13. November 2001

"Eigen und Fremd"bei Joachim Wittstock

Der siebenbürgische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Dr. h.c. Joachim Wittstock las am 18. Oktober im Rahmen der Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturtage in München. In das Leben und Werk Wittstocks bezogen auf das Rahmenthema "Eigen und Fremd" führte der Literaturhistoriker Dr. Stefan Sienerth vom Institut für deutsche Kultur und Geschichte“ in München. Auszüge aus seinem Aufsatz werden im Folgenden abgedruckt.
Joachim Wittstocks Name hat in der rumäniendeutschen Gegenwartsliteratur nicht nur einen guten Klang, Joachim Wittstock ist auch für die Literaturlandschaft, aus der er kommt, die ihn prägte, die er in seinen literarischen Werken gestaltete und in der er, im Unterschied zu vielen anderen, die sie verlassen haben, auch weiterhin lebt, repräsentativ. Diesem Autor, den Kritiker und Leser nicht nur als beharrlichen und zähen Schreibarbeiter, sondern auch als Meister des gepflegten Wortes schätzen, wollen wir uns in der nun folgenden Stunde anvertrauen, wollen seine Darbietung genießen, seinen Gedankengängen zu folgen versuchen und uns an seinen Bildern, an seinen Gestalten wie an seinen Schilderungen und Beschreibungen erfreuen.
Udo W. Acker, stellvertretender Direktor im Haus des Deutschen Ostens in München (links) bedankt sich bei Joachim Wittstock (rechts) und Dr. Stefan Sienerth (Mitte) für den gelungenen Leseabend. Foto: Konrad Klein
Udo W. Acker, stellvertretender Direktor im Haus des Deutschen Ostens in München (links), bedankt sich bei Joachim Wittstock (rechts) und Dr. Stefan Sienerth (Mitte) für den gelungenen Leseabend. Foto: Konrad Klein

Während ich mir eine Zusammenstellung von Texten Joachim Wittstocks zum Themenkreis „Eigen“, mit dem ich in erster Linie Siebenbürgisches in all seinen Schattierungen und Spielarten verbinde, durchaus vorstellen kann, befällt mich demgegenüber, was die Texte zum Fragenkreis „Fremd“ anlangt, eine gewisse Beunruhigung. Sie hängt damit zusammen, dass ich den Autor eines gewissen „stofflichen Verrats“ verdächtige, eines Abdriftens seiner Themen. Man hatte sich nämlich daran gewöhnt, nicht nur den Literaturhistoriker, sondern auch den Schriftsteller Joachim Wittstock, bei all seiner Differenziertheit, was seine sprachlichen und künstlerischen Mittel angeht, stofflich und thematisch in Siebenbürgen, und zwar hauptsächlich in den historischen und landschaftlichen Gefilden seiner sächsischen Landsleute, anzusiedeln.
Doch diese Einschätzung, die bis 1989 eine gewisse Berechtigung besaß, bedarf der Korrektur. Ich erinnere bloß, ohne hier eine ästhetisch-kritische Wertung vorzunehmen, etwa an „Die dalmatinische Friedenskönigin“, eine Erzählung, in der der Autor Erfahrungen aus einem an der kroatischen Küste verbrachten Sommerurlaub des Jahres 1990 aufarbeitet und geschickt und glaubwürdig auf dem Hintergrund der nationalen Spannungen im ehemaligen Jugoslawien in die kriegerischen Auseinandersetzungen der Jahre 1991-1995 einbettet. Die von hieraus und auch von Rumänien aus weiter südlich gelegenen Landschaften, etwa jene Griechenlands, mit ihrer historischen und mythologischen Überlieferung, sind auch in das Blickfeld des Autors gerückt. 1997, anlässlich einer Germanisten-Tagung mit internationaler Beteiligung, fasste Joachim Wittstock mehrere Texte zu einer Suite zusammen: „Von Süden her“ betitelt. Ja sogar das nördlichere Europa, Dänemark etwa, ist in den letzten Bänden von Joachim Wittstock präsent. Und immer wieder ist es Mitteleuropa, sind es Deutschland und Österreich, die Joachim Wittstock zwar sprachlich und kulturell vertraut, aus der Sicht seines siebenbürgischen Wohnortes jedoch immer auch mit dem Nimbus des Fremden ausgestattet sind. Er erlebt und „erfährt“ diese Gegenden seit etwa Mitte der 80er Jahre, als er an wissenschaftlichen Tagungen und Lesungen teilnehmen bzw. ein Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung wahrnehmen durfte. Seine Eindrücke hat er, freilich vielfach gebrochen und dichterisch überhöht, in seiner Märchennovelle „Peter Gottliebs merkwürdige Reise“ festgehalten, in der er nicht nur dem Neuen und Fremden, sondern, in der Gestalt ehemaliger siebenbürgischer Freunde und Bekannten, auch dem Eigenen begegnete, das sich im neuen Umfeld freilich etwas „eigen“ und sonderbar ausnahm.
Doch es geht Wittstock, wenn er ans Fremde denkt, nicht allein um Regionen, Landschaften und Menschen, die von Siebenbürgen aus gesehen in etwas weiterer Ferne liegen. Wenn Joachim Wittstock seit 1990 über die Begriffe „Eigen“ und „Fremd“ nachdenkt und diese literarisch beschwört, beginnen die Trennungslinien unscharf zu werden. Das hängt nicht allein mit den seit damals zunehmend durchlässiger gewordenen Grenzen zwischen den europäischen Ländern zusammen, sondern vor allem mit den Veränderungen, die seit 1990 in Joachim Wittstocks engerem Lebenskreis stattfanden. Geht man Texte durch, die im letzten Jahrzehnt entstanden sind, begegnet man Stellen wie folgender: „Hier sind keine sächsischen Kinder“, sagt ein angesichts der Massenauswanderung um die Zukunft seiner Gemeinde besorgter Kurator, „nicht einmal ein einziges; und die Jugend hat keine Unterhaltung mehr gehabt und ist gezogen, und etliche junge Leute haben sich, wie man heute spricht, mit den Roma-Mädchen und -Burschen verheiratet, die werden wahrscheinlich bleiben. Viele Nachbarn sind schon weg, und obwohl manche in Deutschland zur Einsicht gelangen: Es war zu spät, dort hat man kein Eigentum, so ist doch nicht mit ihrer Rückkehr zu rechnen: Wer drüben ist, der ist drüben.“ (Zitat aus der titelgebenden Erzählung „Kurator, Söldner, Gouverneur“ des gleichnamigen Bandes, 1998 im Kriterion Verlag erschienen.) Oder ein anderes Zitat aus dem Band „Spiegelsaal“, 1994 ebenfalls bei Kriterion erschienen: „Aber dann erinnert sie sich der Diebe, die ihr ins Haus gedrungen sind, sie haben ihrem Mann einen ganzen Monatslohn gestohlen, man ist vor ihnen nicht mehr sicher, man kann schon gar nicht mehr aufs Feld gehen, ohne befürchten zu müssen, dass einem die Wohnung ausgeraubt wird. Und der Nachbar sagt, in diesem Frühjahr haben viele die Felder nicht mehr angebaut, sie ziehen sowieso weg, und alle Handwerker haben das Dorf preisgegeben, und der Pfarrer ist auf Reisen gegangen, mit Frau und Kind, und ist nicht wiedergekommen ...“
Lässt sich daraus schließen, dass die dem Autor einst so vertraute und fest gefügte Welt zunehmend unvertrauter wird? Ist dem heimatversessenen Schriftsteller, der, wo immer er in Siebenbürgen bislang den Fuß aufsetzte, die Sicherheit heimatlichen Bodens zu spüren bekam, das Nahe zum Fremden geworden?
Doch bei allen Entfremdungserfahrungen, denen der Autor seit 1990 zunehmend begegnet, ist er weiterhin bestrebt, sein Umfeld nach Zeichen abzutasten und Anhaltspunkte zu finden, die ein Leben in Siebenbürgen lebenswert machen. So klingt der bereits erwähnte Prosatext „Kurator, Söldner, Gouverneur“ eigentlich als Loblied auf die Bodenständigen, die nicht zu Eilfertigen aus. Die Sympathie des Autors gehört denen, die „in ihrer Gemeinde verbleiben“ und nicht verzagen. Das erzählende Ich fühlt sich jenen Bauern verbunden, „die sich nicht zum Wegziehen, sondern zur Arbeit in einem landwirtschaftlichen Verein entschlossen haben“, oder jenen flexiblen tatkräftigen Frauen, die es „in der kürzesten Zeit erlernt haben, Injektionsspritzen zu verwenden und Hilfs- und Pflegedienste zu leisten.“
Es sind freilich nicht viele der Argumente, die der Autor überzeugend ins Feld führen kann, auch ist es nicht die Art des Autors damit aufzutrumpfen. Er tut es auf die ihm angemessene Weise, eher behutsam, und er entgeht dadurch auch einer Schwarz-weiß-Zeichnung der Verhältnisse. Typisch scheint mir in dieser Hinsicht eine Geschichte zu sein, die Joachim Wittstock „Achim (Ost) an Bettina (West)“ betitelt und die sich zum guten Teil aus Zitaten aus der Korrespondenz des Schriftstellers Achim von Arnim von seinem brandenburgischen Gut in Wiepersdorf an seine hauptsächlich in Berlin wohnende und wirkende Frau Bettina von Amim, geborene Brentano, zusammensetzt. In den Briefen Arnims an seine Frau sieht Joachim Wittstock nicht nur die Zerrissenheit zwischen der traditionellen Lebensweise der gutsherrlich-bäuerlichen und der urbanen Zivilisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts, sondern auch eigene siebenbürgische Erfahrungen gespiegelt: „Schimpfe nicht auf mein armes Gut bei den Leuten und verhöhne es nicht, es tut mir wehe. Unser ,Ländeken‘ – ist es nicht Jahrzehnte hindurch für viele eine Heimstatt gewesen? [...] Auch andere haben in dem Ländeken Freud und Leid erfahren, die man ihnen nicht nehmen darf, weil sonst der Ertrag gering wäre ... Ich habe keine Eitelkeit auf dieses Land, aber ich weiß doch wohl, dass Gras und Bäume hier grün sind, und der Himmel blau ist, und das Gefühl von Eigentum soll niemand kränken.“

Stefan Sienerth


(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 18 vom 15. November 2001, Seite 8)

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