17. September 2002

Wirtschaftswissenschaftler Hermann Gross gestorben

Am 14. August 2002 verstarb in Gauting bei München, wenige Monate vor der Vollendung seines einhundertsten Geburtstages, Professor Dr. Hermann Gross, der weit über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinaus bekannte und geschätzte Wirtschaftswissenschaftler und Hochschullehrer.
Hermann Gross kam am 23. Januar 1903 in Kronstadt als ältestes dreier Kinder des Gymnasialdirektors Julius Gross und seiner Ehefrau Marie, geb. Tonisch, zur Welt. Am Honterusgymnasium legte er 1922 die Reifeprüfung ab. Zwischen 1922 und 1928 studierte Gross in Leipzig Handelswissenschaften, Volkswirtschaft, Staats- und Rechtswissenschaften. 1924 erwarb er an der dortigen Handelshochschule den Grad eines Diplomkaufmanns, 1925 an der Universität den eines Diplomvolkswirts. 1927 erfolgte seine Promotion zum Dr. rer. pol. mit einer Arbeit über deutsch-rumänische Wirtschaftsbeziehungen.
Hermann Gross mit seiner Frau Gertrud auf der Terasse seines Hauses in Gauting (1998). Foto: Konrad Klein
Hermann Gross mit seiner Frau Gertrud auf der Terasse seines Hauses in Gauting (1998). Foto: Konrad Klein

Es folgten Jahre fruchtbarer wissenschaftlicher Tätigkeit, zuerst in Kiel, wo Hermann Gross als Assistent an der renommierten Bibliothek des Instituts für Weltwirtschaft und Seeverkehr der Universität wirkte, danach in Leipzig, wo er zwischen 1929 und 1939 als stellvertretender Direktor den Aufbau des Instituts für Mittel- und Südosteuropäische Wirtschaftsforschung an der Universität Leipzig maßgeblich mitgestaltete. Dort habilitierte er sich 1936 mit einer grundlegenden Arbeit über Fragen der Wirtschaftsentwicklung in Südosteuropa. Unter dem Titel „Südosteuropa. Bau und Entwicklung der Wirtschaft“ erschien die Habilitationsschrift in der Reihe der Beihefte zur „Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa“ 1937 im Leipziger Universitätsverlag von Robert Noske.

Ebenfalls 1937 richtete Gross an der Philosophischen Fakultät der Leipziger Universität das Südosteuropa-Institut als fakultätsübergreifende Forschungsorganisation ein. Er selbst übernahm in diesem - dank seiner fachübergreifenden Konzeption zukunftsweisenden Institut - die Leitung der Wirtschaftsabteilung. Mit dem Ausbruch des Krieges ging Hermann Gross nach Wien, wo er von 1939 bis 1945 als Leiter der Wiener Zweigstelle der volkswirtschaftlichen Abteilung der IG-Farbenindustrie A.G. tätig war. An der Wiener Hochschule für Welthandel und an der Universität bekleidete er ab 1943 eine Professur für Volkswirtschaftslehre, die mit einem Lehrauftrag für die Wirtschaft Mittel- und Südosteuropas einherging.

Nach Kriegsende wirkte Hermann Gross zunächst als Abteilungsleiter am Kieler Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr und von 1948 bis 1962 als wissenschaftlicher Dezernent am Institut für Weltwirtschaft der Universität Kiel. 1962 folgte er schließlich dem Ruf der Staatswirtschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München auf den dort neu eingerichteten Lehrstuhl für Wirtschaft und Gesellschaft Südosteuropas. Neben zahlreichen Gastvorlesungen im In- und Ausland wirkte Gross auch als Gastprofessor an der Münchner Hochschule für Politik und 1967 an der University of Georgia in Athens, Georgia, USA.

Die Liste seines wissenschaftlichen Oeuvres reicht von länderübergreifenden, pluridisziplinären Untersuchungen zum südosteuropäischen Wirtschaftsraum und zur Donauschifffahrt bis hin zu Fragen des Ost-West-Handels und der deutsch-rumänischen Wirtschaftsbeziehungen. Im Laufe seines langen Lebens wurden Hermann Gross zahlreiche hohe Ehrungen zuteil: Er erhielt das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, den Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreis und die Konstantin-Jireček-Medaille der Südosteuropa-Gesellschaft. Er war Mitglied vieler wissenschaftlicher Gesellschaften, wie (vor 1945) der Deutschen Akademie in München, der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde und der Studiengesellschaft für Fragen mittel- und osteuropäischer Partnerschaft. Ganz besonders lag ihm die Südosteuropa-Gesellschaft mit Sitz in München am Herzen, die er 1952 mitbegründete und an deren Veranstaltungen er als langjähriger Vizepräsident und späterer Ehrenpräsident, solange dies seine Kräfte erlaubten, regen Anteil nahm.

Jenseits der in herausragenden Funktionen tätigen und vielfach geehrten offiziellen Person verleugnete der Mensch Hermann „Sascha“ Gross nie seine spezifische, in Siebenbürgen verwurzelte, von der kulturellen Vielfalt Südosteuropas geprägte und in Deutschland beheimatete Identität. Dank der breiten Themenpalette seiner Forschertätigkeit, seiner vielen und über die Jahrzehnte hinweg sorgsam gepflegten Kontakte zu Kollegen und (ehemaligen) Studenten in aller Welt und nicht zuletzt dank seiner legendären Mehrsprachigkeit war Hermann Gross zu einem - Ost und West gleichermaßen umfassenden - Europäer und Weltbürger geworden.

Nach einem Sturz, der den weiteren Verbleib in der gewohnten häuslichen Umgebung in der Gautinger Sonnwendstraße unmöglich gemacht hatte, verbrachte Hermann Gross seine beiden letzten Jahre im dortigen Marienstift. Familie und Freunde empfing er in dem persönlich ausgestatteten kleinen Raum, den er bezogen hatte. Bei gutem Wetter durften sie ihn in den gepflegten kleinen Park der Stiftsanlage begleiten. Dem allmählichen Nachlassen seiner Kräfte begegnete er mit bewundernswerter Haltung und ungebrochenem Lebenswillen. Seine Frau Gertrud verbrachte täglich mehrere Stunden in seiner Nähe, rührend und aufopferungsvoll um ihren Mann bemüht. Die letzten Jahre waren für Familie und Freunde zu einem langsamen Abschiednehmen von dem einst so kraftvollen Mann geworden. Wenige Wochen vor seinem Tode durfte Hermann Gross sich noch über die Hochzeit seines Sohnes Andreas freuen, der - wie vormals er selbst - erst knapp 50-jährig vor den Traualtar getreten war.

Hermann Gross wurde am 19. August 2002 in aller Stille im engsten Familienkreise in Gauting beigesetzt. Non omnis moria.

Anneli Ute Gabanyi


(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 14 vom 15. September 2002, Seite 6)

Weitere Artikel über Hermann Gross:

Hermann Gross: Nestor der südosteuropäischen Wirtschaftsforschung, SbZ-Online vom 25. September 2001

Siebenbürgisches Ehepaar auf Sat 1, SbZ-Online vom 26. Oktober 2001

Ältester siebenbürgisch-sächsischer Kulturpreisträger, SbZ-Online vom 27. Februar 2002

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