14. Oktober 2001

Einmalige Momentaufnahme des Lebens in Siebenbürgen

Georg Daniel Teutsch hat von 1870 bis 1888 alle zehn Kirchenbezirke der Evangelischen Kirche A. B. in Siebenbürgen mit ihren sämtlichen Gemeinden (bis auf Hermannstadt und Klein-Lasseln) visitiert. Der "Bischof zum Anfassen" suchte den direkten Kontakt zu den Menschen. Mit klaren Beobachtungsmustern und einer hohen Kenntnis eigener Volks- und Kirchengeschichte versehen, stellen Teutschs Visitationsberichte eine einmalige Momentaufnahme des religiösen und kulturellen Lebens, der Nachbarschaften, des Brauchtums und der Schulsituation jener Zeit dar.
Georg Daniel Teutsch: Die Gesamtkirchenvisitation der Evangelischen Kirche A. B. in Siebenbürgen (1870-1888). Nachdruck der Ausgabe Hermannstadt 1925. Mit einer Einführung von Paul Philippi, herausgegeben und mit Registern versehen von Harald Roth, Köln-Weimar-Wien 2001, Böhlau Verlag, 487 Seiten, ISBN 3-412-11000-0, 84,00 DM.

Die bischöflichen Visitationsberichte von G. D. Teutsch, 1925 in Hermannstadt veröffentlicht, hat der Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde als Band 24 der "Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens" als Reprint wieder abdrucken lassen. Paul Philippi hat das Buch mit einem informativen geschichtlich-theologischen Abriss des siebenbürgischen Visitationswesens eingeleitet, Harald Roth hat es mit drei hilfreichen Registern versehen.
Das einmalige Unternehmen, alle zehn Kirchenbezirke der Evangelischen Kirche A. B. in Siebenbürgen mit ihren sämtlichen Gemeinden (bis auf Hermannstadt als Bischofssitz und Klein-Lasseln, das wegen einer Seuche gesperrt blieb) zu visitieren, liegt in hervorragend dokumentierter Form nun wieder vor. Die für 1917 geplante Herausgabe anlässlich des 100. Geburtstages von G. D. Teutsch sowie des 400-jährigen Reformationsjubiläums wurde durch den ersten Weltkrieg und die umwälzende Nachkriegszeit verzögert. Erst zu Pfingsten 1924 bewerkstelligte das Landeskonsistorium die Herausgabe, versehen mit einer Einleitung von Bischof Friedrich Teutsch.
In den Jahren 1870-1881, 1884-86 und nochmals 1888 trug G. D. Teutsch in umfassender Weise einem Hauptanliegen der reformatorischen Kirchen Rechnung: den Kontakt zwischen kirchlicher Obrigkeit und gemeindlichem Leben nicht abreißen zu lassen. Treibender Faktor der Visitationen war dabei nicht, kirchliche Obrigkeit vor Ort zu präsentieren und "Fehler aufzuspüren, sondern zu erwärmen und zu begeistern", ja "die Lücken [zu] verzäunen und die Wege [zu] bessern" (X, Einleitung von 1925). Hier erschien ein "Bischof zum Anfassen", der den direkten Kontakt zu den Menschen suchte – ein Vorgang, der noch Jahre danach in den besuchten Gemeinde nachwirkte. Bezeichnend für den pastoralen Charakter: der Bischof predigte sehr häufig selbst, setzte sich also nicht einfach unter die Kanzel des jeweiligen Pfarrers.
"Diese Visitationen haben erst die Einheit der Landeskirche geschaffen" (X) – so resümierte 1925 der Sohn Fr. Teutsch und zog damit das Fazit dessen, was Anliegen aller seit 1542 (d.h. seit der Neuordnung der sächsischen Kirche durch die unterschiedlichen Visitationsordnungen) mehr oder weniger umfassend durchgeführten Visitationen war.
Die Berichte G. D. Teutschs sind der Reiseabfolge nach chronologisch geordnet: Bistritzer Bezirk Sommer 1870; Repser Herbst 1871; der Hermannstädter folgt 1872-73 krankheits- und witterungsbedingt in fünf Besuchsreihen; Reener September 1874; Mühlbacher Juni 1875 und Oktober 1876; Schelker Sommer 1877 bzw. Juni und September 1878; Kronstädter Sommer 1879; Mediascher Sommer 1880; Schenker Oktober 1881 bzw. Sommer 1882; die letzte Visitationsreise in den Schäßburger Bezirk erfolgte in vier Abschnitten: sommers 1884-1886 und im Juni 1888.
Den Berichten an das Landeskonsistorium liegt ein festes Muster der Visitationsbereiche zu Grunde: allgemeine Lage des Kirchenbezirks, der Stadt- oder Landgemeinden; die Schule (oftmals Gegenstand der größten Aufmerksamkeit); Zustand des Gemeindelebens (Jugend; sittlich-religiöses Leben); kirchliche Organe (Presbyterium, Gemeindevertretung); Vermögensfragen (Kirchengut, Pfarrdotationen); Amtsführung der Geistlichkeit; äußere Bedingungen des kirchlichen Lebens (kirchliche Gebäude etc.) sowie die abschließenden Sitzung mit Konsistorien und Konferenzen am Ende des jeweiligen Besuches.
Das Interesse an der Schulsituation leitet den "lehrenden" Bischof, sich eingehend mit der Qualität des Unterrichts und den Fähigkeiten der Unterrichtenden zu befassen, ein waches Auge für die Ausstattung der Schulen (vielfältige Einzelbeobachtungen Teutschs lassen ein genaues, bisweilen auch erschütterndes Bild der Dorf- und Stadtschulen entstehen) und die Sinnhaftigkeit des Lehrstoffes zu haben. Der Visitierende ist dann gefragt als Koordinator und Mentor: wenn man etwa in Kronstadts Elementarschulen völlig unterschiedliches Lehrmaterial benutzte und auf Vereinheitlichung gedrungen werden musste; wenn man in Moritzdorf weder Schiefertafeln noch eine brauchbare Landkarte besitzt oder im Schelker Bezirk Schulmatrikel und Klassenbücher fehlen. In den abschließenden Lehrerkonferenzen der Städte konnte Teutsch pädagogische Grundsatzfragen behandeln – in den Landgemeinden dagegen ging es darum, erst einmal Fortbildungsseminare für die Lehrkräfte zu organisieren und seitens der Bezirkskonsistorien zu überwachen.
Die Berichtsteile über das religiös-sittliche Leben vor allem auf dem Lande geben Einblick in die bunte Vielzahl des Brauchtums, aber auch in eingeschliffene Unsitten (Mädchen werben um junge Männer!; Saufereien bei Verlobungen; Eheprozesse etc.) und Missstände (mangelnde Abendmahlsbeteiligung; wirtschaftliche Schädigungen durch übertriebene Hochzeiten etc.). Immer wieder drängt der Visitator auf die Beachtung und Pflege der alten sozial-regulativen Einrichtungen und Ordnungen wie Burschen-, Mädchen- und Nachbarschaften; empfiehlt die Beteiligung an der Arbeit des Gustav-Adolf-Werkes angesichts fehlender Armenfürsorge; setzt sich nachdrücklich für ein Fortbildungswesen bei der konfirmierten Jugend ein.
Auch der Pfarrerschaft schaut Teutsch über die Schulter, indem er sich die Predigtarbeiten der Amtsträger vorlegen lässt, Erkundigungen über deren Gemeindeseelsorge und -arbeit einholt und immer wieder auf die nötige Zusammenarbeit in den Kapitularversammlungen der Kirchenbezirke hinweist.
Die Kenntnisnahme der kulturellen Schätze der Kirchengemeinden und Bezirke nimmt einen großen Platz ein – sei es das kultur- und kunstgeschichtliche materielle Erbe, sei es das Traditionsgut an Erzählungen und Überlieferungen. Auch hier hat der Visitator ein umfassendes Interesse und den Blick für das Bedeutende, Einmalige und Wertvolle. Verbunden damit ist auch der Blick fürs Praktische und ökonomisch Notwendige: die sinnvolle Nutzung des vorhandenen Kirchenguts (Verpachtung; Bewirtschaftung) ist dringendes Anliegen, dem sich die Bezirkskonsistorien als Kontrollinstanzen nicht entziehen dürfen. Die Aufgaben dieser Instanzen in Aufsicht, Koordination und Anleitung mahnt der Bischof in den abschließenden Sitzungen am Ende einer jeden Visitationsreise an.
"Die Berichte werden demjenigen, der die sächsische Kirche Siebenbürgens aus eigenem Erleben kennt, erhebende, aber auch nachdenkliche Stunden bereiten. Dem, der diese Kirche nicht gekannt hat und heute auf sie stößt, wird der Blick auf den Hintergrund ermöglicht, auf dem für die Siebenbürger Sachsen das Zauberwort ,Volkskirche‘ immer noch leuchtet." (XIX*) So resümiert Philippi die kirchenhistorische Einmaligkeit dieses Vorgangs und damit auch dieser Dokumentation. Hier kommt nicht nur die Gesamtkirchengeschichte der Siebenbürger Sachsen in den Blick – gerade auch die lokalen Gemeindegeschichte(n) leuchten schlaglichtartig auf. Mit klaren Beobachtungsmustern und einer hohen Kenntnis eigener Volks- und Kirchengeschichte versehen, stellen die Visitationsberichte Bischof G. D. Teutschs eine einmalige Momentaufnahme des kirchlichen Lebens dieser Zeit dar. "Es ist erstaunlich, wie genau ... Teutsch registriert, was in jeder Gemeinde und was der Kirchenleitung zu heilen aufgegeben ist. Aber es ist noch viel erstaunlicher, wie er es versteht, seine Visitation zu einer echten Visite, zu einem festlichen Besuch zu machen, der jede Gemeinde und darüber hinaus das übergemeindliche Gemeinschaftsgefühl auferbaut. Gemeindepädagogik in Perfektion." (XVIII*)
Das Buch ist all denen zu empfehlen, die sich aus Interesse oder Neugier an der siebenbürgischen Kirche – oder einfach aus Liebe zu ihr – einen Einblick in das Umfassende wie in das reiche Detail verschaffen wollen.

Dr. Egbert Schlarb


(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 16 vom 15. Oktober 2001, Seite 10)

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