22. März 2018

Bleibende Werte für Kulturgeschichte: Dr. Irmgard Sedler in Ruhestand verabschiedet

Anlässlich eines besonderen Ereignisses zog es viele Interessierte der deutschen und siebenbürgischen Kulturlandschaft am 2. März in das Museum im Kleihues-Bau in Kornwestheim. Eröffnet wurden nicht nur zwei Ausstellungen: „Das Reich war uns kein Traum mehr – Wahn und Wirklichkeit. Kornwestheim 1931-1945“ und „Hap Grieshaber & Gert Fabritius: Biblische Geschichten – Parabeln des Gegenwärtigen“, sondern auch die langjährige Leiterin der Kornwestheimer Museen, Dr. Irmgard Sedler, wurde mit einem feierlichen Festakt in den Ruhestand verabschiedet.
Zahlreich strömte das breitgefächerte Publikum in den Saal. Prominente Vertreter aus der Museumszene und der Wissenschaft waren aus Berlin, Bonn, Freiburg, Halle, München, Münster, Stuttgart und Ulm angereist. Über den Saal senkte sich erwartungsvolle Stille, in die die ersten Akkorde des Allegros der Sonate Op. 24 Nr. 5 für Klavier und Violine von Ludwig van Beethoven erklangen, solide dargeboten von den jungen Künstlerinnen Lavinia Laukner und Viviane Ruzgys. An die Begrüßung durch die Oberbürgermeisterin von Kornwestheim, Ursula Keck, schloss sich der 2. Satz der Sonate Nr. 1 Op. 80 von Sergej Prokofjew an, lebensvoll und turbulent: „marcatissimo e pesante“ – beinahe wie als Lebensmotto der Geehrten.

Irmgard Sedler wurde 1951 in Alzen geboren. Sie absolvierte nach dem Studium der Germanistik und Romanistik ein Aufbaustudium der Museologie und Ethnologie. Seit 1982 war sie als Kustodin im Brukenthalmuseum und danach als Abteilungsleiterin im Volkskundemuseum „Astra“ angestellt. 1991 siedelte sie mit ihrer Familie in die Bundesrepublik Deutschland aus. Bereits ein Jahr später begann sie ihre Tätigkeit im Schulmuseum Nordwürttemberg, das zu den Museen der Stadt Kornwestheim gehört. Im Jahr 2000 übernahm sie deren Leitung. Anhand von über tausend exemplarisch ausgewählten Exponaten gibt die Dauerausstellung Einblick in den schulischen Alltag vergangener Jahrhunderte. Die Geschichte des Schulwesens in Württemberg bis 1945, der Wandel im Unterricht und die gesellschaftliche Stellung von Schule und Lehrerstand auf dem Land werden behandelt, ebenso werden die unterschiedlichen Bildungswege von Mädchen und Jungen in der überlieferten Dorfgesellschaft dokumentiert. Ergänzt wird die Dauerausstellung durch Sonderausstellungen.

Schon im Jahr 1992 hatte Irmgard Sedler im Heimatmuseum in Bad Goisern in Oberösterreich ein Landlermuseum eingerichtet, das mit seinen über 350 ausgestellten Originalobjekten einen Überblick über die 270-jähirge Geschichte der Landler bietet. Für die Konzeption und den Aufbau erhielt sie 1995 den Österreichischen Museumspreis. Den Landlern widmete sie auch ihre Doktorarbeit, die von Prof. Dr. Thomas Nägler betreut wurde, und die sie 2003 mit „summa cum laude“ an der „Lucian-Blaga“-Universität Hermannstadt abschloss: „Die Landler in Siebenbürgen. Gruppenidentität im Spiegel der Kleidung“. Eine zentrale Erkenntnis ihrer Arbeit, die auch für die aktuellen Integrationsdebatten von Bedeutung ist, lautet: „Identitäten sind stetig im Wandel begriffen, Wandel geschieht immer in Interaktion der einen Gruppe mit ihrem Umfeld“. Aktion und Reaktion bedingen den Wandel, der als Adressat immer auch dieses Umfeld hat.
Die Oberbürgermeisterin der Stadt Kornwestheim, ...
Die Oberbürgermeisterin der Stadt Kornwestheim, Ursula Keck, (2. von links) verabschiedet Dr. Irmgard Sedler mit einem Blumenstrauß, links der siebenbürgische Künstler Gert Fabritius. Foto: Yakup Zeyrek
Ebenfalls im Jahr 2003 übernahm Irmgard Sedler die Leitung der Galerie der Stadt Kornwestheim, die seit drei Jahren geschlossen war, und baute sie neu auf. Ihr ist es zu verdanken, dass sich die Galerie von einer Kunsthalle ohne Sammlung zu einem Museum mit 3000 Gemälden, Arbeiten auf Papier und einigen Skulpturen vorwiegend deutscher Kunst aus dem 20. und 21. Jahrhundert entwickelte. Max Ackermann, Ulrich Barnickel, Gert Fabritius, HAP Grieshaber, Manfred Henninger, Manuela Tirler und Katharina Zipser, um nur einige zu nennen, stehen für die Bandbreite und die grenzüberschreitende Konzeption. Hochkarätige Kunst, kulturgeschichtliche Ausstellungen sowie stadtgeschichtliche Präsentationen bildeten das Profil des „Museums im Kleihues-Bau“ unter Irmgard Sedler, in das die „Galerie der Stadt Kornwestheim“ umbenannt wurde. Renommierte Künstler des 20. Jahrhunderts wie Georg Baselitz, Joseph Beuys, Ida Kerkovius, Max Lingner, Markus Lüpertz, Werner Pokorny oder A. R. Penck zogen zahlreiche Besucher von außen an. Künstler aus ganz Europa, die sich in ihren Werken den großen existenziellen und gesellschaftlichen Fragen widmen, wurden hier ausgestellt. Gefördert wurden auch junge Künstler wie die Fotografin Cathleen Naundorf, die heute im Victoria and Albert Museum ausstellen. Sedler etablierte die Fotografie im Museum. 2006 fand die erste große Leni-Riefenstahl-Ausstellung statt, die nicht von der Filmemacherin selbst autorisiert war. Das Konzept „Fotografie, Film, Dokumentation“ leitete die konsequent kritische Hinterfragung von Person und künstlerischem Schaffen im Spannungsbogen von historischem Kontext und zeitüberdauernder Kunst ein.

Über 70 vielbeachtete Ausstellungen in Kornwestheim wurden von Irmgard Sedler kuratiert und rund 40 Ausstellungskataloge herausgegeben, die die Grundlage für weitere Studien bilden. Hinzu kamen kulturgeschichtliche Ausstellungen und stadtgeschichtliche Präsentationen, die als Fallstudien zu den jeweils behandelten Bereichen anzusehen sind. Angesprochen wurden auch Besucher, die mit zeitgenössischer Kunst wenig anfangen können. Es gab Ausstellungen zur Eisenbahngeschichte, zur Bahnhofsstraße und zu Salamander, einem der größten Schuhhersteller Europas. Die Kultur- und Firmengeschichte sowie die Bedeutung für die Stadtwerdung Kornwestheims waren gänzlich in Vergessenheit geraten.

Die Oberbürgermeisterin der Stadt Kornwestheim, Ursula Keck, dankte in ihrer Laudatio Irmgard Sedler für ihren „unermüdlichen, weit über das übliche Maß hinausgehenden Einsatz für unsere Museen“, „für die bleibenden Werte, die Sie geschaffen“ und „für das Renommee, das Sie unserem Museum im Kleihues-Bau verschafft haben“. Sedlers letzte große stadtgeschichtliche Ausstellung „Das Reich war uns kein Traum mehr“ widmet sich der NS-Zeit und ist bis zum 13. Januar 2019 zu sehen. Für diese Ausstellung gab es zunächst kaum Exponate. Nach einem Aufruf des Museums steuerte die Bevölkerung materielle Zeugnisse bei und bereicherte somit die Schau. Geschichte ist eher am Objekt und am Einzelschicksal nachvollziehbar.

„Heil ich!“ begrüßte „Eva Braun“ die rund 280 Gäste. Die junge siebenbürgische Schauspielerin Eva-Maria Piringer war in diese Rolle geschlüpft. Kalt wurde es auf einmal in dem dichtgedrängten Saal. Eva Braun, inzwischen verheiratet mit Adolf Hitler, breitete ihre Vorstellung von einem glücklichen Leben an der Seite des geliebten Mannes aus. Überzeugend stellte Piringer die letzten Stunden im Führerbunker dar. Die Autorin Christine Brückner ließ in den „Ungehaltenen Reden ungehaltener Frauen“ tragische Frauenfiguren der deutschen Geschichte zu Wort kommen, Eva-Maria Piringen bot nun den Monolog der Eva Braun in Eigenregie dar und eröffnete damit die Ausstellung.

Zeitgleich wurde eine Werkschau von HAP Grieshaber und Gert Fabritius eröffnet: „Biblische Geschichten – Parabeln des Gegenwärtigen“. Irmgard Sedler setzt damit einen bildgewaltigen Schlusspunkt. HAP Grieshaber (1909-1981) erneuerte nach dem Zweiten Weltkrieg den Holzschnitt und entwickelte ihn zum eigenständigen monumentalen Wandbild. Hier stehen sich zwei prominente Vertreter des modernen Holzschnitts aus unterschiedlichen Generationen gegenüber, die sich kannten und schätzten. Die Ausstellung beginnt mit einem von Grieshaber geschnittenen Motiv, das er 1977 Gert Fabritius widmete und ihm nach Bukarest sandte. Bis zum 29. Juli sind Übertragungen aus der Bibel zu sehen. Darunter Grieshabers „Kreuzweg der Versöhnung“ und sein berühmter „Totentanz von Basel“, der sich auf die Allegorien des Mittelalters bezieht und keine Unterscheidung von Arm und Reich oder Alt und Jung kennt. Gert Fabritius‘ „Totentanz“ aus dem Jahr 1989 bezieht tagespolitisch Stellung und greift aktuelle Themen auf, beispielsweise „Tod und Atom“, „Tod und Luft“ sowie „Tod und Müll“. Er stellt in 14 Arbeiten – analog zu den Stationen des Kreuzweges – Gefahren dar, die die Menschen selbst verursacht haben. Bei dieser breitgefächerten Werkschau lernt man wieder symbolisch bildhaft zu sehen, frappierend in ihrer Aktualität, ausgeführt in der soliden Beherrschung des traditionsreichen Holzschnitts anhand von christlich religiösen und kulturgeschichtlichen Motiven. Der Maler, Grafiker und Holzschneider Gert Fabritius stellte bereits in den Jahren 2007 und 2010 im Kleihues-Bau aus.

In den Kornwestheimer Museen hat Irmgard Sedler immer wieder auch siebenbürgischen Themen und Künstlern Raum geboten. Eine der ersten Ausstellungen (2003/04) war „Henri Nouveau – Jenseits der Abstraktion“ gewidmet, es folgte „Ausbruch aus der Tradition – Malerei der siebenbürgischen Moderne“ (2006), die 80 Gemälde aus Museums- und Privatbesitz aus Deutschland, Ungarn und Rumänien zeigte. Mit einer Werkschau (2011) war der Bildhauer Kurtfritz Handel, mit einer Retrospektive (2014) die Malerin Katharina Zipser (KATH) vertreten.

Zudem kuratierte Irmgard Sedler viele Ausstellungen im In- und Ausland, beispielsweise in Frankreich, Österreich, Rumänien, Russland, in der Slowakei und Schweiz. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Kultur- und Identitätsmechanismen im multiethnischen Raum der ehemaligen Donaumonarchie. Sedler hat zahlreiche Publikationen zu kulturgeschichtlichen Themen sowie zur Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts veröffentlicht. Sie ist Mitglied in der Kommission für Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa und seit 1999 ehrenamtliche Vorsitzende des Trägervereins Siebenbürgisches Museum e. V. in Gundelsheim am Neckar. Ebenfalls ehrenamtlich wirkt sie im Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturrat e.V., in den Vorständen des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde, des Siebenbürgischen Kulturzentrums „Schloss Horneck“ und des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland.

In ihrem erfüllten „Unruhestand“ wird sich Irmgard Sedler auch weiterhin der wissenschaftlichen Forschung, dem gesellschaftlichen Auftrag von Museen sowie ihren vielfältigen Ehrenämtern widmen – nicht zuletzt aber auch der Familie, die ihr oftmals den Rücken frei gehalten hat.

I. Schiel

Schlagwörter: Sedler, Ruhestand, Kornwestheim, Kunst

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