26. August 2017

Tagungsband: Erinnerungskulturen der Rumäniendeutschen

Wie legitimiert sich eine kollektive Identität nach einem Umbruch und Aufbruch in ein neues System? In Ostmittel-, Südost- und Osteuropa musste man sich nach 1989 dieser Frage stellen. Und so nimmt es nicht wunder, dass sich eine Tagung im Juni 2013 am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München (IKGS) und in der Folge ein Tagungsband diesem zentralen Thema widmet.
Jürgen Lehmann und Gerald Volkmer sind die Herausgeber des Bandes „Rumäniendeutsche Erinnerungskulturen. Formen und Funktionen des Vergangenheitsbezuges in der rumäniendeutschen Historiografie und Literatur“, der 2016 im Verlag Friedrich Pustet erschienen ist.

Nach einer Einführung ins Thema von Kathrin Schödel vereint er Vorträge in zwei Sparten: Literaturwissenschaft und Historiografie. Sehr ausführlich beschreibt Kathrin Schödel das Gedächtnis, indem sie sich auch auf Aleida und Jan Assmann bezieht. Sie unterstreicht dabei die grundsätzliche Nähe des Gedächtnisses und der Literatur. Auch das „vermeintlich – individuelle Gedächtnis [wird] strukturiert von Erzählmustern aus Literatur und anderen sozialen Gedächtnissen“. Sie plädiert aber für den Plural der Erinnerungskulturen, der das Dynamische, Vielstimmige und Dialogische besser zum Ausdruck bringt als der Singular „kulturelles Gedächtnis“. Auch grenzt sie das Gedächtnis mit Walter Benjamin von einem historistisch-positivistischen Geschichtsbegriff ab und spricht von einem gegen-hegemonialen Gedächtnis, das, so Benjamin, dazu dient, Herrschafts- und Unterdrückungsstrukturen zu unterbrechen. Die rumäniendeutschen Erinnerungskulturen sind, so Kathrin Schödel, vielfältig aufgrund verschiedenster politischer Systeme, aber auch aufgrund von Erfahrungen wie Deportation und Migration und dem Verhältnis von Minderheit und Mehrheit.

Einen Abriss von Erinnerungskulturen in der rumäniendeutschen Literatur, etwa bei Franz Hodjak, Johann Lippet, Horst Samson, Werner Söllner, Richard Wagner u.a., liefert Jürgen Lehmann im ersten literaturwissenschaftlichen Vortrag, in dem er bei Hodjaks Heimatlosigkeit mit Georg Lukacs von einer besonderen Form „transzendentaler Obdachlosigkeit“ spricht. Er wäre für ein „dialogisches Erinnern“ im Sinne von Aleida Assmann, das die eigene Leidensgeschichte in größere, auch überregionale Kontexte stellt. Eine neue Identität, so beweisen es die behandelten Autoren, wird oft auch in der Sprache gefunden.

Waldemar Fromm behandelt die berühmte „Siebenbürgische Elegie“ von Adolf Meschendörfer, indem er sich auf Anemone Latzinas Gedicht, aber auch auf Dieter Schlesak bezieht. Markus May widmet sich ganz der Dracula-Korrektur im erinnerungskulturellen Agon bei Dieter Schlesak, während Réka Sánta-Jakabházi die Facetten der poetischen Identitätskonstruktion bei Franz Hodjak behandelt und wiederum auf seine distanzierte Haltung gegenüber Heimat und Vergangenheit eingeht. Seine Gestalten „entwickeln eine negative Identität, indem sie sich nirgends zugehörig fühlen“. Graziella Predoiu untersucht die Inszenierung von Erinnerung und Gedächtnis in Herta Müllers „Atemschaukel“ und spricht mit Michael Braun von einer Poetik der erfundenen Erinnerung, womit es Herta Müller gelang, das individuelle und tabuisierte Gedächtnis der Rumäniendeutschen ins kulturelle Langzeitgedächtnis zu retten.

Im historiografischen Teil liest man gerne die Ausführungen von Bernhard Böttcher, der die Kriegerdenkmäler in Banat und Siebenbürgen vergleicht und in ihnen ein Beispiel einer gelungenen Verarbeitung des Krieges findet. Cristian Cercel spricht über die Deportation der Rumäniendeutschen in die Sowjetunion im Hinblick auf die Schuldfrage, die Familienzusammenführung, die Opferdiskurse und stellt fest, dass eine umfangreiche Studie dazu noch aussteht. Florian Kührer-Wielach analysiert hingegen die Diskursstrategien in der rumäniendeutschen Zeitschrift Forschungen zur Volks- und Landskunde im „gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus“ und erläutert, wie die Rumäniendeutschen aus kollektiv Geächteten zu Botschaftern des sozialistischen Rumäniens wurden. Der abschließende Beitrag von Harald Heppner behandelt die rurale Erinnerungskultur am Beispiel des rumänischen Banats an der Jahrtausendwende.

Sei sie nun in Sprache aufgehoben oder in Denkmälern materialisiert – die Erinnerung ist wichtiger Bestandteil unserer Identität. Der fachlich breit gefächerte Tagungsband über die rumäniendeutschen Erinnerungskulturen besticht durch die fundierten Einzelanalysen und dürfte sowohl für Literatur- als auch für Geschichtsliebhaber eine willkommene Lektüre sein.

Edith Ottschofski




Jürgen Lehmann, Gerald Volkmer (Hg.): „Rumäniendeutsche Erinnerungskulturen. Formen und Funktionen des Vergangenheitsbezuges in der rumäniendeutschen Historiografie und Literatur“, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, 2016, 24,95 Euro, ISBN 978-3-7917-2784-4.

Schlagwörter: IKGS, München, Tagung, Buchvorstellung, Erinnerungen, Rumäniendeutsche

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