18. Dezember 2018

Notrettung für ein "Notwendwerk": Siebenbürgische Bibliothek erwirbt ein frühes Werk von Gusto Gräser

Was ist ein Maler ohne Obdach und Werkstatt? Er muss zum Dichter werden. Zum Dichten reicht ein Bleistift und ein Fetzen Papier. Zwanzig Jahre lang war der gelernte Maler und Bildhauer Gustav Arthur Gräser (der sich Gusto nannte) in der Art und Weise des Bergpredigers unterwegs gewesen, ein haus- und besitzloser Wanderer in Kutte und Sandalen, als er endlich in dem Dresdner Lithographen und Akademieprofessor Georg Lührig einen Freund fand, der ihn in sein Haus aufnahm und sein Atelier mit ihm teilte.
In einem wahren Schaffensrausch entstanden nun zwei Werke, die Bild und Wort vereinigten, die einzigen dieser Art, die je in seinem Leben gedruckt wurden: die „Zeichen des Kommenden“ und das „Notwendwerk“. Von letzterem soll hier die Rede sein, aus gegebenem Anlass.

Schon die äußere Form dieses Werks ist originell: weder Loseblattsammlung noch Buch, sondern ein Zwitter von beidem. Jeweils zehn Gedichtsprüche und eine Zeichnung werden in fünf Pergamin Hüllen zusammengefasst, aus praktischen Gründen. So konnte Gräser entweder einzelne Blätter oder einen Elferblock oder das ganze „Buch“ auf der Straße verkaufen oder verschenken. Hier ging es nicht um „Kunst“, sondern um die schriftliche Fortsetzung seines alltäglichen Handwerks: die Menschen Auge in Auge anzusprechen, ihnen einen Stoß, einen Denkanstoß zu geben. Seine philosophischen Langgedichte kamen dafür nicht in Frage, es mussten kurze Sprüche zu aktuellen Themen sein. Originell auch die Gestaltung: Auf mattweißes Papier wurden in Gelb, Grün oder Rot halbabstrakte Ornamente aufgetragen, die an organische Formen erinnern, an Quellen, Vogelschwingen oder Meereswellen. Auf diesen freundlichen Farbgrund setzte die Schrift in schwarzer Tusche einen pathetischen Kontrast. Prophetischer Ernst, gemildert durch heiteres Spiel und gelassenen Humor.
Gedichte to go? Gusto Gräsers „Notwendwerk“ ...
Gedichte to go? Gusto Gräsers „Notwendwerk“ (1926) entstand in Dresden in der Werkstätte des Rumänien eng verbundenen Lithographen Georg Lührig. Foto: Stefan Măzgăreanu
Gräser hatte kein Glück mit diesem Werk. Als er im Herbst 1926 von Dresden nach München kam, um dort Vorträge zu halten, wurde er sofort verhaftet. Seine Auftritte in der Münchner Revolution von 1919 waren nicht vergessen. Nur der Protest der literarischen Prominenz, vor allem der von Thomas Mann, konnte ihn vor der Ausweisung aus dem ganzen Deutschen Reich bewahren. Der Siebenbürger galt ja mittlerweile als Rumäne. Er flüchtete sich nach Berlin. Die 700 Mappen seines „Notwendwerks“, die er in Dresden zurückgelassen hatte, waren damit verloren. Das einzige vollständig erhaltene Exemplar wurde jetzt von den Freunden und Fördern der Siebenbürgischen Bibliothek mit beträchtlichen Opfern erworben.

Hermann Müller

Schlagwörter: Gusto Gräser, Siebenbürgische Bibliothek, Dichter

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