Verdienst des Herausgebers, dem Erzählten einen reflektierenden Rahmen zu geben, feinfühlig in knappen und treffsicheren Anmerkungen, das Erzählte auf die ihm zukommende Ebene der "erinnerten Wahrhaftigkeit" zu stellen, ohne dabei die Faszination des durchstreiften Forschungs- und Erinnerungsfeldes unterdrücken zu wollen. Fabritius versteht es, ein Gutteil dieser originären Lebendigkeit des erzählten Erlebten an den Leser weiterzuvermitteln. Kaum Abbruch leisten dabei die Worterklärungen des Sächsischen, die nicht immer entsprechen. So hat die Redewendung "Läpp mät Gierenajeln" nichts mit Geer, dem germanische Speer, zu tun. Vielmehr ist "Läp" (Lüppe) der siebenbürgisch-sächsische Sammelname für giftige Pflanzen, bzw. das Gift des Weißen und des Schwarzen Germer, der Herbstzeitlosen. Das Bestimmungswort in "Gierenajel" verweist seinerseits auf den Gehren, die Gehrung (Keil, Schräge, Abschrägung).

Das Buch hat über seinen kultur- und sozialgeschichtlichen Ansatz einer Milieustudie hinaus auch einen praktischen Wert als Kochbuch. Es integriert zum einen das 1926 in Agnetheln erschienene "Siebenbürgisch-sächsische Kochbuch für einfachen Haushalt" der ausgebildeten Köchin und gebürtigen Agnethlerin Emmy Rösler (1885-1966). Zum anderen sichert es in einer für Erinnerungsschriften typischen dialektischen Verschränkung der Zeitschichten das Wissen mehrerer Agnethler Generationen um den tradierten Nahrungsbereich. Es hält Rezepte und Essrituale fest, die heute in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur bei ehemaligen Agnethlern weiterhin im Gebrauch sind und die bewusst als kulturelles heimatliches Erbe an die junge Generation weitergereicht werden: "Der Mensch ist, was er isst." Das vom Herausgeber zitierte Bonmot von Ludwig Feuerbach resümiert diese Intention des Buches, welches das Agnethlerische stellvertretend für das Allgemein Siebenbürgische zur Diskussion stellt. Es sei deshalb auch Nicht-Agnethlern empfohlen.

Irmgard Sedler

Horst Fabritius: Wie hat es geschmeckt? Keller, Kammer, Küche in Agnetheln, Siebenbürgen. Heilbronn 2005. 245 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Preis 23 Euro, zuzüglich 2 Euro Versand. Bestellungen an: Gitte Henning, Telefon: (0 71 31) 48 31 37, oder Ingeborg Ehrmann, Telefon: (0 71 31) 48 31 78, oder E-Mail: wagner_agnetheln@onlinehome.de.

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 20 vom 15. Dezember 2005, Seite 12)

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