14. Dezember 2023
Wiedersehen mit der Vergangenheit nach 22 Jahren: Eine literarische Reportage von Helmut Heimann
700 Häuser, 800 Einwohner – Schimonydorf (Satu Nou/Simonyifalva) ist eine Ortschaft im Kreischgebiet. Es gehörte zum Königreich Ungarn, fiel nach der Schlacht bei Mohács 1526 an das Fürstentum Siebenbürgen, dem es bis zum Österreichisch-Ungarischen Ausgleich 1867 angehörte. Das Kreischgebiet umfasst den Kreis Bihor sowie Regionen der Kreise Sathmar, Sălaj, Arad und Hunedoara. Die knapp tausend Deutschen im Kreischgebiet sind im Regionalforum Nordsiebenbürgen des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien organisiert. Gering ist auch die Gesamtzahl der Deutschen in Rumänien. Laut Volkszählung 2021 lebten 22.907 Deutsche im Land, davon 0,72% im Kreis Temesch, 0,69% im Kreis Hermannstadt, 0,49% im Kreis Arad und 0,35% im Kreis Kronstadt.
„Ich freue mich auf den Blick zurück beim Verlassen des Dorfes. Doch plötzlich beginnt der Nebel in die Ortschaft zu kriechen. Er wird immer dichter, bis fast nichts mehr zu sehen ist. Dennoch machen wir uns auf den Weg zurück nach Deutschland. Langsam rollt unser Wagen aus dem Dorf. Ich weiß, dass es sich nicht lohnt. Trotzdem muss ich noch einmal zurückschauen. Aber erkennen kann ich nichts mehr. Inzwischen hat der Nebel alles verhüllt. Es ist, als wolle er sagen: ,Wenn Du Schimonydorf noch einmal sehen willst, musst Du wiederkommen.‘ Doch nur der liebe Gott weiß, wann dies geschehen wird.“
Das schrieb ich im Juli 2001 in einem Reise-Essay. Nun komme ich wieder – und jetzt ist die Sicht gut. Zwischen beiden Besuchen liegen 22 Jahre. Damals waren meine Eltern mit, nun schauen sie von oben zu. Diesmal sind meine Lebensgefährtin Gerti und ihr Neffe Virgil dabei, der uns mit seinem Wagen in meinen Sehnsuchtsort im Nordwesten von Rumänien bringen wird. In Arad überqueren wir die Marosch, die das Banat vom Kreischgebiet und Siebenbürgen trennt.
Satu Nou (neues Dorf) heißt die Gemeinde auf Rumänisch. Mit diesem Namen gibt es 42 Ortschaften in allen Landeskreisen – aber nur ein Schimonydorf. Die Ungarn nennen es Simonyifalva – nach Stephan Ludwig Baron Simon-Simonyi. Der Reichstagsabgeordnete und Handelsminister gründete den Ort 1882 im Königreich Ungarn. Ein Jahr später kamen die ersten deutschen Binnenansiedler aus der Arader Grafschaft, dem Banat sowie die ungarischen aus dem Raum Békéscsaba – Elek nach Schimonydorf südlich der Schwarzen Kreisch und östlich der ungarischen Stadt Gyula. Die Ansiedlung ist also genau 140 Jahre her.
Erzsi, die Tochter meiner Cousine Elisabeth, erwartet uns. Nach der Begrüßung geht‘s gleich weiter an die Schwarze Kreisch, weil das Wetter umzuschlagen droht. Die Kreisch war als Kind mein Traumfluss – und ist es bis heute geblieben. In meinem Geburtsort Großjetscha im Banat gab es keinen Strand, Bach oder ein anderes Gewässer. So konnte ich es kaum erwarten, in den Sommerferien zu den Großeltern ins Kreischgebiet nach Schimonydorf zu kommen, wo mein Vater geboren wurde. Dann ging‘s mit dem Pferdewagen an den Fluss. Was für Spaß Mensch und Tier an den heißen Tagen im frischen Nass hatten.
Jetzt bin ich gespannt: Wird mich die Kreisch nach so langer Abwesenheit noch kennen?
Wir fahren die sechs Kilometer mit dem Jeep, und das ist gut so. Denn mit dem Pferdewagen wie einst wären wir nicht durchgekommen. Der Deichschützer hat das meterhohe Gras entlang des Flusses noch nicht gemäht. Den letzten Abschnitt legen wir auf dem Deich zurück - ringsum unberührte Landschaft. Ein farbenprächtiger Fasan erhebt sich vom Boden in die kristallklare Luft, ein zierliches Reh überquert unseren Weg, sattes Grün soweit das Auge reicht. Natur pur!
Endlich finden wir eine Stelle, um den Deich zu verlassen. Und dann erblicke ich sie: die Schwarze Kreisch. Aber ich kann mich ihrem seichten Wasser nicht wie früher nähern, weil das abfallende Ufer wildverwachsen und rutschig ist. Sie fließt gemächlich wie immer. Ihrem Namen - das Dakische „krisos“ bedeutet schwarz – macht sie alle Ehre. Denn es sieht aus, als würde sie einen Trauerflor tragen. Der Freude über das Wiedersehen tut das keinen Abbruch. Die Stille, die den Fluss umgibt, ist körperlich fühlbar. Wir wechseln kein Wort, schweigen und genießen.
Die Schwarze Kreisch war immer gut zu meiner Familie. Vater brach vor 78 Jahren auf der Flucht vor der Deportation in die Sowjetunion in ihrem Eis ein und konnte sich erst im letzten Moment völlig durchnässt und halb erfroren ans Ufer retten. Eine andere Geschichte hat sich über Jahrzehnte im Dorf gehalten, auch der Jeepfahrer, Mitte vierzig, kennt sie. Vater und sein Bruder Andreas warfen in der Nacht die Netze in der Kreisch aus, einer wachte, der andere schlief. Plötzlich sah Vater, wie sich ein Netz heftig hin und her bewegte. Allein konnte er es nicht an Land ziehen. Er weckte meinen Onkel und gemeinsam schafften sie es, einen Riesenwels ans Ufer zu zerren. Er war so groß und schwer, dass sie ihn mit dem Leiterwagen ins Dorf bringen mussten und vielen Einwohnern von seinem leicht süßlich schmeckenden Fleisch schenkten. Meine Gedanken kehren in die Gegenwart zurück. Denn es heißt, Abschied nehmen von der Kreisch. Er fällt ihr und mir nicht leicht. Doch ich lasse viele schöne Erinnerungen an ihrem lehmigen Ufer zurück. Sie werden uns für immer wie ein unsichtbares Band miteinander verbinden. „Kreisch“ heißt in mehreren Dialekten: weine. Sie nimmt meine Träne aus dem Knopfloch mit auf ihrem Weg in die Theiß, von dort in die Donau und immer weiter bis ins Schwarze Meer.
Wir kehren ins Dorf zurück. Mein Opa Franz kam als kleines Kind mit seinen Eltern nach Schimony, wie die Einheimischen die Ortschaft nennen. Als junger Mann zog es ihn nach Amerika, wo er in einem Textillager in New York jahrelang gutes Geld verdiente. Er kehrte zurück, kaufte zehn Katastraljoch Feld, baute ein Haus, heiratete eine elf Jahre jüngere Frau, bekam in 23 Jahren 14 Kinder, von denen zwölf erwachsen wurden, darunter mein Vater.
Wir nähern uns seinem Elternhaus. In Gedanken sehe ich Opa auf der langen Holzbank zwischen den Akazien sitzen, in der einen Hand die Pfeife, mit der anderen die Enden seines Schnurrbartes zwirbelnd. „Sefi, de Helmut kummt“, rief er meiner Oma Sofie im Hof zu. Und der Helmut kam regelmäßig jede Sommerferien, auch als die Großeltern nicht mehr lebten, dann eben zu Onkel und Tanten. Von den in alle Welt zerstreuten Kindern lebt keines mehr. Die Bank vor dem Haus ist auch nicht mehr da, es steht leer. Einst vibrierte es vor Leben. Bei so viel Nachwuchs musste das Essen in Kesseln gekocht werden. Es war die größte Familie im Dorf.
Nur einen gibt es noch, der alle Stürme der Zeit überstanden und das pulsierende Leben im jetzt verlassenen Haus und Hof erlebt hat: meinen Freund, den Nussbaum. Er steht in der Scheune, ist mehr als hundert Jahre alt und fast zwanzig Meter hoch. Ich möchte ihn streicheln und umarmen, aber es geht nicht. Alles ist verriegelt. „Willkommen“, scheinen seine Blätter mir freudig ins Ohr zu flüstern. Endlich jemand, den er noch kennt. Ich winke ihm zum Abschied zu. Dann schlendern wir durch die Straßen eines dahinsiechenden Dorfes, in dem die Hälfte der Häuser leer steht, mehrere eingestürzt sind. „Ganze Straßenzüge fehlen“, sagt Bürgermeister Tiberiu Haász. Jetzt weiß ich, warum die Schwarze Kreisch einen Trauerflor trägt. In Schimonydorf leben noch vier Deutsche (drei Frauen und ein Mann), hauptsächlich Ungarn und mehrere Rumänen. Die meisten Deutschen gab es 1890 mit 487 Personen. Der Großteil ist verstorben oder in die weite Welt gezogen, allein aus meiner Familie in sechs Länder auf drei Kontinenten.
Wir kommen an der 1914 erbauten römisch-katholischen Kirche Heilige Maria Himmelfahrt an. Bis zu ihrer Einweihung existierte seit 1901 ein Bethaus. Schon von weitem zieht das frisch leuchtende Schönbrunner Gelb des Gotteshauses unsere Blicke an. Es wurde sowohl außen als auch innen renoviert. Die tanzenden Sonnenstrahlen tauchen sein kühles Inneres in gleißendes Licht. Unsere Augen baden im Habsburger Gelb. Hier wurden meine Eltern getraut. Da Mutter aus Großjetscha stammte, kamen ihre Verwandten mit dem Lastkraftwagen der LPG aus dem Banat nach Schimonydorf. 160 Kilometer, dicht zusammengedrängt auf Holzbänken im offenen Lkw. Damals eine kleine Weltreise! Nach der Trauung traf sich die große Familie im Elternhaus meines Vaters. Auf dem Hochzeitsfoto im engen Familienkreis drängen sich 23 Personen. Im großen Hof mit dem Schwengelbrunnen standen Bänke und Tische. Einer spielte Akkordeon, ein anderer schlug die Trommel, viele schwangen das Tanzbein und wirbelten den Staub auf. Am nächsten Tag ging's mit dem Lkw ins Banat zurück. Es war einmal…
Auf dem Weg ins Pfarrhaus verweilen wir am 2008 errichteten Mahnmal für die Russlanddeportierten. Es ist ein Werk der Schimonydorfer Künstlerin Elisabeth Brittich. Unsere Väter waren gute Kameraden. Ich habe es noch nicht gesehen. Auch der Name meines Onkels ist eingraviert. Toni war nicht mal 16, als sie ihn holten. Opa wollte unbedingt, dass mein Vater seinen minderjährigen Bruder in die UdSSR begleitet, um auf ihn aufzupassen. Vater widersetzte sich seinem Vater – und flüchtete vor den Häschern. Er hatte mit knapp 18 Jahren seinen eigenen Kopf.
Einmal war er im Wohnzimmer, als die Hunde draußen anschlugen. Er versteckte sich im Schrank, seine Mutter zog den Schlüssel ab. Als die Soldaten den Raum betraten, bemerkten sie den fehlenden Schlüssel. Oma musste den Schrank öffnen, und sie nahmen Vater gefangen. Später entkam er auf der Straße. Vater bückte sich und tat so, als würde er die Schnürsenkel binden. Der Soldat schlurfte weiter und Tata, wie ich ihn nannte, rannte davon. Nach mehreren Monaten auf der Flucht hatte er es geschafft. Er musste nicht zur Zwangsarbeit. Sein Bruder Toni kehrte nach fünf Jahren aus der Deportation heim.
Der ungarische Priester Kapor János erwartet uns in der geöffneten Tür des Pfarrhauses. Er spricht gut Deutsch. Im Flur hängen die Fotos aller im Ort wirkenden Priester. So sehe ich zum ersten Mal das Bild von Pfarrer Vöö Péter Pál, der hier zwischen 1956 und 1966 tätig war. Er hat meine Eltern getraut, sie sprachen noch Jahre später mit Hochachtung von ihm. Auf dem Tisch liegen die Matrikelbücher, so groß wie zu meiner Zeit die Schulkataloge, nur viel dicker.
Unser Weg führt zum Friedhof. Ich kenne mich überall so gut aus, als wäre ich schon immer in Schimony gewesen. Gerti wundert sich, da ich als Kind in den Sommerferien hier war, aber selbst nach Jahrzehnten noch jeden Grashalm kenne. Bestimmt hat es mir damals so gut gefallen, dass ich alles aufgesaugt und gespeichert habe. Jetzt muss ich nur eine Schublade im Kopf öffnen - und schon quellt es hervor. Dann stehen wir vor dem Grab meiner Großeltern.
Mir brennen zahlreiche Fragen auf der Zunge. Wie hat Oma so viele Kinder großziehen und nie die Geduld verlieren können? Sie war eine herzensgute Frau, freundlich, gelassen. Manchmal hielt sie zwei Kinder auf dem Schoss, schaukelte ein drittes in der Wiege mit dem Fuß in den Schlaf. Opa dagegen war impulsiv, aufbrausend, konservativ und erzog seine große Kinderschar streng. „Ihr müsst Deutsch sprechen“, paukte er ihnen angesichts der vielen Ungarn im Dorf mehrmals am Tag ein. Jetzt würde ich ihn gerne fragen: „Na Opa, was sagst du angesichts der deutschen Erziehung zu deiner großen multikulturellen Familie?“ Sie umfasst viele Nationen: Ungarn, Rumänen, Kroaten, Polen, Engländer, Kanadier, Brasilianer, US-Amerikaner, Koreaner.
Der letzte deutsche Mann in Schimony ist mein Großcousin. Jani Rechtenwald ist 88 und nur vorübergehend da. Im Winter zieht es ihn zur Tochter nach Österreich, aber jeden Sommer zurück nach Schimony. Bald werden zu den wenigen Deutschen zwei neue hinzukommen. Eine mit ihrem bundesdeutschen Mann in Nordrhein-Westfalen lebende Schimonydorferin hat das Haus ihrer Großmutter geerbt. Derzeit wird es renoviert. Das Ehepaar möchte hier seinen Lebensabend verbringen und die atemraubende Natur genießen: das melodische Vogelstimmenkonzert am frühen Morgen, den lieblichen Akazienduft, klappernde Störche, quakende Frösche in den umliegenden Seen, das vertraute Zirpen der Grillen, grasende Rehe, den geheimnisvollen Holumburger Wald am Horizont, die im Glanz der Abendsonne strahlenden sanften Ausläufer der Westkarpaten. Viva la vita!
Bei meiner Cousine treffen wir Pfarrer Kapor wieder. Während des Mittagessens reden wir über Gott und die Welt. Der Geistliche ist ein freundlicher, hilfsbereiter und zuvorkommender Mann. Überall, wo er tätig war, hat er die Gotteshäuser renovieren lassen, auch in Schimonydorf. Sein Beruf wurde zur Berufung. Dafür lieben ihn die Gläubigen. „Es ist nicht immer wichtig, dass wir große Dinge tun, sondern dass Gott durch uns wertvolle Dinge tut“, sagt er. Das hat er schon oft bewiesen. Seine Pfarrei in Kischineu an der Kreisch umfasst zwölf Filialen. Sonntags ist er den ganzen Tag im Dienst für den Herrn unterwegs. Seine erste Heilige Messe beginnt am Morgen, die letzte endet am Abend. Mein Telefon klingelt, Virgil ruft an – er werde bald hier sein. Der Abschied rückt näher. Dann ist es so weit. Der Wagen rollt langsam aus der Ortschaft. Auch jetzt ist die Sicht bestens, nicht wie damals vor 22 Jahren, als der Nebel alles verhüllte. Wir fahren bei strahlendem Sonnenschein am Strommast vorbei, auf dem der Storch seine beiden Kinder füttert. Sie werden im nächsten Jahr wieder hier sein, ich bestimmt nicht.
Ob noch einmal 22 Jahre bis zu meinem nächsten Besuch vergehen werden? Das steht in den Sternen. Als wir das verschlafene Dorf verlassen, muss ich an meinen Lieblingsspruch denken: „Heimat ist da, wo man bleibt, wenn man geht.“ Ja, ein Teil von mir wird für immer hierbleiben. In meinem Schimonydorf an meiner Schwarzen Kreisch.
Das schrieb ich im Juli 2001 in einem Reise-Essay. Nun komme ich wieder – und jetzt ist die Sicht gut. Zwischen beiden Besuchen liegen 22 Jahre. Damals waren meine Eltern mit, nun schauen sie von oben zu. Diesmal sind meine Lebensgefährtin Gerti und ihr Neffe Virgil dabei, der uns mit seinem Wagen in meinen Sehnsuchtsort im Nordwesten von Rumänien bringen wird. In Arad überqueren wir die Marosch, die das Banat vom Kreischgebiet und Siebenbürgen trennt.
Satu Nou (neues Dorf) heißt die Gemeinde auf Rumänisch. Mit diesem Namen gibt es 42 Ortschaften in allen Landeskreisen – aber nur ein Schimonydorf. Die Ungarn nennen es Simonyifalva – nach Stephan Ludwig Baron Simon-Simonyi. Der Reichstagsabgeordnete und Handelsminister gründete den Ort 1882 im Königreich Ungarn. Ein Jahr später kamen die ersten deutschen Binnenansiedler aus der Arader Grafschaft, dem Banat sowie die ungarischen aus dem Raum Békéscsaba – Elek nach Schimonydorf südlich der Schwarzen Kreisch und östlich der ungarischen Stadt Gyula. Die Ansiedlung ist also genau 140 Jahre her.
Erzsi, die Tochter meiner Cousine Elisabeth, erwartet uns. Nach der Begrüßung geht‘s gleich weiter an die Schwarze Kreisch, weil das Wetter umzuschlagen droht. Die Kreisch war als Kind mein Traumfluss – und ist es bis heute geblieben. In meinem Geburtsort Großjetscha im Banat gab es keinen Strand, Bach oder ein anderes Gewässer. So konnte ich es kaum erwarten, in den Sommerferien zu den Großeltern ins Kreischgebiet nach Schimonydorf zu kommen, wo mein Vater geboren wurde. Dann ging‘s mit dem Pferdewagen an den Fluss. Was für Spaß Mensch und Tier an den heißen Tagen im frischen Nass hatten.
Jetzt bin ich gespannt: Wird mich die Kreisch nach so langer Abwesenheit noch kennen?
Wir fahren die sechs Kilometer mit dem Jeep, und das ist gut so. Denn mit dem Pferdewagen wie einst wären wir nicht durchgekommen. Der Deichschützer hat das meterhohe Gras entlang des Flusses noch nicht gemäht. Den letzten Abschnitt legen wir auf dem Deich zurück - ringsum unberührte Landschaft. Ein farbenprächtiger Fasan erhebt sich vom Boden in die kristallklare Luft, ein zierliches Reh überquert unseren Weg, sattes Grün soweit das Auge reicht. Natur pur!
Endlich finden wir eine Stelle, um den Deich zu verlassen. Und dann erblicke ich sie: die Schwarze Kreisch. Aber ich kann mich ihrem seichten Wasser nicht wie früher nähern, weil das abfallende Ufer wildverwachsen und rutschig ist. Sie fließt gemächlich wie immer. Ihrem Namen - das Dakische „krisos“ bedeutet schwarz – macht sie alle Ehre. Denn es sieht aus, als würde sie einen Trauerflor tragen. Der Freude über das Wiedersehen tut das keinen Abbruch. Die Stille, die den Fluss umgibt, ist körperlich fühlbar. Wir wechseln kein Wort, schweigen und genießen.
Die Schwarze Kreisch war immer gut zu meiner Familie. Vater brach vor 78 Jahren auf der Flucht vor der Deportation in die Sowjetunion in ihrem Eis ein und konnte sich erst im letzten Moment völlig durchnässt und halb erfroren ans Ufer retten. Eine andere Geschichte hat sich über Jahrzehnte im Dorf gehalten, auch der Jeepfahrer, Mitte vierzig, kennt sie. Vater und sein Bruder Andreas warfen in der Nacht die Netze in der Kreisch aus, einer wachte, der andere schlief. Plötzlich sah Vater, wie sich ein Netz heftig hin und her bewegte. Allein konnte er es nicht an Land ziehen. Er weckte meinen Onkel und gemeinsam schafften sie es, einen Riesenwels ans Ufer zu zerren. Er war so groß und schwer, dass sie ihn mit dem Leiterwagen ins Dorf bringen mussten und vielen Einwohnern von seinem leicht süßlich schmeckenden Fleisch schenkten. Meine Gedanken kehren in die Gegenwart zurück. Denn es heißt, Abschied nehmen von der Kreisch. Er fällt ihr und mir nicht leicht. Doch ich lasse viele schöne Erinnerungen an ihrem lehmigen Ufer zurück. Sie werden uns für immer wie ein unsichtbares Band miteinander verbinden. „Kreisch“ heißt in mehreren Dialekten: weine. Sie nimmt meine Träne aus dem Knopfloch mit auf ihrem Weg in die Theiß, von dort in die Donau und immer weiter bis ins Schwarze Meer.
Wir kehren ins Dorf zurück. Mein Opa Franz kam als kleines Kind mit seinen Eltern nach Schimony, wie die Einheimischen die Ortschaft nennen. Als junger Mann zog es ihn nach Amerika, wo er in einem Textillager in New York jahrelang gutes Geld verdiente. Er kehrte zurück, kaufte zehn Katastraljoch Feld, baute ein Haus, heiratete eine elf Jahre jüngere Frau, bekam in 23 Jahren 14 Kinder, von denen zwölf erwachsen wurden, darunter mein Vater.
Wir nähern uns seinem Elternhaus. In Gedanken sehe ich Opa auf der langen Holzbank zwischen den Akazien sitzen, in der einen Hand die Pfeife, mit der anderen die Enden seines Schnurrbartes zwirbelnd. „Sefi, de Helmut kummt“, rief er meiner Oma Sofie im Hof zu. Und der Helmut kam regelmäßig jede Sommerferien, auch als die Großeltern nicht mehr lebten, dann eben zu Onkel und Tanten. Von den in alle Welt zerstreuten Kindern lebt keines mehr. Die Bank vor dem Haus ist auch nicht mehr da, es steht leer. Einst vibrierte es vor Leben. Bei so viel Nachwuchs musste das Essen in Kesseln gekocht werden. Es war die größte Familie im Dorf.
Nur einen gibt es noch, der alle Stürme der Zeit überstanden und das pulsierende Leben im jetzt verlassenen Haus und Hof erlebt hat: meinen Freund, den Nussbaum. Er steht in der Scheune, ist mehr als hundert Jahre alt und fast zwanzig Meter hoch. Ich möchte ihn streicheln und umarmen, aber es geht nicht. Alles ist verriegelt. „Willkommen“, scheinen seine Blätter mir freudig ins Ohr zu flüstern. Endlich jemand, den er noch kennt. Ich winke ihm zum Abschied zu. Dann schlendern wir durch die Straßen eines dahinsiechenden Dorfes, in dem die Hälfte der Häuser leer steht, mehrere eingestürzt sind. „Ganze Straßenzüge fehlen“, sagt Bürgermeister Tiberiu Haász. Jetzt weiß ich, warum die Schwarze Kreisch einen Trauerflor trägt. In Schimonydorf leben noch vier Deutsche (drei Frauen und ein Mann), hauptsächlich Ungarn und mehrere Rumänen. Die meisten Deutschen gab es 1890 mit 487 Personen. Der Großteil ist verstorben oder in die weite Welt gezogen, allein aus meiner Familie in sechs Länder auf drei Kontinenten.
Wir kommen an der 1914 erbauten römisch-katholischen Kirche Heilige Maria Himmelfahrt an. Bis zu ihrer Einweihung existierte seit 1901 ein Bethaus. Schon von weitem zieht das frisch leuchtende Schönbrunner Gelb des Gotteshauses unsere Blicke an. Es wurde sowohl außen als auch innen renoviert. Die tanzenden Sonnenstrahlen tauchen sein kühles Inneres in gleißendes Licht. Unsere Augen baden im Habsburger Gelb. Hier wurden meine Eltern getraut. Da Mutter aus Großjetscha stammte, kamen ihre Verwandten mit dem Lastkraftwagen der LPG aus dem Banat nach Schimonydorf. 160 Kilometer, dicht zusammengedrängt auf Holzbänken im offenen Lkw. Damals eine kleine Weltreise! Nach der Trauung traf sich die große Familie im Elternhaus meines Vaters. Auf dem Hochzeitsfoto im engen Familienkreis drängen sich 23 Personen. Im großen Hof mit dem Schwengelbrunnen standen Bänke und Tische. Einer spielte Akkordeon, ein anderer schlug die Trommel, viele schwangen das Tanzbein und wirbelten den Staub auf. Am nächsten Tag ging's mit dem Lkw ins Banat zurück. Es war einmal…
Auf dem Weg ins Pfarrhaus verweilen wir am 2008 errichteten Mahnmal für die Russlanddeportierten. Es ist ein Werk der Schimonydorfer Künstlerin Elisabeth Brittich. Unsere Väter waren gute Kameraden. Ich habe es noch nicht gesehen. Auch der Name meines Onkels ist eingraviert. Toni war nicht mal 16, als sie ihn holten. Opa wollte unbedingt, dass mein Vater seinen minderjährigen Bruder in die UdSSR begleitet, um auf ihn aufzupassen. Vater widersetzte sich seinem Vater – und flüchtete vor den Häschern. Er hatte mit knapp 18 Jahren seinen eigenen Kopf.
Einmal war er im Wohnzimmer, als die Hunde draußen anschlugen. Er versteckte sich im Schrank, seine Mutter zog den Schlüssel ab. Als die Soldaten den Raum betraten, bemerkten sie den fehlenden Schlüssel. Oma musste den Schrank öffnen, und sie nahmen Vater gefangen. Später entkam er auf der Straße. Vater bückte sich und tat so, als würde er die Schnürsenkel binden. Der Soldat schlurfte weiter und Tata, wie ich ihn nannte, rannte davon. Nach mehreren Monaten auf der Flucht hatte er es geschafft. Er musste nicht zur Zwangsarbeit. Sein Bruder Toni kehrte nach fünf Jahren aus der Deportation heim.
Der ungarische Priester Kapor János erwartet uns in der geöffneten Tür des Pfarrhauses. Er spricht gut Deutsch. Im Flur hängen die Fotos aller im Ort wirkenden Priester. So sehe ich zum ersten Mal das Bild von Pfarrer Vöö Péter Pál, der hier zwischen 1956 und 1966 tätig war. Er hat meine Eltern getraut, sie sprachen noch Jahre später mit Hochachtung von ihm. Auf dem Tisch liegen die Matrikelbücher, so groß wie zu meiner Zeit die Schulkataloge, nur viel dicker.
Unser Weg führt zum Friedhof. Ich kenne mich überall so gut aus, als wäre ich schon immer in Schimony gewesen. Gerti wundert sich, da ich als Kind in den Sommerferien hier war, aber selbst nach Jahrzehnten noch jeden Grashalm kenne. Bestimmt hat es mir damals so gut gefallen, dass ich alles aufgesaugt und gespeichert habe. Jetzt muss ich nur eine Schublade im Kopf öffnen - und schon quellt es hervor. Dann stehen wir vor dem Grab meiner Großeltern.
Mir brennen zahlreiche Fragen auf der Zunge. Wie hat Oma so viele Kinder großziehen und nie die Geduld verlieren können? Sie war eine herzensgute Frau, freundlich, gelassen. Manchmal hielt sie zwei Kinder auf dem Schoss, schaukelte ein drittes in der Wiege mit dem Fuß in den Schlaf. Opa dagegen war impulsiv, aufbrausend, konservativ und erzog seine große Kinderschar streng. „Ihr müsst Deutsch sprechen“, paukte er ihnen angesichts der vielen Ungarn im Dorf mehrmals am Tag ein. Jetzt würde ich ihn gerne fragen: „Na Opa, was sagst du angesichts der deutschen Erziehung zu deiner großen multikulturellen Familie?“ Sie umfasst viele Nationen: Ungarn, Rumänen, Kroaten, Polen, Engländer, Kanadier, Brasilianer, US-Amerikaner, Koreaner.
Der letzte deutsche Mann in Schimony ist mein Großcousin. Jani Rechtenwald ist 88 und nur vorübergehend da. Im Winter zieht es ihn zur Tochter nach Österreich, aber jeden Sommer zurück nach Schimony. Bald werden zu den wenigen Deutschen zwei neue hinzukommen. Eine mit ihrem bundesdeutschen Mann in Nordrhein-Westfalen lebende Schimonydorferin hat das Haus ihrer Großmutter geerbt. Derzeit wird es renoviert. Das Ehepaar möchte hier seinen Lebensabend verbringen und die atemraubende Natur genießen: das melodische Vogelstimmenkonzert am frühen Morgen, den lieblichen Akazienduft, klappernde Störche, quakende Frösche in den umliegenden Seen, das vertraute Zirpen der Grillen, grasende Rehe, den geheimnisvollen Holumburger Wald am Horizont, die im Glanz der Abendsonne strahlenden sanften Ausläufer der Westkarpaten. Viva la vita!
Bei meiner Cousine treffen wir Pfarrer Kapor wieder. Während des Mittagessens reden wir über Gott und die Welt. Der Geistliche ist ein freundlicher, hilfsbereiter und zuvorkommender Mann. Überall, wo er tätig war, hat er die Gotteshäuser renovieren lassen, auch in Schimonydorf. Sein Beruf wurde zur Berufung. Dafür lieben ihn die Gläubigen. „Es ist nicht immer wichtig, dass wir große Dinge tun, sondern dass Gott durch uns wertvolle Dinge tut“, sagt er. Das hat er schon oft bewiesen. Seine Pfarrei in Kischineu an der Kreisch umfasst zwölf Filialen. Sonntags ist er den ganzen Tag im Dienst für den Herrn unterwegs. Seine erste Heilige Messe beginnt am Morgen, die letzte endet am Abend. Mein Telefon klingelt, Virgil ruft an – er werde bald hier sein. Der Abschied rückt näher. Dann ist es so weit. Der Wagen rollt langsam aus der Ortschaft. Auch jetzt ist die Sicht bestens, nicht wie damals vor 22 Jahren, als der Nebel alles verhüllte. Wir fahren bei strahlendem Sonnenschein am Strommast vorbei, auf dem der Storch seine beiden Kinder füttert. Sie werden im nächsten Jahr wieder hier sein, ich bestimmt nicht.
Ob noch einmal 22 Jahre bis zu meinem nächsten Besuch vergehen werden? Das steht in den Sternen. Als wir das verschlafene Dorf verlassen, muss ich an meinen Lieblingsspruch denken: „Heimat ist da, wo man bleibt, wenn man geht.“ Ja, ein Teil von mir wird für immer hierbleiben. In meinem Schimonydorf an meiner Schwarzen Kreisch.
Helmut Heimann
Schlagwörter: Reportage, Banat, Nordsiebenbürgen, Helmut Heimann
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