4. Dezember 2022

„... was ich ersehnte“: Ingeborg Galters Erinnerungen an ihren Vater Erwin Neustädter (1897-1992)

Am 1. Juli 2022 erfüllten sich 125 Jahre seit der Geburt des Kronstädter Schriftstellers Erwin Neustädter, der dem literaturinteressierten Publikum wohl als Dichter, Schriftsteller und Zeichner noch einigermaßen bekannt sein dürfte. Aus Anlass des Geburtsjubiläums fand in der Evangelischen Akademie Hermannstadt eine Veranstaltung statt, in der Dozent Dr. Sunhild Galter einen Vortrag hielt: „Bisher hab ich dem Herzen nur gelauscht... Zum 125. Geburtstagsjubiläum von Erwin Neustädter“. Wolfgang Wittstock hat, ebenfalls aus Anlass des Geburtsjubiläums, Erwin Neustädter in die Liste bekannter Kronstädter Persönlichkeiten auf der Homepage des Demokratischen Forums der Deutschen im Kreis Kronstadt aufgenommen und in einem längeren Artikel gewürdigt. Die Tochter von Erwin Neustädter, Ingeborg Galter geb. Neustädter, hat 1992, im Todesjahr ihres Vaters, ihre Erinnerungen zu Papier gebracht, die hier nun einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden: „....was ich ersehnte – Erinnerungen an meinen Vater Erwin Neustädter“.
Erwin Neustädter, Bleistiftzeichnung, Untere ...
Erwin Neustädter, Bleistiftzeichnung, Untere Burgpromenade, 1949
Als ich Vater das letzte Mal besuchte, das war im Februar 1992, sprachen wir viel über Erinnerungen. Und wenn ich Erlebnisse aus meiner frühen Kindheit erwähnte, sagte er: „Ja, ich weiß noch, es ist sehr, sehr lange her.“

Weißt du noch, Kind, wie schön sie waren,
die Stunden vor deinem Schlafengehn –
wenn rot hinterm Wald die Sonne verglomm
und silbern der Mond den Himmel erklomm,
gar märchenhaft feierlich anzusehn?

Wir saßen zu zweit nach dem Abendbrot
auf des Hauses Schwelle zum Garten;
du hattest dich heiß und müde getollt
und hättst, wie gewohnt, zu Bett gesollt,
erbatest dir aber, mit mir zu warten.

Zu warten, bis alles verzaubert dastand,
gehüllt in silberig Mondlichtgewand
und bis an des Himmels dunklem Samt
der Sterne golden Gefunkel entflammt;
zu warten, bis all die Stimmen erwacht,
ihr Lied zu singen der Sommernacht
und auch die stummen Wurzelwesen
im nächtlichem Duften sich würden erlösen.

Wir saßen eng aneinandergeschmiegt;
vor uns der Blumen duftende Fülle,
und dann die Wiese – bleich schimmernd im Licht,
umrahmt von Bäumen und Strauch-dickicht
wie ein Teich in des Ufers Hülle;
dahinter, in dunkel lagernder Wucht
die Zinne – ein schlummernder Riese.

Es ist ein Zauber seltsamer Art,
den nur ein fühlsames Herz gewahrt:
Das Tageslicht trennt, das Mondlicht verbindet!
Denn nicht nur der Farben Vielfalt verschwindet –
gar Manches, was tagsüber feindlich entzweit,
versöhnt sich bei Mondlicht und Dunkelheit.

Das Kleinliche sinkt, als unwesentlich, hin,
der einfach Umriss weist Wesen und Sinn,
und klarer vernimmt in der Stille der Nacht
das Herz, was im Herzen des Nächsten hat Macht.
Es tut sich ohne Worte kund, denn alles wird zu beredtem Mund:

Das schweigende Haus und wir beide hier,
die Bäume, die Blumen, das Waldgetier –
Wir sind einand` nimmer fremd und feind,
wir sind zur Gartengemeinschaft geeint;
uns nährt dieselbe Erde und Luft,
wir alle tragen i h r e n Duft!

Ja, der Garten hier, zwischen Wald und Stadt,
eine eigentümliche Prägung hat;
die drückt er jedem der Seinen ein
als unverlierbaren Heimatschein.
Auch du, mein Kind, wirst von diesen Tagen
fortab die Prägung im Herzen tragen.
Und wenn wir auch Heim und Heimat verloren –
ward unverlierbar im Herz sie geboren,
und wo du auch weilen wirst in der Welt,
dein Wesen i h r e Prägung behält!

Erwin Neustädter, 1928. Foto: Oskar Netoliczka ...
Erwin Neustädter, 1928. Foto: Oskar Netoliczka
Diese Verse sprechen seine Liebe zur Heimat und Natur, seine Verbundenheit und Gemeinschaft mit Tieren und Pflanzen viel besser aus, als ich das jemals erzählen könnte. Wir hatten immer Tiere um uns, Hunde und Katzen, mit denen er sich gerne beschäftigte und die sehr an ihm hingen. Menschen gegenüber war er oft herb und verschlossen, den Tieren gegenüber oft streng, aber immer liebevoll.

Erinnerungen – da war die Schulzeit

Wir gingen oft gemeinsam zur Schule; er ins Gymnasium, ich in die Volksschule. Manchmal durfte ich bei Schulfeiern dabei sein, wenn die Gymnasiasten etwas aufführten oder Vater einen Vortrag hielt. Dann war ich stolz, denn was ich hörte, war sehr schön und Vater hatte es die Schüler gelehrt.

Dann kam der August 1944 – eine Welt brach zusammen. Vater, mit dem ich zusammengewohnt hatte, wurde von der Straße weg verhaftet, ins Lager gebracht, eingesperrt – für mehr als zwei Jahre. Für uns beide ein harter Schlag, denn ich verstand nicht, was Vater Böses getan hatte. Das war nur der erste Schlag. Noch im gleichen Herbst musste nun ich das Haus im Garten räumen, da russische Offiziere dort wohnen wollten. In einigen Stunden musste geräumt sein und so konnte ich nur das Wesentlichste zusammenraffen. Was war für Vater besonders wertvoll? All seine Schriften, einige Bücher und Kleider. Als er Ende 1946 heimkam, war es nicht mehr ins eigene Haus, sondern ein Zimmer in der Burggasse, wo er zusammen mit seiner alten Stiefmutter wohnen musste, während ich bei den Großeltern mütterlicherseits untergebracht war. „Eine Heimkehr ohne Heim, ohne Familie, ohne Besitz noch Beruf“ – so sagte er damals. Dieser Stimmung entwuchs das Gedicht „Letzte Zuflucht“.

Zu diesen Enttäuschungen aber kam eine Freude – er durfte wieder unterrichten. Diesmal war auch i c h seine Schülerin. Das waren unvergessliche Stunden, und die Dichter, die wir damals durchnahmen, leben noch heute in unseren Herzen.

Doch die Freude währte nicht lange. Nach der Schulreform wurde auch er aus dem Lehramt entlassen. Trotz des Verbotes, sich in Häusern zu versammeln, hielt er bei uns in der Burggasse Vorträge. Am besten erinnere ich mich noch an die Vorträge über die Ilias und die Odyssee, an Goethe und Nietzsche. Diese Werke brachte er uns so nahe, dass sie uns zu wertvollen Lebensbegleitern wurden.

Erwin Neustädter, Tuschefeder, Kampf im ...
Erwin Neustädter, Tuschefeder, Kampf im winterlichen Wald, 1918
Bald darauf folgte 1952 die Zwangsübersiedelung nach Elisabethstadt und die Arbeit auf den Feldern der Staatsfarm. Nie hörte ich Vater über diese ungewohnte Arbeit klagen. Doch tat es ihm oft leid, während dieser Zeit nichts Wesentlicheres schaffen zu können. Seine Selbstdisziplin war beispielhaft. Die Wohnung war sehr kalt und zugig. Trotzdem turnte er eisern jeden Tag seine fünf Minuten in der Früh und fünf Minuten am Abend. Im Winter ging er Rebstöcke zuspitzen, kam ganz erfroren heim, setzte sich aber gleich zum Schreiben oder Lesen hin, um keine Zeit ungenützt zu verlieren. Damals entstanden einige Gedichte, zum Beispiel „Auf dem Feld von Halvelagen“.

1954 kam dann die Rückkehr nach Kronstadt. Bald konnte er Ingeborg, geb. Reiner, heiraten und wieder in die Burggasse ziehen, diesmal in den mittleren Teil, wo Reiners ihre Wohnung hatten. Arbeit gab es nur beim „Aprozar“ und beim D.A.C. (Anm.: Tierkörperverwertung).

Doch blieb noch Freizeit, um einige der schönsten Gedichte niederzuschreiben und an Entwürfen von Romanen zu arbeiten. Es waren kurze, friedliche Jahre, dann kam der nächste Schlag: Verhaftung wegen einigen Gedichten – sogar Verurteilung und Haft im Gefängnis in Zeiden. Aus dieser Zeit stammen mehrere Gedichte. Er hatte sie sich jahrelang aufgesagt und dann gleich niedergeschrieben, als er 1963 entlassen wurde. („Zellenwanderung“) Dazu sagte er: „Nein, Kunstwerke sind sie wohl nicht geworden, diese Gedichte, die da entstanden; es war dies aber auch nicht meine Absicht ..., sie entstanden, wuchsen, ganz ungewollt. Dies waren Naturprodukte, von innerem Zwang heraus getrieben, um den Überdruck loszuwerden, Früchte der Bedrängnis – darum klammerte ich mich anfangs an den Reim, bis sich mein Gedächtnis einigermaßen geschult hatte.“

Vater hat schon immer gerne und oft gezeichnet. Seine Bleistift- und Tuschezeichnungen erfassen mit wenigen Strichen das Wesentliche. Nach seiner Entlassung aus der Haft entstanden einige Skizzen – erschütternde Zeugnisse seines Erlebens. Ein Mensch allein, einsam, eingeschlossen.

Erwin Neustädter, Porträt Hans Eder, 1949 ...
Erwin Neustädter, Porträt Hans Eder, 1949
1965 gelang die Ausreise nach Deutschland. Dort konnte Vater noch einiges schreiben – so den Erlebnisbericht „Mensch in der Zelle“ und Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in Kronstadt: „Im Glanz der Abendsonne“. (Anmerkung: Beide Werke wurden inzwischen veröffentlicht) Vieles wird lebendig, wenn man hier über Kronstadt vor dem Ersten Weltkrieg, über das Honterusfest oder den Coetus liest.

Eine Freude wurde ihm 1974 beschert, als sein Roman „Mohn im Ährenfeld“ noch einmal aufgelegt wurde. Mit Liebe hat er auch die Gedichtsammlung „Dem Dunkel nur entblühen Sterne“ zusammengestellt, die 66 seiner schönsten Gedichte enthält (gedruckt 1976). Die anderen Schriften blieben seine lieben Freunde. Vieles war in seinem Inneren verschlossen. Er war zeitlebens „Im Panzer“. Darunter aber schlug ein warmes und liebendes Herz, das des Panzers bedurfte, weil es sehr empfindsam war.


Mein Weg

Ich seh den Weg zurück,
den ich gekommen –
War es ein Weg?!
Gewählt von mir?
Gebahnt?
Mit Weisern auf ein Ziel hin?
Mit Warnungstafeln
für den Unerfahrnen?

Der Tafeln gabs zwar viele,
doch nicht für den,
der eignem Kompass folgt.


So wurd‘ er denn zu einem Hin und Her
und Auf und Ab
gleich Ebb‘ und Flut;
zum Ringen zwischen innerm Drängen
und unausweichlich harten äussern Zwängen.


Was Wunder dass mein Wesen sich verbissen wehrte
und seine Kraft im Widerstand verzehrte?

Und letztlich: da nur Schweigen
noch für ein Restchen Freiheit bürgte,
ich qualvoll meine Geisteskinder würgte,
um nicht zum Heucheln mich zu beugen.

Als endlich, endlich
sich der Ausweg bot:
War i c h zwar frei,
doch meine Kinder waren tot!

Mein Weg – ?
Er gleicht mehr einer Gräberstraße!
Begrabner Hoffnungen zerfallende Male
umsäumen ihn
und lassen ahnen,
was ich ersehnte,
wohl von ferne sah,
doch nicht erreichte.

Ingeborg Galter, geb. Neustädter (geschrieben 1992)



Biographische Daten

Erwin Neustädter, geboren am 1. Juli 1897 in Tartlau; nach der Matura Teilnahme am Ersten Weltkrieg, es entstanden erste wunderbare Bleistift- und Tuschezeichnungen; danach Studium der Architektur, Germanistik, Anglistik, Theologie; Professor am Honterus-Gymnasium in Kronstadt; nach dem Zweiten Weltkrieg Berufsverbot, Enteignung, Verhaftungen und 1965 Ausreise in die BRD; gestorben am 4. Mai 1992 in Kaufbeuren.

Prosawerke: „Der Jüngling im Panzer“ (1930) und „Mohn im Ährenfeld“ (1943), beide noch antiquarisch erhältlich; zwei weitere Werke erscheinen posthum: „Mensch in der Zelle“ (2015) und „Im Glanz der Abendsonne“ (2019), beide sind im Buchhandel erhältlich.

Lyrik: „Dem Dunkel nur entblühen Sterne“ (1967); 1981 erhält er den Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreis. Über das zeichnerische Schaffen Neustädters ist bisher kaum etwas veröffentlicht, für ihn selber war es eine Ausdrucksmöglichkeit mit anderen Mitteln.

Schlagwörter: Neustädter, Schriftsteller, Erinnerungen, Kronstadt, Galter

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