10. Februar 2022

Die surreale Schaffensphase (1919-1921) des Schriftstellers Otto Alscher

Im Sommer 1919 war Otto Alscher von Budapest nach Temeswar umgezogen und bezog eine Wohnung im „Scherter-Haus“, wo er getrennt von der Ehefrau, Leopoldine Elisabeth, und den beiden Kindern, Helmut und Helga, in der Nähe der Redaktion des Banater Tagblatts, am Domplatz, lebte. Thematisch und stilistisch setzt er sich mit der „transformierenden Darstellung von Empfindungen, mit Gefühls-, Empfindungs-, Sinnes- oder Seelenbildern“ auseinander (wiener kinetismus. eine bewegte moderne, belvedere, 2010), unter dem Einfluss der Psychoanalyse, der reformistischen Ansätze der Wiener Bildungspolitik und des „Wiener Kinetismus“.
In der Geschichte „Der Mann, das Mädchen und ein Affe“ (in: „Ostland“, Hermannstadt, 1919, Heft II, auch in: „Tier und Mensch“, 1928) wirft Alscher einen analytischen Blick auf seine Ehefrau: „Ilse ging stets vorgeneigt. Dabei zog sie ihre schmalen Schultern zusammen, als wolle sie sie verbergen, als schäme sie sich der knospenden Brust.“ Ihre Haltung deutet darauf hin, dass ein gequälter Affe mit ihrem Unterbewussten verkettet ist und ihre Phantasie durch traumatische Kindheitserlebnisse fesselt. Lust zur irdischen Liebe verspürte Leopoldine Elisabeth nie, ihre trübe Vergangenheit bedrückt die Familie, sie selbst bleibt von ihren Zukunftsträumen entfremdet. „Die Kinderträume lassen ja keinen Zweifel darüber, dass ein bei Tage unerledigter Wunsch der Traumerreger sein kann“, heißt es in Sigmund Freuds „Traumdeutung“.

Schließlich stirbt der Affe in einem Wintergarten, ein Attribut der „Bequemlichkeitskultur“ – von der sich Alscher bereits in seinem ersten Selbstporträt, „Gogan und das Tier“ (S. Fischer Verlag, 1912) verabschiedet hat – und des Dünkels seiner Leopoldine Elisabeth. Ein unmenschliches Umfeld hat den Charakter der Figuren deformiert, das Mädchen und der Affe leiden wegen jenen, die dem Tier ein eigenes Leben und einen eigenen Tod verwehren. Das Elend des gefangenen Affen belegt Schopenhauers These über den menschlichen Charakter: „Kein Tier jemals quält, bloß um zu quälen; aber dies tut der Mensch, und dies macht den teuflischen Charakter aus, der weit ärger ist, als bloß der tierische.“ Über das Fernweh im Bewusstsein des Tiers hat sich Alscher durch Bruegels „Zwei Angekettete Affen“ ein Bild gemacht. Der Affe ist in ein herzloses, enges Milieu geraten, das Goethe in den „Wahlverwandtschaften“ so beschreibt: „Wie man es nur über das Herz bringen kann, die garstigen Affen so sorgfältig abzubilden. Man erniedrigt sich schon, wenn man sie nur als Tiere betrachtet; man wird aber wirklich bösartiger, wenn man dem Reize folgt, bekannte Menschen unter dieser Maske aufzusuchen.“

Otto Alschers Kinder, die 1915-1919 die Volksschule in Budapest besucht hatten, wurden in Temeswar eingeschult. Helmut Alscher wird 1927 an dem deutsch-ungarischen „Realgymnasium“ für Jungen die Reifeprüfung ablegen, Helga Alscher ist hier sieben Jahre lang „Externistin“. Vom 29. September bis 12. Oktober liefen die Einschreibungen, am 14. Oktober begann der Unterricht in vier Räumen, verantwortlich für die Eröffnung war der Staatssekretär Lutz Korodi (laut Hans Dipplich und Christof Deffert, in der Monografie: „Das Staatliche Deutsche Realgymnasium zu Temeswar. Die Deutsche Mittelschule Nr. 2 ‚Nikolaus Lenau zu Temeswar‘“).

Staatssekretär Lutz Korodi (1867-1954) ...
Staatssekretär Lutz Korodi (1867-1954)
Der Neuanfang hat im Banat Schule gemacht, im eigentlichen Sinne durch die Gründung einer Schule mit deutscher Unterrichtsprache und im übertragenen Sinne durch den Anspruch auf eine multikulturelle Kultur. Alscher multipliziert Lutz Korodis Zukunftsidee des „Umdenkens“ als „Kunst der Gegenwart“ (Umdenken. Die Kunst der Gegenwart. In Ostland. Monatsschrift für die Kultur der Ostdeutschen, 1. Heft, Oktober 1919): „Wohl wird es eine geraume Zeit dauern, bis auch der einfachste Mann rumänischer Abkunft dies vornehmste Staatsgrundgesetz verstandes- und gefühlsmäßig sich ganz zu eigen macht, aber grundsätzlich ist, das wollen wir festhalten, den Deutschen wie den Madjaren Groß-Rumäniens am Tage von Karlsburg aus freien Stücken, ohne jeden Zwang von außen, ein Wechsel ausgestellt worden, dessen restlose Einlösung die wichtigste Vorbedingung ist für die gedeihliche Entwicklung, vielmehr für den dauernden Bestand dieses Staatswesens.“

Diesen Toleranz-Appell verstärkt Alscher durch eine Vielfalt von Motiven, die auf die Spuren anderer Texte bringen und die die autobiografisch geprägte Hauptgestalt des „Kämpfer : Romans“ (Banater Tagblatt, November 1919 bis April 1920) ins Heroische transformieren. Online in der Martin-Opitz-Bibliothek: https://www.martin-opitz-bibliothek.de/de/elektronischer-lesesaal?action=book&bookId=0456903. Die Folgen 36, 38, 50, 53, Februar-März, 1920 scheinen unwiederbringlich verloren. Bislang unbekannt ist die Auswahl der 43 Feuilletons, die in der Deutschen Tagespost vom 10. Januar bis 6. März 1920 erschienen sind.

Der Titel spielt auf Anthroposophie und Erlösungshoffnungen durch Zarathustra an, als Referenzwerk des Kämpfer-Psychogramms dient Rudolf Steiners „Friedrich Nietzsche – Der Kämpfer Gegen Seine Zeit“ (1895. In Rudolf Steiner Archiv, http://anthroposophie.byu.edu, 4. Auflage, 2010) Während der Schulalltag des „Realgymnasiums“ - vom Domplatz um die Ecke - ein unbeschwertes Miteinander bot, widerspiegeln Alschers surreale Texte einen Konflikt mit gesellschaftlichen Tabus. Motive aus surrealen Zeiträumen stimmen für seine Entscheidung zu einer Lebensgemeinschaft mit Elisabeth Amberg, der Tochter des gewesenen Direktors der Lehrerpräparandie, Josef Amberg, der höchstwahrscheinlich die Gründung einer deutschen Sektion befürwortete und miterwirkte. Sie ist: „Insel [in] letzter Einsamkeit [und] tiefstes Ziel“ (34. Folge), „denn nur im Endlosen wurzelt die Seele des Menschen.“ (65. Folge) Das fragmentarische und feuilletonistische Selbstbildnis wurde jedoch kaum wahrgenommen. In dieser veränderten Welt, in „dem hastigen Wellenschlag des Lebens“ (22. Folge) blieben Kunstwerke privat.

Stellt Alscher seine Ehefrau Leopoldine Elisabeth der richtigen Elisabeth gegenüber, so kommt er zur Schlussfolgerung, dass sich die Seele den Körper baut. „Das Klavierspiel brach ab, ein Mädchen kam durch die Tür. Sie ging etwas gebeugt, ihre etwas tiefliegenden dunklen Augen glühten wie von tiefer innerer Erregung, ihr Schritt war rasch und selbstwillig. Sie nahm dem Knaben heftig den Brocken aus der Hand und versuchte ihn auf den Kasten hinauf zu reichen. Der Arm, reichte nicht, auch straffte sich die Bluse über ihrer vollen Brust und presste sie. Einen Stuhl, der nahe stand, zog sie mit raschem Griff heran und stieg hinauf. Und dann fütterte sie das Eichhörnchen, stand in ihrer ebenmäßig schönen Gestalt hoch auf dem Stuhle und neigte ihre Wange zärtlich dem Tiere zu.“

Die gut gebaute Protagonistin der Erzählung „Hans“, Ostland, 1921, lässt sich auf ein magisch-rauschhaftes Wagnis ein, an ihre Liebe zu Hans Hoff muss das Eichhörnchen Hansi glauben. Der gemeinsame Traum stellt das Paar in hedonistische Pflicht. „Über euch hinaus sollt ihr einst lieben! So lernt erst lieben! Und darum musstet ihr den bittern Kelch eurer Liebe trinken.“ (Friedrich Nietzsche: Von Kind und Ehe) Ihrem geliebten Otto wird Elisabeth durch ein symbolisches Tieropfer mitteilen, dass sie ihre bürgerliche Existenz aufzugeben bereit ist. Der Titel der Geschichte über die Macht der Fügungen verweist auf den Maler Hans Hoffmann, dessen Gemälde „Vertreibung aus dem Paradies“, datiert: um 1581/90, Alscher aus dem Wiener Kunsthistorischen Museum bekannt ist. Während ein unschuldiges Reh-Paar sich in der Mitte des Gemäldes anblickt, sieht das menschliche Gegenüber zwei entgegengesetzte Ausschnitte des Himmels: Adam schaut zurück zum richtenden Engel und Eva geht blind vor Tränen ins Ungewisse. Ein Eichhörnchen, das sich in einer Baumkrone versteckt, betrachtet Evas trostlosen Himmel. Dieses böse Omen wird Hedi, alias Elisabeth Amberg, abwenden. Ihre Verzweiflung gipfelt darin, dass sie Hansi in einen tödlichen Rausch mit einer Überdosis Mandeln versetzt. „So spricht der Traum und noch viel mehr der Rausch von Morphium, Chloral und Haschisch immer in Symbolen, und das scheint geradezu, wie der Mensch über das tägliche Gemeine hinausgetrieben und erhöht wird“, heißt es in Hermann Bahrs Essay „Symbolisten“. „Und plötzlich warf sie sich auf den toten, starren Leib, presste ihr Gesicht darauf, schluchzte erschüttert und schrie in tiefster Verzweiflung: ‚Hans, Hans!’“

Die Protagonistin hat das Abschiedsgeschenk, ein symbolisches Eichhörnchen, abgewiesen und Alscher hat sich für die vielen literarischen „Leckerbissen“, die sich die Ehefrau in ihrem autobiografischen Trivialroman „Ein Jahr“, 1916, aneignete, revanchiert. „Sie pflegte täglich eine Weile zu lesen, weniger aus besonderem Interesse, als aus Gewohnheit und Langeweile. Manchmal freilich war sie gespannt auf einen neu erschienenen Roman und las ihn, etwa so, wie man einen seltenen Leckerbissen gierig hinunterschlingt.“ (Else Alscher: „Ein Jahr“)

Otto Alscher und Elisabeth Amberg erwerben das Haus im Gratzkatal wieder, das Leopoldine Elisabeth, 1915, als er einberufen wurde, verkauft hatte, und bereiten ihren Rückzug in die Wildnis vor. Ins Abseits gerückt, wird Alscher die Anleihen am Wiener Kinetismus in geordnete Bahnen lenken und in einem Augenblick der Erkenntnis die simultane, parallele Wahrnehmung aus der tierischen und menschlichen Sphäre zusammenführen.

Helga Korodi


Schlagwörter: Schriftsteller, Alscher, Temeswar, Surrealismus

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