15. März 2023

„Es ist eine besondere Welt – die Berge“: Gespräch mit Annemarie Schiel, Gründungs- und Ehrenmitglied der Sektion Karpaten des Deutschen Alpenvereins

Annemarie Schiel, geboren am 29. September 1924 in Bușteni am Fuße des Butschetsch-Gebirges, durfte im Alter von sechseinhalb den ersten 2000er ersteigen. Das war von Bușteni aus, der Jepii. Die sieben Geschwister durften immer in dem Jahr, in dem sie sieben wurden, zum ersten Mal auf den Jepii gehen. Dort haben sie die Gämsen beobachtet und sind herumgekrochen zwischen den Latschen, und das war sehr interessant. Die Karpaten-Alpenrosen haben geblüht, die einzigen Alpenrosen, die duften. Dies und noch viel mehr erzählt Annemarie Schiel (98) dem Vorsitzenden der Sektion Karpaten des Deutschen Alpenvereins (DAV), Hans Werner, der sie im Dezember 2022 im Siebenbürgerheim Rimsting besuchte, wo sie seit einigen Jahren lebt.
Annemarie Schiel und Hans Werner nach dem ...
Annemarie Schiel und Hans Werner nach dem Gespräch im ­Altenheim Rimsting. Foto: privat
Wie kommst du und deine Familie nach Bușteni?
Wir stammen aus Kronstadt, und mein Großvater hat dort mit seinem Bruder eine Papierfabrik gegründet. Also haben wir zwei Generationen lang dort gelebt. 1944 ist unsere ganze Großfamilie nach Deutschland gekommen. Ich jedoch war damals nicht zu Hause und blieb noch sechs Jahre allein zurück, bis ich die Ausreisegenehmigung bekam.

Du warst auch im Himalaya unterwegs, in Südamerika und auf dem Mont Blanc ….
Zweimal war ich im Himalaya, am Yala Peak und Annapurna. In Südamerika war ich auch – in den Anden und Kordilleren. Ich habe insgesamt 182 Dreitausender, 37 Viertausender und 12 Fünftausender erstiegen. Höhere Gipfel hat man nicht geführt zu meiner Zeit. Zum Mont Blanc bin ich etliche Male unterwegs gewesen und musste immer wieder umkehren, weil es Wettersturz gab. Nach einigen Jahren ist es mir doch noch gelungen, bei strahlendem Wetter den Mont Blanc zu besteigen. Damals hatten wir eine Fernsicht von über 100 km, ganz großartig.
Ich war in sämtlichen Erdteilen unterwegs, sogar in der Antarktis ist es mir als einzige gelungen, einen Gipfel zu ersteigen. Das war eine allgemeine Fahrt, und dann waren wir in einer Bucht, wo wir einen Aufenthalt von etwa einer Stunde hatten. Diese Zeit hat gerade gut gereicht, dass ich auf einen Berg hinauf- und wieder hinuntersteigen konnte. Runter bin ich nur auf den Sohlen gerutscht. Es ist schon so lange her, dass ich einen Hang hinaufgehen konnte.

Wie seid Ihr damals zurechtgekommen in den Bergen? Diese ganzen Navigationssysteme gab es ja noch nicht.
Sehr gut. In außereuropäischen Gebieten war ich mit Bergsteigergruppen unterwegs. Da hatten wir immer einen offiziellen Bergführer, meistens Münchner. Die hatten Kontakte zu einheimischen Führern. Da musste man gar nichts tun, man musste nur gehen. Jeder hatte sozusagen einen Sherpa, der einem den Seesack und das Zelt getragen hat. Wir haben in Zelten gehaust, da es ja damals dort keine Hütten gab. Es war alles sehr, sehr schön.

Bist du in den Alpen auch Skitouren gegangen?
Sehr viel, die meisten Drei- und Viertausender habe ich im späten Frühjahr als Ski-Tour gemacht. Man ist im Eis aufgestiegen, und bis man oben am Gipfel war, ist es aufgetaut, und dann hat man wunderbaren Firn zur Abfahrt gehabt. Also ich war insgesamt 85 Jahre in den Bergen unterwegs. Von sechs bis 91 Jahren.

Dann warst du fast jede Woche in den Bergen?
Wir hatten sie ja vor der Nase, in Bușteni. Die Talsohle liegt auf 800 m, mein Elternhaus auf 900 m und die Berge des Butschetsch sind knapp über 2500 m. Da ist die Jepii-Gruppe mit der Plaia, der Große Jepii, der Caraiman und die Costila, die sehr schön sind, mit ihren steilen Westabstürzen. Zum Skifahren muss man aufs Plateau hinauf. Der Butschetsch ist nämlich kein Kettengebirge, er hat Täler.

Hattest du noch die alten Holzskier zum Skitouren-Gehen?
Ja, meine ersten Ski sind von einem Schreiner in Bușteni gemacht worden. Und dann habe ich meistens die abgelegten Ski von meinen älteren Brüdern geerbt. Aber das waren immer gute Ski. Und dann kamen die ersten Ski mit Kanten. Erst Holzkanten, später dann die ersten Metallkanten und danach Plastikkanten.

Hast du noch einen Berg auf der Liste, den du gerne gemacht hättest?
Diese Frage kann ich auch nicht beantworten. Ich habe eigentlich ziemlich alles gemacht, was ich machen wollte.

Schöne Fotos hast du auch immer gemacht.
Ja, ich habe schon als Kind einen Fotoapparat gehabt, also mit zehn Jahren ungefähr. Meine Tante Gerda Knopf, die auch Bergsteigerin war und sehr gut fotografieren konnte, hat alle ihre Filme, anfangs noch Platten, selbst entwickelt. Ich war immer dabei und habe mitgeholfen. Anfangs sind ja noch Papieraufnahmen gemacht worden. Und dann kamen erst die Dias. Ich wollte die Schwarz-Weiß-Fotografie nicht aufgeben, ich habe mit den Dias sehr spät begonnen.

Hältst du noch Dia-Vorträge?
Mein letzter Vortrag war im Januar 2022. Da meine Augen nicht mehr mitmachen, kann ich auch nicht erklären, was auf der Wand ist. Hier im Heim habe ich 149 Vorträge gehalten. Früher war ich einmal im Jahr hier, um einen Vortrag zu halten, und seit ich hier wohne, hielt ich jeden Monat einen Vortrag. Wenn man so viel von der Welt gesehen und festgehalten hat – es sind ja lauter Aufnahmen, die ich selbst gemacht habe –, ist es ganz einfach, darüber zu sprechen. Nicht angelernt, sondern erlebt.

Hast du Familie? Besuchen die Angehörigen dich oft?
Ich hatte fünf Brüder, und die leben alle nicht mehr. Verheiratet war ich nicht, also gibt’s keine Nachkommen. Neffen und Nichten und ihre Kinder sind meine Familie. Im Großen und Ganzen kommen sie gelegentlich zu Besuch, außer während der Corona-Zeit.

Warst du in den letzten Jahren noch in Bușteni?
Ich war immer wieder mal dort, in größeren Abständen. Jetzt kann ich natürlich nicht mehr fahren.

Du hast auch ein Buch geschrieben, habe ich gelesen.
Ja, das Buch „Siebenbürgisch-sächsische Frauengestalten“ (1990), zusammen mit Ortrun Scola. Frau Scola war Bundesfrauenreferentin, und sie hatte mich gebeten, ihr zu helfen. Ich habe sie überall hin begleitet. Es war sehr interessant. Da lernt man nämlich sehr viel dabei. Man muss nur gut zuhören.

Und um was geht es in dem Buch?
Frau Scola hatte sich die Erhaltung der siebenbürgischen Tracht als Hauptthema für ihr Buch gewählt, und so hat sie dann Trachtenabende organisiert, an denen Gruppen aus verschiedenen Gebieten Siebenbürgens mit ihren alten Trachten teilgenommen haben.

Hast du nie daran gedacht, dein Leben niederzuschreiben?
Also es war so: Meine Freundinnen, die in Kronstadt geblieben waren, hatten von meinen Bergtouren und Reisen gehört. Sie baten mich, Berichte zu schreiben. Diese Berichte sind meine ganzen Erinnerungen. Ich habe Durchschläge, Kopien, von diesen. Von den Freundinnen lebt natürlich niemand mehr. Mein Alter erreichen nicht alle.

Ja, das heißt, du hast alles richtig gemacht im Leben, oder?
Ich habe sehr, sehr viel Sport getrieben, Leichtathletik, Fünfkampf, viel Tennis gespielt, bei schlechtem Wetter Tischtennis. Es waren schwere Turniere, meistens mit meinen Brüdern und ihren Freunden, außerdem bin ich viel geschwommen. Ein Ferientag in Busteni, bei gutem Wetter, hat so ausgesehen: um 9.00 Uhr bin ich auf die Bergwiese Palanca hinaufgegangen, dort in 1000 m Höhe befand sich unser fabrikeigener Tennisplatz. Dort habe ich dann Leichtathletik betrieben. Ich besaß alle Wurfgeräte, Kugel, Speer, Diskus und Schlagball usw. Zuerst habe ich eine Stunde Sport gemacht. Danach bin ich durch den Wald hinuntergelaufen, über den Bach gesprungen, über den Zaun geklettert und nach Hause gerannt, hab mich aufs Fahrrad gesetzt und bin ins Schwimmbad gefahren. Zu Mittag dann nach Hause zum Essen, und am Nachmittag haben wir uns mit den Freunden am Tennisplatz oben auf der Waldwiese wieder getroffen. Wir waren sportlich sehr aktiv. In den letzten vier Jahren vor meiner Ausreise war ich Speerwerferin in der Nationalmannschaft in Rumänien.

Wie kommt man überhaupt auf diese Disziplin?
Das weiß ich eigentlich selbst nicht. Wahrscheinlich durch den Fünfkampf. Ich hatte ja Speer und Diskus und Schlagball und Schleuderball zu Hause und konnte damit umgehen. Eigentlich bin ich Sportlehrerin von Beruf, war aber nicht in meinem Beruf tätig.

Annemarie, was machst du mit deinen Berichten?
Die bekommen meine Erben. Ich habe anlässlich meines 90. Geburtstags einige Berichte zusammenfassen lassen und habe ein Buch daraus gemacht, das ich in der Familie verteilt habe. Ich kann dir ein solches Buch mitgeben.

Das ist wunderbar! Ich verspreche, ich komme wieder!
Also ich freu mich immer, wenn ich von der Sektion Karpaten etwas höre, und wünsche weiterhin viel Erfolg.

Schlagwörter: Interview, DAV, Gründungsmitglied

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