12. August 2000

Rentenkürzungen sind verfassungswidrig

Das Bundessozialgericht in Kassel hat die Begründung zu seinem am 16. Dezember 1999 gefällten Urteil über die Rentenkürzungen bei Spätaussiedlern veröffentlicht. Darin wird zu den von der Regierung Kohl 1996 im Bundestag durchgesetzten Gesetzesbestimmungen festgestellt, dass sie gegen die verfassungsmäßig verankerte Eigentumsgarantie, gegen das Übermaßverbot, den Vertrauensschutz und den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen.
Bundesverfassungsgericht begründet seinen am 16. Dezember 1999 erlassenen Beschluss und legt die Akte dem Bundesverafassungsgericht vor

Von Rechtsanwalt Bernd B. F a b r i t i u s , stellvertretender Bundesvorsitzender der Landsmannschaft

Bekanntlich hat der 4. Senat des Bundessozialgerichts in Kassel am 16. Dezember letzten Jahres in einem einschlägigen Beschluss die vierzigprozentige Kürzung von Rentenanwartschaften bei Spätausssiedlern für "verfassungswidrig" erklärt (diese Zeitung berichtete). Gegen den noch im September 1966 unter der Regierung Kohl mit ihrer Kanzlermehrheit im Bundestag durchgesetzten Eingriff in die Rechte der Betroffenen hatte in mehreren Fällen die von der Landsmannschaft initiierte Interessengemeinschaft geklagt. Nach der Beschlussfassung war in Kassel, wie das allgemein üblich ist, zunächst nur eine knappe Pressemitteilung ergangen. Inzwischen hat nun das Bundessozialgericht auf 73 Seiten und in einer Vielzahl von Anlagen dazu die entsprechende Begründung seines Vorlagebeschlusses nachgereicht, der dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zugeht. Darin wird festgestellt, die seinerzeit verhängte Kürzung verstoße gegen die Eigentumsgarantie, das Übermaßverbot, den Vertrauenschutz und den Grundsatz der Gleichbehandlung.

In ihrer Begründung kommt die oberste Instanz der Sozialgerichtsbarkeit in Deutschland zunächst zum Ergebnis, dass "Anwartschaftsrechte" in der gesetzlichen Rentenversicherung der so genannten Eigentumsgarantie unterfallen und diese bei den Kürzungsvorschriften nicht ausreichend beachtet worden ist.
Nicht jede Anwartschaft ist jedoch schon ein Anwartschaftsrecht. Die Entstehung eines solchen geschützten Rechtes erfordert nämlich einen bestimmten "Grad der Verfestigung und Konkretisierung", so dass es "Grundlage von Vermögensdispositionen des Berechtigten sein kann". Dieses soll, so das Bundessozialgericht, in dem zur Entscheidung angestandenen Fall gegeben sein, da die betroffene Person bei Inkrafttreten der Kürzung zum 1.10.1996, als die Kürzung in Kraft trat, schon das 55. Lebensjahr vollendet hatte. Auf das 55. Lebensjahr war in diesem Falle deswegen abzustellen, da zu diesem Zeitpunkt Betroffene gemäß § 109 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VI eine Auskunft erhalten, die nur vordergründig allein der Information der Versicherten dient, dem Einzelnen aber immer noch ermöglichen soll, "die weitere Vorsorge für sein Alter für sich und seine Familie berechenbar gestalten zu können". Nach Auffassung des Bundessozialgerichts soll dafür ein Zeitraum von zehn Jahren vor dem Rentenbeginn erforderlich sein, in welchem eine alternative Alterssicherung aufgebaut werden kann. Diese Wertentscheidung sei auch Grundlage für §109 SGB VI gewesen.
Zu beachten ist hierbei jedoch, dass nur die wenigsten Berechtigten tatsächlich erst zum 65. Lebensjahr in Rente gehen und daher die zehnjährige Vorlaufszeit in den wenigsten Fällen gewahrt ist. Dieses hat auch das Bundessozialgericht so gesehen und ausdrücklich offen gelassen, ob nicht auch schon vor dem 55. Lebensjahr - etwa bereits ab dem 50. Lebensjahr - eine derart geschützte Rechtsposition vorliegen könnte. Gründe dafür könnten darin gesehen werden, dass viele Versicherte vorgezogene Altersrenten in Anspruch nehmen und der Prognosezeitraum für die Gestaltung der eigenen Altersvorsorge damit nicht ausreichen könnte. Auch aus § 154 SGB VI, der für die gesetzliche Rentenversicherung einen Prognosezeitraum von 15 Jahren vorschreibt, können Anhaltspunkte für den Zeitpunkt der Entstehung eines Anwartschaftsrechtes in der gesetzlichen Rentenversicherung hergeleitet werden. Diese und andere Überlegung sprechen dafür, schon vor dem 55. Lebensjahr eine im Sinne eines Anwartschaftsrechtes verfestigte Rechtsposition anzunehmen, die den Schutz der Eigentumsgarantie genießt.
Weiter hat das Bundessozialgericht ausgeführt, dass die Kürzungsvorschriften eine Ungleichbehandlung der Betroffenen begründen, die nicht gerechtfertigt sei. Es käme zu einer Ungleichbehandlung zwischen Inhabern gleicher Anwartschaftsrechte im Bereich der Rentenversicherung im Allgemeinen, aber auch innerhalb des Kreises der Personen mit Zeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG), also der Aussiedler.
Auch würden die Kürzungsvorschriften das Übermaßverbot verletzen und den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht genügen, weil sie die Betroffenen "übermäßig und in unzumutbarer Weise belasten".
Letztlich sei der in der Eigentumsgarantie in besonderem Maße verankerte Vertrauensschutz verletzt. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber bei Schaffung der 30-Prozent-Kürzung dieses Vertrauen gerade bestätigt hatte. Diese Kürzung habe nämlich nur bei Neuzuzügen Anwendung gefunden. Alle vor Schaffung der 30-Prozent-Kürzung zugezogenen Personen waren nämlich von dieser Kürzung ausgenommen. Wenn nun die 40-Prozent-Kürzung mit einer "unechten Rückwirkung" ausgestattet sei, so würde dadurch der bei der Schaffung der 30-Prozent-Kürzung bestätigte Vertrauensschutz verletzt werden.
Es bleibt nun abzuwarten, wie das Bundesverfassungsgericht die von der Instanz in Kassel aufgeworfenen Fragen bewertet, da es allein berechtigt ist, über eine mögliche Gesetzesänderung zu entscheiden. Auf jeden Fall aber sollte diese Entscheidungsfindung seitens der landsmannschaftlichen Interessengemeinschaft gegen die Fremdrentenkürzungen weiterhin mit Rechtsgutachten begleitet werden, in welchen die Auffassung des Bundessozialgerichts stützende oder erweiternde Gründe aufgezeigt werden.

Vertrauensschutz auch in anderem Zusammenhang bestätigt

Hingewiesen sei hier noch auf eine andere Entscheidung des Bundessozialgerichts, in welcher der Vertrauensschutz in besonderer Weise bestätigt worden ist, was Handlungsbedarf bei Betroffenen begründen könnte:
Nach dem bisher bei Rententrägern herrschenden Verständnis zum Besitzschutz gemäß § 88 SGB VI wurden im Falle von Neufeststellungen zwar vorherige Fehler korrigiert (z.B. nachträgliche Anerkennung von 6/6-Werten bei Vorlage genauer Unterlagen mit monatlichen Angaben zu Lohnunterbrechungen), die Auswirkungen dieser Verbesserungen auf die Rentenhöhe jedoch mit Einbeziehung aller neuen Kürzungsvorschriften weitgehend aufgehoben (§ 300 SGB VI). So konnte es dazu kommen, dass trotz Anerkennung weiterer Zeiten oder Sachverhalte die Rente um keinen Pfennig angehoben wurde.
Durch eine neue Entscheidung hat das Bundessozialgericht nunmehr am 1.12.1999 (AZ. B 5 RJ 20/98) festgestellt, dass die Rentenbehörden verpflichtet sind, mindestens die bei der vorherigen (ersten) Rentenberechnung ermittelten Entgeltpunkte nach den neuen Sachverhaltsergebnissen zu berichtigen, die Verbesserungen in den Besitzschutz mit einzubeziehen und höhere Renten auszubezahlen.
Sofern also Betroffene in der Vergangenheit Verfahren zur Anerkennung weiterer Sachverhalte oder zur Rentenerhöhung aus anderen Gründen (§ 44 SGB X) erfolgreich durchgeführt haben, ohne jedoch auch eine Rentenerhöhung angewiesen bekommen zu haben, sollten diese nun unter Hinweis auf die neue Rechtsprechung eine Prüfung der Rentenhöhe beantragen. Sofern die Verfahren vorher von rechtlichen Vertretern (Rechtsanwälten oder Rentenberatern mit Erfahrungen im Fremdrentenrecht) geführt wurden, sollte bei diesen unter Hinweis auf die neue Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eine erneute Prüfung des Verfahrens in Auftrag gegeben werden.

Siebenbürgische Zeitung, 15. August 2000

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