27. November 2022

Die Serenissima Siebenbürgens: Aufwühlendes Hermannstadt-Buch von Dagmar Dusil

Ob die Siebenbürger Sachsen ein Volk der Denker sind, sei dahingestellt, aber ein Volk der „Dichter“ sind sie ganz sicher. Jedenfalls wird meine Vermutung von diesem Buch mit Erinnerungen an die Heimatstadt eindrücklich belegt, wobei die Sachsen von ihren wenigen rumänischen Landsleuten kongenial sekundiert werden. Nicht weniger als vierzehn Lehrer verschiedener Couleur haben das Ökotop ihrer Kindheit und Jugend lebendig auferstehen lassen. Es folgen neun Schriftsteller und Publizisten – allesamt nüchtern-sachliche oder poetische Kommunikationsprofis und Meister des geschriebenen Wortes. Immerhin noch sechs Ingenieure und Naturwissenschaftler füllen das Periodensystem der Hermannstädter Straßen und Plätze akribisch und punktgenau auf. Zahlenmäßig abgeschlagen, aber nicht weniger verzaubert von ihrem Thema rangieren die Ärzte, Juristen, Betriebswirte, Maler und Musiker. Als Quereinsteiger in das mühevolle Geschäft des Sprachdiskurses bieten sie erstaunliche neue Perspektiven und überraschend frische Ansichten.
Einband des besprochenen Buchs ...
Einband des besprochenen Buchs
Sie sind alle beseelt vom Gedanken, den unaufhaltsamen Prozess des Vergessens und des Entschwindens von lieb gewonnenen Lebensinhalten auszubremsen und zu verlangsamen. Die große Mehrheit der Autoren sind Babyboomer aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Durchschnittsgeburtsjahr der Autoren liegt um 1946, sie sind also heute im Schnitt rund 75 Jahre alt. Für die jüngeren Geburtenjahrgänge ab 1965 sind Fragen der biographischen Tiefenwurzeln kein beschäftigungswürdiges Thema: Sie sind leider nicht vertreten.

Der unvergleichliche Karl Schlögel, der die ukrainischen Städte wissenschaftlich-intuitiv beschrieben hat, bevor sie nun nach und nach in Schutt und Asche versinken, dieser intime Kenner Osteuropas vertritt die Ansicht, dass wir „Städte lesen“, dass wir „im Raum die Zeit“ und die „geschichtliche Topographie“ erkunden können. Für ihn sind Städte „erstrangige Dokumente, die erschlossen werden können. Sie erweisen sich dann (…) als Punkte maximaler Verdichtung geschichtlicher Ereignis- und Erfahrungsräume“ (alle Zitate aus: K. Schlögel: Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen, 2015). Wird diese Methode der kulturräumlichen Erschließung von authentischen Erinnerungen ergänzt und gestützt, sind die Ergebnisse in der Regel beeindruckend. Die Straßen und Plätze sind die Stein und Putz gewordene Seele der Hermann­städter. Zusammen ergeben die Beiträge – allesamt beschwörende Erinnerungen und nostalgisch-elegische Liebeserklärungen – eine beeindruckende Kollektivmonographie der Stadt, an die es völlig verfehlt wäre, strenge literaturkritische Maßstäbe anzulegen. Hier zählen einzig und allein der gute Wille, die lobenswerte Absicht und die unverbrüchliche Authentizität der Inhalte. Eine strengere Formgebung wäre zwar wünschenswert gewesen, ist aber letztendlich in der frappierenden Erinnerungspolyphonie zweitrangig.

Im Sinne der „Verdichtung geschichtlicher Ereignis- und Erfahrungsräume“ enthält die Anthologie auffallend gute Beiträge. Einige stechen besonders hervor und sollen hier kurz erwähnt werden, was nicht heißt, dass die anderen weniger lesenswert sind. Evoziert werden die Welt der Meirer in der Sag-Vorstadt (S. 51 ff.), das bunte Treiben in der Walkmühlgasse (S. 71 ff.), das aufregende Leben in der Friedenfelsstraße (S. 115 ff.), das geschichtliche Auf und Ab in der Schneidmühlgasse (S. 127 ff.), die typische multiethnische Nachbarschaft in den Hermannstädter Randgebieten wie der Ulmengasse (S. 165 ff.), dem Gebiet der Schlangengasse hinter der Bahnlinie (S. 279 ff.) und – in der antizipierenden Erinnerung – auf dem noch straßenlosen Maisfeld am Rande der Stadt (S. 177 ff.). Eloquent beschrieben wird der „Schmelztigel“ der Ethnien und Konfessionen in der Unterstadt (S. 189 ff. und 201 ff.) mit ihrem neuen Leben in den ältesten Straßen der Stadt. Einige geschichtsträchtige Identitätsanker dürfen natürlich nicht fehlen: Kleiner Ring, Großer Ring und Huetplatz mit Stadtpfarrkirche und Brukenthalgymnasium (S. 236 ff.), Altes Theater (S. 293 ff.), Stadtmauer/„auff der Wysen“ (S. 299 ff.) und Harteneckgasse (S. 323 ff.).

Unzähligen prominenten Hermannstädtern wird ein Denkmal gesetzt oder sie werden wenigstens erwähnt und so der Vergessenheit entrissen. Beeindruckend ist das Porträt des Schriftstellers Wolf von Aichelburg in der Schilderung der Schwimmschulgasse (S. 345 ff.), in der im Unterschied zu vielen anderen Beiträgen kulturhistorische Zusammenhänge ins Blickfeld gerückt werden.

Dem einen ist die Gasse der Kindheit „Wohnzimmer“, sie ist nicht so sehr „geographischer Ort“ als vielmehr ein unter dem Brennglas potenzierter Straßenzug der „Erinnerungen an Menschen, an Stimmungen, an Gefühle …“ (S. 166). Dem anderen sind die Kindheits- und Jugenderinnerungen buchstäblich die „Steine“, aus denen er sein „Leben baut“ (S. 225). Für den nächsten ist die heimatliche Gasse, die „Wiege“ seiner „Kindheit und Jugend“ und auch weit draußen in der Welt ein konstanter „Sehnsuchtsort“ (S. 372). Als Steigerung hilft wohl nur noch die Transzendenz: die Erinnerungen an das Herkunfts- und Kindheitsökotop ist „metaphysisches Formblatt“ (S. 11).
Die Herausgeberin Dagmar Dusil mit dem ...
Die Herausgeberin Dagmar Dusil mit dem druckfrischen Opus im September 2022 in Dinkelsbühl. Neben ihr der rumänische Botschafter in Wien Emil Hurezeanu und die Schauspielerin Sigrid Zacharias. Hinten der Verleger Traian Pop. Foto: Konrad Klein
Überschäumende Kindheitserinnerungen bilden das Hauptthema in den meisten Berichten und Schilderungen. Andere Inhalte treten im bühnenbildnerischen Arrangement des Erzählten meist in den Hintergrund. Die starken Eindrücke der Kindheit sind der Anker des autofiktionalen Erzählens – einer Verflechtung aus Autobiographie und Fiktion. Erzählen und Berichten sind in den allermeisten Fällen autobiographisch an Erinnerungen gekoppelt. Aber keine Erinnerung kann nach Jahrzehnten unbestechlich objektiv sein. Also grätscht die Phantasie immer wieder in das biographische Narrativ hinein, man schwelgt sprichwörtlich in Erinnerungen.

Wenn man dann aber zum wiederholten Mal vom beseelenden diebischen Ausflug in Nachbars Garten liest, wenn Omas oder Muttis Sonntagskuchen wieder und wieder mit Triple-AAA-Rating hochgelobt wird, wenn gar der öfters liebevoll erwähnte Fetzenball jede Erinnerung an reale Fußballweltmeisterschaften toppt und wiederholt all die Straßen mit etwas Gefälle zu erstrangigen Rodelpisten mutieren – dann stellt sich die Nervtötung ein, die wir vom übermäßigen Genuss von Reizmitteln kennen.

So kommt es, dass wir zwar inflationär etwas über die überaus glücklichen Tage der Kindheit erfahren, aber zu wenig über die geschichtliche Topographie der Heimatstadt, über die Verbindung, ja Verschmelzung, ihrer Straßen, Plätze und Wohnquartiere mit dem historischen Werdegang. Aber in den gelungenen, den überzeugenden Beiträgen ist die geschichtliche Einbettung trotz allem präsent. Immer wieder taucht eloquent die dynamische Erneuerungszeit um 1900 auf, in der Hermannstadt den Anschluss an die Moderne schaffte und große Teile des heutigen Stadtbildes entstanden. Die Blütezeit Rumäniens zwischen den beiden Kriegen findet ihren Widerhall auch in Hermannstadt. Wohingegen die „Volksgruppenzeit“ (1936–1944) unter dem Schirm der Nazis und von der Antonescu-Diktatur geduldet bis auf wenige Ausnahmen (beispielsweise S. 129) nicht erwähnt wird. Ist es totale Amnesie oder absichtliche Tabuisierung einer für die Deutschen Rumäniens verheerenden und folgenschweren Zeit?

Die Jahre im kommunistischen Rumänien nach 1944/1945 bis zum Sturz Ceauşescus 1989 spielen selbstverständlich eine herausragende Rolle. Deutsche in Hermannstadt spielen dabei noch eine prägende, nach und nach aber schwindende Rolle. Namen, Häuser, Plätze und Straßen formen den informationellen Echoraum des Untergangs: Deportation, Enteignung, Zwangsproletarisierung, politischer Druck und Benachteiligung, Häuserbesetzung des Villenbestandes der alten vernichteten Bourgeoisie durch die neue kommunistische Nomenklatura, fehlende Entwicklungsperspektiven, jahrelanges quälendes „Auf-den-Ausreisekoffern-Sitzen“ und vieles, sattsam Bekanntes mehr.
Elf der Autoren des hier besprochenen Bandes, und ...
Elf der Autoren des hier besprochenen Bandes, und noch immer nicht alle: Aufstellung zum Gruppenbild am Tag der Buchvorstellung in Dinkelsbühl (3. September 2022). Foto: Konrad Klein
Öfters wird Geschichtliches – sehr treffend verfremdet – mit „unschuldigen“ Kinderaugen gesehen: „Den Kindern sagte man, sie sollten mit den Măcelarus möglichst wenig sprechen, denn Leute, die ihren Namen geändert haben [sie hießen vor dem Krieg Fleischer – Anm. W. F.], sind vielleicht unzuverlässig und wer weiß. Was das ‚Wer Weiß‘ bedeutete, wussten die Kinder nicht.“ (S. 72)

Mal wird witzig, ironisch gebrochen und poetisch dicht die Stadttopographie und der allgegenwärtige Verfall völlig unspektakulär auf den Schirm des Betrachters gebannt: „Die Straßen der Altstadt fügten sich wie größere und kleinere Teppiche, ausgelegt als (…) Läufer in einer verwinkelten Wohnung. Wenn auch teilweise durchgetreten verrieten manche ihre edle Herkunft. Nur das ausbleibende Staubsaugen trübte ihren Glanz und an den Enden fehlten halbe oder ganze Fransen.“ (S. 21) Ein andermal wird mit großem Ernst und leichter humorvoller Ironie beim Alten Theater nach dem für diesen entlegenen Zipfel der Vielvölkerwelt so wichtigen „Grundstein Toleranz“ gefahndet, wobei die rhetorischen Fragen, die die Existenz-Rezepturgrundlage des alten wie neuen Völkergemischs bilden, keiner Antwort bedürfen: „Wer ist in dieser Weltgegend ganz frei von der Vorliebe für das eigene Volk? … Wer ist ganz unbehaftet von abweisender Empfindung anderen Völkern gegenüber?“ (S. 297)

Einiges an uns Hermannstädtern erinnert an Dr. Jekill & Mr. Hyde. Vor der großen Auswanderungswelle lebten wir mit den Füßen in Hermannstadt, aber mit dem Kopf in Deutschland. Nach der Auswanderung leben wir mit den Füßen in Deutschland (wenn auch manche von uns „wie nicht angekommen“, sagt Herta Müller), aber schwelgen sentimental in der alten Heimat. Ist das schizophren? Mag sein, aber es ist positiv zu sehen. Die zwei erlebten Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, bereichern uns mit Erfahrungen und Erinnerungen, die ihresgleichen suchen. Der Schriftsteller Hellmut Seiler hat es in seinem Gedicht „Ausblicke während einer Zugfahrt“ poetisch fixiert: Wir alle sind „zweiheimisch“. Wir sind reich an Heimaten, an alten und neuen, an diesseitigen und jenseitigen, an karpatischen und isar-neckar-rheinischen, man ist halt „zweiheimisch“ in einem Bewusstseinsgefäß mit zwei Kammern, aber durchlässiger Membran.

Meine Lieblingsszene in Erinnerung an die 1950er Jahre des bitteren Mangels und der Enteignungen? „Im Badezimmer wurde das oltenische Schwein unter viel Gequieke und Getöse geschlachtet und zerlegt. In der Küche wurden die oltenischen Gänse (…) gestopft.“ (S. 30) – ein naturalistisch-witziger „Leckerbissen“, der unseren gepamperten Vegetarier-Nachkommen Schauer über den Rücken jagen dürfte.

Mein Favorit unter den Beiträgen? Die kundige und lebhafte Schilderung des Naturkundemuseums, das 1895 seinen Betrieb eröffnete – vom Siebenbürgischen Verein für Naturwissenschaften (1849-1948) erbaut, eingerichtet und geführt. 1918 bei der Vereinigung Siebenbürgens mit Altrumänien war es Rumäniens einziges naturkundliches Museum. Die professionelle Schilderung (ab S. 323) macht eindringlich deutlich, welche Schätze diese Stadt birgt: Mit dem Naturkundemuseum hat sich ein Völkchen – in etwa so groß, aber deutlich ressourcenärmer als die heutigen EU-Zwergstaaten Luxemburg oder Malta – aktiv und auf Augenhöhe mit den großen Kulturnationen an der „Vermessung der Welt“ im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert beteiligt – mit naturwissenschaftlichen Sammlungen von weltweiter Bedeutung.

Die schönste Liebeserklärung an Hermannstadt? Es ist für mich ein eschatologisches Diktum, sozusagen mit „letzter Tinte“ niedergeschrieben: „Hermannstadt, die auserwählte Stadt, in der ich gerne sterben würde …“ (S. 15). Diesmal Tod in Hermannstadt, nicht in Venedig, aber nicht weniger sinnfällig. Mehr Liebeserklärung geht nicht. Uns „Ehemaligen“ muss das schmeicheln. Wobei aber nicht übersehen oder gar verdrängt werden sollte, dass Hermannstadt nur für die Sachsen Symbol von unwiederbringlicher Vergangenheit, morbidem Charme und schmerzhaftem Untergang ist. In Wahrheit ist es heute eine dynamische rumänische Boomtown mit großartigen Entwicklungsperspektiven und einer beachtlichen Rolle im künftigen Europa der Regionen – eine Renaissance, die wohl vergleichbar den Glanzzeiten der Stadt um 1500 und 1900 sein wird.

Dieses beeindruckende Buch, dessen Initialzündung und Herausgabe wir der Schriftstellerin Dagmar Dusil verdanken und für dessen verlegerische Realisierung wir beim Verleger Traian Pop, dem hochverdienten Vermittler zwischen den Kulturen, in der Schuld stehen, dieses einzigartige Buch gehört unter den Christbaum 2022 eines jeden, der Hermannstadt kennt und liebt.

Walter Fromm

Mit Erinnerungen gepflastert. Eine Anthologie von Dagmar Dusil. Pop Verlag, Ludwigsburg, 2022, 410 S., 25 Euro, ISBN 978-3-86356-367-7

Der Autor der Besprechung, Walter Fromm, 72, Literaturkritiker, lebte bis zu seiner Auswanderung 1980 als Deutschlehrer in Hermannstadt.

Schlagwörter: Buch, Anthologie, Hermannstadt

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