17. Juli 2002

Freudenmesse im Handgepäck

Kantorei des Hilfskomitees der Siebenbürger Sachsen und Evangelischen Banater Schwaben sowie Chorgemeinschaft aus Rottenburg auf Konzertreise nach Tschechien
Kafka war hier zu Hause. Da, über die Brüstung der Karlsbrücke gelehnt, muss er gestanden und hinab ins Wasser der Moldau geblickt haben, in der sich die weißen Wolken spiegelten. „Prag lässt mich nicht los“, hat er geklagt. Hätte er die Touristenmasse, die täglich in die Hauptstadt Tschechiens strömt, und die sich in den Kneipen rund um den Rathausplatz bis in die Morgenstunden vergnügt, erlebt, er hätte diesen Satz vielleicht so nie gesagt. Und dann die inflationäre Ansammlung von Kunstmalern auf der Brücke, die Brad Pitts oder Melanie Griffiths Konterfei feilbieten - er wäre sicher geflüchtet. Es gibt selbstverständlich auch das andere Prag, neben dieser Ware auch die wahre Kunst. Die finden wir in den vielen Museen, Palästen und Kirchen. Und unter den konsumsüchtigen Touristen oben auf der Burg oder in den engen Gassen der Innenstadt entdecken wir auch Reisende, die etwas anderes suchen. Ein Beispiel dafür sind die Chormitglieder der Städtischen Musikschule und der Siebenbürgischen Kantorei. Sie suchen auf ihren Auslandsreisen immer auch den kulturellen Dialog. In den Pfingstferien war es auch so. „Wir verstehen unsere Konzertreise als Brückenschlag zur Völkerverständigung“, sagt die Leiterin Ilse Maria Reich.
Freuten sich auf die Heimreise nach einer erfolgreichen Konzertournee: Die Mitglieder der beiden Chöre, die Instrumentalisten zusammen mit ihrer Leiterin Ilse Maria Reich (erste Reihe, Fünfte von links). Foto: Christoph Reich
Freuten sich auf die Heimreise nach einer erfolgreichen Konzertournee: Die Mitglieder der beiden Chöre, die Instrumentalisten zusammen mit ihrer Leiterin Ilse Maria Reich (erste Reihe, Fünfte von links). Foto: Christoph Reich

Prag war die letzte Station ihrer einwöchigen, überaus erfolgreichen Konzertreise. Im Handgepäck hatten sie Ralf Grösslers Gospelmesse „Mass of Joy“ für Solo, zwei Chöre und Orchester mitgenommen. Doch viel gewichtiger war das dafür benötigte Instrumentarium, wie E-Piano, Drum-Set, Pauken, Cello, Saxophon, Stative, Mikrofon oder Boxen, das im Anhänger des Doppelstockbusses verstaut werden musste. Nahe der „Jüdischen Stadt“, vor der evangelischen St. Salvator Kirche packten sie ein viertes und letztes Mal ihre Instrumente aus, bauten sie in der Kirche auf und stimmten die Mikros auf den halligen Raum ab. Ein eingespieltes Auf- und Abbauteam. Soweit kein Problem. Diese Konzertreise barg trotzdem mehrere Risikofaktoren. Gleich drei Premieren prasselten auf die Mitwirkenden dieser Konzertreise ein: zwei Chöre, die sich erst ein paar Tage vor der Abfahrt bei den Proben in Rottenburg kennen gelernt hatten, ein fremdes Land, in dem organisatorische Überraschungen einkalkuliert werden müssen und ein unbekannter Komponist, von dessen Gospelmusik man nicht weiß, wie sie von Konzertbesuchern angenommen wird.

Die Leiterin Ilse Maria Reich hatte es aber bestens verstanden, die Chorgemeinschaft aus Rottenburg und die Siebenbürgische Kantorei, deren Mitglieder aus allen Ecken Deutschlands kommen, zu einem Klangkörper zu formen. Den Swing haben sie alle drauf; den Rottenburgern noch von ihrer letzten Konzertreise nach Rumänien bestens im Ohr. Es gab auch keine organisatorischen Probleme: die festgelegten Proben- und Auftrittstermine konnten eingehalten werden, Übernachtungen, Mittagessen und Stadtführungen verliefen meistens nach Plan. Lediglich mehr Konzertbesucher hätte die mitreißende Freudenmesse Grösslers in Krumau und Prag verdient. Überwiegend waren es Tschechen, Japaner und Engländer, die nicht der souligen Gospelmesse mit ihren vielen Jazz-Elementen, Fugen und gregorianischen Passagen widerstehen konnten. Begeistert applaudierten die Zuhörer der hervorragend gelaunten Vokalsolistin Klaudia Salkovici, der Dirigentin Ilse Maria Reich, dem technisch bestens aufspielenden Orchester, und der Applaus galt auch den beiden Chören, die mit homogenem Klang und guter Aussprache auffielen. Die Zugaben blieben nicht aus.

Nahe der „Jüdischen Stadt“, in der evangelischen St. Salvator Kirche: Nach dem Schlussakkord packten sie das letzte Mal ihre Instrumente ein. Danach tauchten viele Musiker ins Prager Nachtleben unter und begannen Kafka zu verstehen: „Prag lässt mich nicht los!“

Christoph Reich


(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 11 vom 15. Juli 2002, Seite 7)

Artikel zu ähnlichem Thema:

Beschwingt geswingt in Dinkelsbühl, 2002, Siebenbürgische Zeitung Online, 30. Juni 2002

Bewerten:

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.