27. August 2004

Zeitdokument: "Abschied von Burghalle"

In seiner Anmoderation zur Veranstaltung „Zeitzeugen erinnern sich“ bezifferte Pfr. i.R. Kurt Franchy die Zahl jener Menschen, die, um der heranrückenden Roten Armee zu entkommen, ihre angestammte Heimat verließen, auf 45 703. In der Mehrzahl der Fälle habe es sich weniger um Flucht, denn um ein „generalstabsmäßig geplantes Unternehmen“ gehandelt. Wie Franchy ausführte, haben Ortsvorsteher, Bürgermeister, Pfarrer und Lehrer in jedem Ort plangemäß den Treck in Bewegung gesetzt, sei es per Pferdewagen, Zug oder Lkw. Dieses Schicksal ereilte auch Käthe Lörinz aus Burghalle am 18. September 1944. Bianca Poschner las die (im Heimatbuch der Gemeinde Burghalle abgedruckten) Erinnerungen ihrer Großtante vor, die im Folgenden wiedergegeben werden.
Eine reiche Ernte hatte uns der liebe Gott in diesem Jahr geschenkt. Wir waren noch emsig daran, die Getreideernte einzubringen, die noch in Haufen auf dem Feld stand. Am 16. September erhielten wir von der Gebietsführung Bistritz den Befehl, dass wir am 18. September unsere Gemeinde verlassen müssen. Dieser Befehl traf uns wie ein Bombenschlag. Die Leute wussten nicht, was sie einpacken und mitnehmen sollten. Uns wurde gesagt, dass wir uns mit Lebensmitteln für sechs bis sieben Wochen versorgen sollen, ebenso mit Futter für die Pferde. Noch am selben Tag schlachteten die Leute. Das Fleisch wurde gebraten, in große Töpfe gelegt und wegen der Haltbarkeit mit Fett übergossen. In der Mühle liefen beide Mühlsteine auf Hochtouren, damit jeder genügend Mehl mitnehmen konnte. Nur das Notwendigste durfte eingepackt werden. Was konnte man schon auf einen Wagen laden, auf dem Großeltern, Eltern und Kinder Platz haben mussten.




Bianca Poschner liest aus dem Bericht ihrer Großtante Käthe Lörinz. Unter der sachkundigen wie sensiblen Moderation von Pfarrer i.R. Kurt Franchy (links) - der gebürtige Bistritzer hat die Evakuierung nach Österreich als Neunjähriger selbst miterlebt - erinnerten am Pfingstsonntag in Dinkelsbühl vier Zeitzeugenberichte an die dramatischen Geschehnisse von Flucht und Evakuierung der Deutschen Nordsiebenbürgens und einiger südsiebenbürgischer Gemeinden vor 60 Jahren. Foto: Christian Schoger
Bianca Poschner liest aus dem Bericht ihrer Großtante Käthe Lörinz. Unter der sachkundigen wie sensiblen Moderation von Pfarrer i.R. Kurt Franchy (links) - der gebürtige Bistritzer hat die Evakuierung nach Österreich als Neunjähriger selbst miterlebt - erinnerten am Pfingstsonntag in Dinkelsbühl vier Zeitzeugenberichte an die dramatischen Geschehnisse von Flucht und Evakuierung der Deutschen Nordsiebenbürgens und einiger südsiebenbürgischer Gemeinden vor 60 Jahren. Foto: Christian Schoger



Die Männer richteten die Wagen her. Die Räder wurden zum Teil neu bereift. Planen zum Schutz über die Wagen gespannt, einige Pferde neu beschlagen. Das alles musste in Windeseile geschehen. In vielen Familien fehlte der Vater oder der Sohn. Sie waren an der Front und kämpften, wie es damals hieß, für Führer, Volk und Vaterland. Bei diesen Familien halfen Verwandte oder Nachbarn aus, denn alle Familien sollten mit einem Pferdewagen, keine mit einem Kuh- oder Ochsengespann aus Burghalle abreisen.

Soll das wirklich das Ende sein?


Am 17. September um 10 Uhr läuteten die Glocken zum letzten Gottesdienst in unserer schönen Kirche, die an diesem Sonntag voll besetzt war. Pfarrer Rehbogen hielt die Abschiedspredigt und bat Gott, dass er uns auf dem schweren Weg, den wir antreten mussten, beschütze. Lautes Weinen erfüllte die Kirche, keiner konnte verbergen, was ihn in dieser Stunde bewegte. Anschließend wurden die letzten Vorbereitungen getroffen. Von der Kirchen- und Gemeindeverwaltung wurde der Treck zusammengestellt und die Reiseroute bekannt gegeben. Der Ortsleiter wurde zum Treckführer bestimmt. Ein Offizier der Deutschen Wehrmacht sowie vier Soldaten aus unserer Gemeinde, die zur Zeit im Fronturlaub waren, sollten uns begleiten. Es waren Peter Horeth, M. Hesch und die beiden Brüder Johann und Michael Horeth.

Der 18. September brach an. 70 Wagen aus unserer Gemeinde waren schwer beladen und standen zur Abfahrt bereit. Um 11 Uhr läuteten die Glocken zum Abschied. Noch einmal gingen wir durch Haus, Hof, Stall und Garten und nahmen Abschied von allem, was uns lieb und treu war. Beim letzten Gang durch den Stall überkamen auch meinen sonst so sachlichen und abgeklärten Vater Georg Poschner melancholische Gefühle. Unsere Kühe blickten uns an, als wüssten sie: Das ist ein Abschied für immer. Diese Blicke, das leise Murren des Viehs - es war, als würde unser Herz zerbrechen. Man ließ noch einmal alles an sich vorüberziehen. Es waren doch die schönsten und glücklichsten Jahre, die man in dem Elternhaus erlebt hatte. Alle fragten sich: Soll das wirklich das Ende sein? Dann setzten sich die Wagen in Bewegung. Mit den Worten „Herr, hilf uns auf diesem schweren Weg, den wir antreten" verließen wir den Hof. Von der Kirche nahmen wir Abschied, ebenso wie von den vielen Rumänen und Zigeunern, die teilweise weinten. Langsam setzte sich der Treck in Bewegung. Die Glocken klangen immer trauriger und begleiteten uns am Friedhof vorbei, wo wir zum letzten Mal an die Gräber unserer Verstorbenen gingen und Abschied nahmen. Wir mussten sie zurücklassen, sie, die, uns den Weg ins Leben gebahnt hatten. Wir sprachen noch ein letztes Gebet. Dann verließen wir für immer diese stille Stätte. Auf unserem Fluchtweg fuhren wir ein letztes Mal über unseren schönen Hattert in Richtung Senndorf. Immer noch hörten wir die Glockentöne, es war, als riefen sie uns zu: „Kommt doch zurück!"

Unsere Blicke kehrten immer wieder zurück nach Burghalle. Als wir von der Budakerhöhe unser letztes Lebewohl riefen, überfiel uns zum ersten Mal das Gefühl, heimatlos zu sein. Angst und Traurigkeit erfüllten unsere Herzen. Tränen flossen über unsere Wangen. Unser Weg führte uns über Bistritz bis nach Schönbirk, wo wir unsere erste Nacht unter freiem Himmel verbracht haben. Trotz Müdigkeit konnte kaum jemand schlafen. Überall hörte ich Geflüster, Kinder weinten und jammerten. Dann brach der nächste Tag an. Nachdem wir das Vieh gefüttert und gefrühstückt hatten, ging unsere Reise Richtung Blasendorf und Bethlen weiter. In Felör verbrachten wir unsere zweite Nacht. Am nächsten Tag wurde die Reise mühsam. Wir mussten über das Sapunscher Gebirge, doch die Wagen waren sehr schwer beladen, und die Pferde hatten große Mühe, die Last den steilen Berg hinaufzuziehen. Viele Leute mussten einen Teil ihres Gepäcks abladen und liegen lassen, denn sonst hätten sie im Treck nicht mithalten können.

Als wir schließlich in Magyarlapos ankamen, wollten wir bei den Bauern Lebensmittel und Futter für die Pferde kaufen. Doch die Ungarn waren uns nicht freundlich gesinnt. Sie schickten uns fort und wollten nichts verkaufen. Enttäuscht gingen wir zu unseren Wagen zurück, wo in der Zwischenzeit Achsen und Räder ausgetauscht sowie Pferde neu beschlagen worden waren. Dann ging es weiter durch Ungarn in Richtung Nagykároly. Dort übernachteten wir und bekamen zum ersten Mal warme Verpflegung von der Deutschen Wehrmacht.

Tagelang ging es so weiter durch viele Städte und Dörfer. In Tiszafüred machten wir zwei Tage Pause, damit sich die Pferde erholen konnten. Hier konnten wir beobachten, wie der Rückzug der Deutschen Wehrmacht einsetzte. Nachdem die Hauptstraßen nur von der Deutschen Wehrmacht befahren werden durften, waren wir gezwungen, nachts auf zum Teil sehr schlechten Nebenstraßen weiterzufahren. Bei Gran überquerten wir die Donau und fuhren weiter bis Bellet. Dort mussten wir drei Wochen auf den Befehl zur Weiterfahrt warten. Am 3. November 1944 konnten wir dann Richtung Ödenburg weiterfahren. Nachmittags um 17 Uhr fuhren wir über die Grenze. Freude und Erleichterung spiegelte sich in unseren Gesichtern wieder und wir dankten Gott, dass wir endlich deutschen Boden unter den Füßen hatten. Hier würden wir verpflegt und eine Unterkunft erhalten, dachten wir. In Eisenstadt sollten wir die erste Nacht auf deutschem Boden verbringen. Doch welch große Enttäuschung! Die Leute wollten uns nicht in die Häuser lassen, so dass wir ins Nachbardorf weiterfahren mussten. Dort durften Frauen, Kinder und ältere Leute in den Häusern übernachten.

Kälte, Tiefflieger und reißende Flut


Am 5. November überraschte uns der erste Schnee. Kälte und Wind brachen über uns herein und wir hatten nur einen Wunsch, endlich in einem warmen Zimmer wie ein normaler Mensch zu wohnen und zu schlafen. Zwei Tage später kamen wir dann endlich in Nikolsburg im Sudetenland an. Dort wurden wir auf sieben Gemeinden verteilt, wo wir sehr freundlich aufgenommen wurden. Uns wurden schöne Wohnungen zugeteilt und Lebensmittelversorgungskarten gegeben. Wir erhielten Heizmaterial und auch sonstige Sachen, an denen es uns fehlte. (…) Nach einigen Wochen hörten wir schon wieder das Donnern der Geschütze und mussten erneut vor den Russen flüchten. Das war nicht einfach, da wir einen Teil unserer Pferde verloren hatten. Am 8. April griffen wir erneut zum Wanderstab und zogen weiter. Alle unsere Leute wurden verständigt, damit wir gemeinsam aufbrechen konnten. Nur Familie Hendel konnte nicht mit uns abreisen. Ihre 19-jährige Tochter Maria starb plötzlich an Scharlach und deshalb konnten alle Burghaller, die dort wohnten, nicht wegfahren bis die Beerdigung vorbei war. Wir mussten uns von den anderen trennen und haben uns nie mehr getroffen.

Von unserem Besitz mussten wir viel zurücklassen, denn auf die Reise konnten wir wieder nur das Nötigste mitnehmen. Unser Plan war, Österreich zu verlassen und nach Deutschland zu fahren. Unter schwierigsten Verhältnissen setzten wir unsere Flucht fort. Unter mehrfachen Tieffliegerangriffen fuhren wir in Richtung Schärding, wo wir den Inn überqueren wollten. In einem kleinen Wäldchen, einige Kilometer vor Schärding, wurden Frau Ungar und ein Pferd von Tieffliegern erschossen. In Schärding mussten wir über eine Brücke. Der Inn war reißend und die Brücke bewegte sich hin und her. Die Pferde wollten nicht hinüber und scheuten vor der Wasserflut. Auch die Angst vor den Fliegern steckte uns immer noch in den Knochen, und deshalb waren alle froh, als wir das andere Ufer erreicht hatten. Nun fuhren wir in Richtung Passau und hofften, dort über die Donaubrücke zu kommen, bevor sie gesprengt würde. Dies gelang uns. Einige Stunde später flog sie dann in die Luft.

Am 5. Mai 1945 rollten noch deutsche Panzer an uns vorbei. Wir mussten wieder von der Hauptstraße runter und verteilten uns auf die Bauernhöfe in der nächsten Umgebung. Eine Nacht später fuhren schon amerikanische Kampfeinheiten auf der Hauptstraße vorbei. Wir fragten uns, wie es weitergehen soll und was aus uns werden solle. Die amerikanische Militärregierung veranlasste unsere Niederlassung in Bayern im Kreis Grießbach. Dort fanden wir unter ärmlichen Verhältnissen Unterkunft. Die Bauern waren uns nicht gerade freundlich gesinnt, zumal die Bevölkerung überwiegend katholisch war, wir aber evangelisch. Da gab es schon auf diesem Gebiet Differenzen. Einmal im Monat durften wir einen Gottesdienst in ihrer Kirche in Haarbach abhalten. So nach und nach hatten wir uns an vieles gewöhnt und uns mit der Tatsache abgefunden, als rechtlose Flüchtlinge zu leben.

Mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 riss unsere Verbindung mit unseren Vätern, Männern und Söhnen, die an verschiedenen Fronten gekämpft hatten, ab. Unsere schlimmste Sorge war, dass wir unsere Lieben im großen Wirrwarr nicht wiederfinden. So lebten wir bis zum Frühjahr 1946. Im April 1946 siedelten wir dann per Bahn nach Mittelfranken in den Kreis Uffenheim um. Dort wurden wir auf vier Dörfer verteilt. Wir konnten bei den Bauern arbeiten und das Notwendigste zum Leben verdienen. Von hier an war nun jeder sich selbst überlassen. Jeder versuchte sich seine eigene Zukunft aufzubauen. Viele Burghaller suchten ihren Weg über den Atlantik. Sie wollten dort eine neue Heimat finden. Das Schicksal hatte uns getrennt und zerrissen.


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Neueste Kommentare

  • 30.11.2010, 12:18 Uhr von der Ijel: gloria, wie Recht hast Du ! [weiter]
  • 08.12.2009, 21:48 Uhr von gloria: Herzlichen Dank für diesen Bericht.Für mich sind unsere Eltern und Großeltern,alle die ihre Heimat ... [weiter]

Artikel wurde 2 mal kommentiert.

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