31. Mai 2006

Was ist moderne Kunst?

"Der mit Plastikstühlen verhüllte Schöne Brunnen auf dem Nürnberger Hauptmarkt ist ein Schandfleck!" - "Ganz im Gegenteil: Die moderne Skulptur am Schönen Brunnen ist eine Provokation, die den Menschen die Möglichkeit eröffnet, intensiv miteinander zu kommunizieren!" Die von Horst Göbbel zu Beginn des "Treffpunkt Langwasser" am 15. Mai im Haus der Heimat zu Nürnberg vorgestellten Bilder der modernen Installation des Münchner Kunstprofessors und Documenta-Künstlers Olaf Metzel hatten es in sich. Metzel hat eines der Wahrzeichen Nürnbergs, den zwischen 1385 und 1396 entstandenen Schönen Brunnen auf dem Hauptmarkt im Rahmen eines WM-Kunstprojekts mit seiner Stuhlskulptur "Auf Wiedersehen" (mit 780 ausgemusterten Sitzen des Berliner Olympia-Stadions) verkleidet.
Es ging heftig zu in den Medien und vor Ort. Die erhitzte Volksseele machte sich Luft. "Für Nürnberg ist jeder Schrott gut genug!", brüllte am Brunnen ein aufgebrachter Passant. - "Das ist die Rache der Preußen an den Nürnbergern", stimmte ein anderer in die Schmährufe ein. Und ein Dritter setzte an zum Frontalangriff: "Was haben Sie im Kopf? Sind Sie blöd oder was?" - "Das Rathaus mit Klodeckeln zuhängen wäre billiger und hätte Sinn!" stand auf einem Blatt. "Herr, lasse mich erblinden angesichts solcher Hässlichkeit!", meinte ein Münchner Tourist. Im Haus der Heimat war es dann beileibe nicht so hitzig, jedoch sehr lehrreich. Der Austausch von Argumenten förderte unser Verständnis und unseren Respekt auch vor dieser sehr ungewöhnlichen und stark gewöhnungsbedürftigen Art moderner Kunst.

Gibt Anlass zu Diskussionen über moderne Kunst: der verdeckte Schöne Brunnen in Nürnberg. Foto: Horst Göbbel
Gibt Anlass zu Diskussionen über moderne Kunst: der verdeckte Schöne Brunnen in Nürnberg. Foto: Horst Göbbel

Die umfassend und zum Teil auch richtig witzig diskutierte Frage nach dem Sinn eines modernen Kunstwerks führte uns an diesem besonderen Tag - unser Landsmann Oskar Pastior (diese Zeitung berichtete), ist diesjährige Georg-Büchner-Preisträger - direkt zu den ungezählten großartigen Medienkritiken. Martin Lüdke von der Frankfurter Rundschau nennt ihn den "Sprachmagier Oskar Pastior, der mit den Regeln der Sprache gegen ihre Regeln operiert." Er arbeite "wie ein Bastler, der entwirft, plant, baut und tüftelt." In der Berliner Morgenpost schreibt Dorothea von Törne: "Aus vermeintlich himmelschreiendem Nonsens blitzt unvermutet auf, was man ins Gehege von Kulturgeschichte, Historie und Politik verbannt wähnt: Definitionen von Heimat, Tradition, kulturellem und geschichtlichem Gedächtnis."

Ein ums andere Mal meint man zu wissen, was einen erwartet, wenn man Pastior liest, nur um dann doch wieder ins Staunen, in jämmerliche Sprachlosigkeit angesichts dieses Ingeniums, dieses Füllhorns an Ideen zu verfallen. Die ernsthaften deutschen Feuilletons sind voll des Lobes ob dieser Wahl der Darmstädter Akademie. Und wir im Haus der Heimat, wir trauten uns am 15. Mai, aus den Feuilletons zu lesen, einige Kompositionen unseres Preisträgers zu buchstabieren, Texte dazu vorzutragen und haben uns an einem 1993 aufgenommenen, breit angelegten Gespräch mit Oskar Pastior erfreut. Natürlich vereinnahmen wir ihn jetzt, auch wenn viele von uns seine nichttraditionelle Lyrik entweder nicht kennen oder nicht schätzen. Diese Auszeichnung tut unserem Landsmann gut, sie tut uns Landsleuten gut. Klaus Hensel schrieb schon 1986 in der Frankfurter Rundschau: "Mit einem Oskar-Pastior-Gedicht ist es wie im Leben. Sobald man denkt, man habe es endlich gepackt, ist es einem schon um eine Winzigkeit einer Nasenlänge voraus". Der Abend im Haus der Heimat hat uns beflügelt. Er hat uns den Schönen Brunnen, Oskar Pastior, moderne Kunst auf überraschende Weise näher gebracht. Aber sie bleibt uns wohl dennoch mindestens eine "Winzigkeit einer Nasenlänge voraus".

Horst Göbbel

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 9 vom 31. Mai 2006, Seite 5)

Schlagwörter: Kulturspiegel, Kunst, Vortragsreihen

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