19. Oktober 2023

Gut frisiert fotografiert/Erzählung von Annemarie Roth

Annemarie Roth wurde 1958 in Marienburg bei Schäßburg geboren, ging in Schäßburg zur Schule und absolvierte dort auch das Lyzeum. Sie studierte drei Semester Germanistik in Temeswar, bis sie 1979 mit ihren Eltern nach Deutschland auswanderte. In Bremen studierte sie Deutsch und Französisch auf Lehramt und unterrichtete bis 2018 in Göllheim in der Pfalz an einer Schule. Während der Coronazeit fing sie an Erzählungen zu schreiben, die in Siebenbürgen spielen und eine Mischung aus realen Begebenheiten und Fiktion sind. Die Geschichte „Gut frisiert fotografiert“ ist ihre erste literarische Veröffentlichung.
Annemarie Roth als junges Mädchen. ...
Annemarie Roth als junges Mädchen.

Gut frisiert fotografiert

Neulich stieß ich auf unser Konfirmationsfoto. Zehn Jungen und vier Mädchen, wahrlich ein Ungleichgewicht. Dann fielen mir die Köpfe der Jungen auf, alle die gleiche Frisur. Sie sahen aus wie Brüder. Ich erinnerte mich schwach, wie es dazu kam. Und als ich die Augen schloss und mich in die Vergangenheit fallen ließ, tauchten aus den Tiefen meines Inneren Bilder auf, verbanden sich und bald hatte ich einen ganzen Film auf der Spule.

Im Dorf meiner Kindheit in den 60-er Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es keinen Friseur, einen Fotografen schon gar nicht. Kindern schnitten die Mütter die Haare, mehr schlecht als recht , wobei es nicht so sehr auf eine ansehnliche oder gar modische Frisur ankam. Vielmehr sollte das unordentliche wirre Gestrüpp vom Kopf entfernt werden, um diesen gründlicher, schneller und leichter waschen zu können.
Dass man das Gesicht des Kindes mit all seinen Regungen auch deutlicher sehen konnte, war ein eher praktischer Nebenaspekt. Gab es Schimpfe, konnte der Erwachsene prompt die Reaktion des Kindes vom nun sich blank zeigenden und offen leuchtenden Antlitz ablesen und entsprechend sofort und zielgerichtet handeln. Aus Zeitnot vor allem – wobei die Einstellung zur Erziehung auch eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben mag – ging es, leider muss man sagen, weniger um das Wohl des Kindes als um eine rein pragmatische Sicht der Dinge. Man hatte einfach keinen Raum für Gefühlsduselei.

Erwachsene, Männer vorwiegend, mussten zum Haareschneiden in die nächste Stadt fahren. Frauen und Mädchen trugen lange, zu Zöpfen geflochtene Haare. So war es üblich und andere Frisuren waren nicht erwünscht, sogar teils nicht erlaubt.
Meist wurde der Friseurbesuch mit dem wöchentlich stattfindenden Markttag verbunden. Eigens in die Stadt fahren zum Friseur, das gab es nicht. Dafür war die Zeit zu kostbar. Schließlich nahmen einen Haus, Hof, Felder und Tiere voll in Anspruch. Kein Wunder, dass manch ein Mann von Zeit zu Zeit wie seine eigene Vogelscheuche aussah.

Zum Fotografen kamen die Leute vom Dorf ein- oder zweimal im Leben, wenn man heiratete und um die Familie abzulichten, wenn die Kinder etwas größer waren und die Familienplanung abgeschlossen war. Dazu holte man die Tracht beziehungsweise die nach Mottenkugeln duftenden Sonntagskleider aus der Truhe und ließ in der nahegelegenen Stadt beim einzigen Fotografen, der sich ob seiner Einzigartigkeit wie ein Herr allwissend gebärdete, gerade sitzend oder stehend mit eingefrorenem Lächeln und angehaltenem Atem Fotografien machen. Bilder für sich, aber vor allem für die Nachkommen. Sie wurden alle in der sogenannten Bildchenschachtel gesammelt und nur von Zeit zu Zeit, meist wenn neue dazukamen, mit sauberen spitzen Fingern hervorgeholt, sie an den Ecken haltend, um sie nicht zu beschädigen, andächtig oder auch mit Wehmut betrachtet und den Kindern oder Enkeln von den Umständen ihres Entstehens und von der Zeit damals erzählt.

Manchmal fragte ich die Großmutter, ob wir uns die „Bildchen“ ansehen könnten. Es war klar, dass es nur die aus der Schachtel sein konnten. Andere gab es nicht, also hießen sie nur „die Bildchen“. Der Wunsch wurde mir fast nie abgeschlagen, aber ich musste mich jedes Mal gedulden. Großmutter musste die angefangene Arbeit erst beenden. Dann begann die Zeremonie des Bildchenbetrachtens. Erst wusch die Großmutter sich und mir die Hände gründlich mit Seife. Dann raffte sie ihre Röcke und stieg in der guten Stube auf einen Stuhl, um die Schachtel mit den Bildchen von hoch oben und weit hinten vom Schrank zu holen, wo sie verwahrt wurde und sicher war vor jeglichem unerwünschten Zugriff. Auf unserer Bildchenschachtel stand „Singer“. Sie war aus dünnem buntem Blech, eher dunkelgrün, mit rankenden Blumen versehen und beherbergte früher, als Großmutter sich, noch jung, eine Singer-Nähmaschine vom Mund absparte, Garne, Spulen und sonstiges Nähzubehör.

Mit ihrem Bruder ...
Mit ihrem Bruder
Wir setzten uns also nebeneinander an den Tisch, dann nahm die Großmutter alle Bildchen aus der Schachtel und sortierte sie nach einem bestimmten System, das ich nicht verstand und das mich verstörte. Ein Geruch von Druckerschwärze und trockenem Papier stieg einem in die Nase. Wir sahen uns ein Bild nach dem anderen an und ich bekam zu jedem eine Geschichte erzählt. Dabei fasste Großmutter jedes Bildchen nur an den Ecken an, um es weder zu zerknicken noch zu beschmutzen, und ich musste ihrem Beispiel folgen. So konnte durchaus eine Stunde vergehen, in der die Großmutter die Zeit völlig vergaß. Ich spürte, dass sie in eine andere Welt hinüberglitt, sobald sie die Schachtel öffnete. Es ging immer eine leichte Aufregung von ihr aus während des Betrachtens der Bildchen, die Luft um uns herum war nicht nur angenehm kühl, wie so oft in der guten Stube, es war auch ein leises Zischeln und Flüstern und Hauchen zu vernehmen, als ob die auf den Fotografien gebannten Menschen mit uns und untereinander Zwiegespräche führten. Ich hatte das Gefühl, in dieser vom Geist der Bildchen beherrschten Stunde – oder auch länger – mich in einer von der Außenwelt abgeschirmten dunstigen, aber durchsichtigen Blase zu befinden, in der sich unsere eigene Atemluft mit dem metallischen Geruch der Fotografien mischte und die leise und bebend erzählende Stimme der Großmutter feenhafte Wesen um uns herumschweben ließ.

Diese intensive Zeit endete meist abrupt, da es die Großmutter jedes Mal heftig durchfuhr, wenn ihr bewusst wurde, wie lange wir schon beisammen saßen. Sie besann sich, dass sie doch so viel Arbeit habe, und wir landeten hart in der Realität. Hastig, aber vorsichtig sammelte sie die Bildchen ein und verstaute die Schachtel wieder auf dem Schrank, noch ein Stückchen weiter hinten als zuvor.
Ich bedauerte es immer, am Ende unserer magischen Bildchenbetrachtungsstunde so mitleidslos in den Alltag geholt zu werden.

Als wir klein waren, erfüllte sich mein Vater einen Traum. Sein erster Besuch mit seinen Eltern beim Fotografen hatte ihm eine Sehnsucht eingepflanzt, die über die Jahre immer größer wurde.
Er wollte unbedingt einen Fotoapparat besitzen und selber der Meister hinter diesen wundervollen Kunstwerken sein. Dass der Fotoapparat so etwas Großartiges vermochte, wie Menschen auf Papier festzuhalten, faszinierte ihn ungemein. Für ihn grenzte das an ein Wunder, das er nicht durchschaute, es aber gerne getan hätte. Die Erklärung dafür hätte er am besten sofort erfahren wollen.
Zwei Jahre lang sparte er für dieses magische Gerät. Er nahm auch die lange Zugfahrt in eine größere Stadt auf sich, um in einem Spezialgeschäft seinen Fotoapparat zu erstehen und um in dessen Handhabung eingewiesen zu werden.

Es war ein relativ kleiner Apparat mit einem ziehharmonikaähnlichen, gefalteten, schwarzen Objektiv, welches man auseinanderzog, bevor damit fotografiert werden konnte. Die auf einer Spule sich befindenden Filme wurden nach einem bestimmten Prinzip eingelegt. Mein Vater machte nicht nur die Fotos, sondern hatte gelernt, sie auch zu entwickeln – mehr aus der Not heraus –, denn er konnte unmöglich jedes Mal, wenn der Film voll war, und das war er bei der sich immer mehr steigernden Leidenschaft meines Vaters fürs Fotografieren sehr oft , in die Stadt fahren.

Als Konfirmandin. Alle Fotos: Georg Roth ...
Als Konfirmandin. Alle Fotos: Georg Roth
Fürs Entwickeln hatte er sich in einer Ecke der Scheune einen abgedunkelten Verschlag gebaut. Da nie jemand hineingehen durfte, war dieser Raum schnell geheimnisumwittert.
Uns erklärte er, wie er die Filme entwickelte, aber für die Leute im Dorf war das Ganze so unverständlich, ja bizarr, dass ihm bald nachgesagt wurde, es ginge nicht mit rechten Dingen zu in unserer Scheune. Es rankten sich manch fantastische und abstruse Geschichten um das Entstehen der Fotografien und dieser oder jener wollte gar eine dunkle Gestalt mit wehenden Schößen um die Dunkelkammer schleichen gesehen haben. Unwissend und durchaus auch unbelehrbar, wie einige Leute waren, vermuteten sie Übernatürliches, das hier am Werk sei. Wie sonst sollten lebendige Menschen aufs Papier kommen?
Da half es auch nicht, wenn Vater darüber lachte und ihnen den Humbug ausreden wollte. Menschen glauben anscheinend eher, was sie gerne möchten und was in ihr Weltbild passt, als sich auf Neues einzulassen. Da sei nur Platons Höhlengleichnis erwähnt, um vielleicht diese Angewohnheit der Menschen zu erklären.

Na ja. Wir Kinder und unsere ganze Verwandtschaft profitierten durchaus von der Neugier und den künstlerischen Fähigkeiten meines Vaters. Als einzige Kinder im Dorf besaßen wir ein Album mit Fotografien, das uns unser Vater anlegte. Das war etwas Einzigartiges und hob uns in gewisser Weise aus der Menge heraus.
Von ganz klein an wurde unsere weitere Entwicklung bei allen möglichen Anlässen und in den unterschiedlichsten Posen dokumentiert, mit Angabe von Jahreszahlen und Namen der uns ab und zu begleitenden Personen. Und dies, bis wir erwachsen waren.

Die zweite große Leidenschaft meines Vaters war das Haareschneiden. Dazu kam er aber unverhofft. Sein Onkel brachte ihm einmal, als er uns besuchte, aus Deutschland eine Haarschneidemaschine mit. Wir nannten sie „Stutzmaschin“.

Zwei etwa fünf Zentimeter lange Schneideblätter lagen vorne übereinander und wurden händisch an einem verlängerten Griff, indem dieser auf- und zugedrückt wurde – wie bei einer Gartenschere, muss man sich vorstellen –, nach links und rechts übereinander geschoben, sodass die Haare fein und sehr genau geschnitten werden konnten. Auf diese Weise entstanden Kurzhaarfrisuren für Jungen und Männer.
Jahrelang trug mein Bruder, und sehr bald alle Nachbarsjungen, die auch in den Genuss der „Stutzmaschin“ kamen, eine Frisur, die heutigen gleicht.
Am Hinterkopf waren die Haare bis auf einen Zentimeter entfernt und oben auf dem Kopf länger, wobei sie sorgfältig und gerade am oberen Ende der Stirn abgeschnitten wurden.
Auch eine „Stutzmaschin“ besaß niemand im Dorf außer meinem Vater. Schon bald fügte es sich, dass er fotografieren und Haare schneiden verband. Zuerst baten ihn die Mütter der Nachbarsjungen darum, ihren Kindern auch so eine Frisur zu verpassen wie meinem Bruder. Es dauerte nicht lange und da kam eine auf eine neue Idee: „Georg, du hast doch einen Fotoapparat. Mein Roland kommt jetzt im Herbst in einer Woche in die Schule. Könntest du ihm nach dem Haareschneiden eine Fotografie machen? Das wäre doch ein so schönes Andenken. Bitte, Georg, ich werde mich auch erkenntlich zeigen.“ Eine brachte ein irdenes Schälchen mit und schlug vor, dass man da hinein etwas Geld legen sollte als Dankeschön für Frisur und Fotografie. Eine Widerrede von Seiten meines Vaters ließ sie nicht gelten und so entstand die „Kass“. So ergab es sich, dass Vater an den Wochenenden Haare schnitt und passende Fotografien dazu machte, auch wenn er so etwas nie im Sinn gehabt hatte und er sich manches Mal sicherlich überfordert und ausgenutzt fühlte. Wie hätte er sich jetzt aber noch aus der ganzen verflixten Geschichte rauswinden sollen? Die Leute verließen sich auf ihn. Ein Teufelskreis war es, in dem er steckte.

Nun sollte sich aber noch etwas wirklich Verblüffendes ereignen, was dem Ganzen die Krone aufsetzte und meinen Vater nochmal zusätzlich forderte.
Es nahte die Zeit unserer Konfirmation und die Zahl der Jungen überwog bei Weitem. Zehn waren es und wir Mädchen waren nur zu viert. Natürlich würde uns mein Vater nach dem Gottesdienst vor der Kirche fotografieren und für jedes Kind ein Bild entwickeln, das hatte er in den vorherigen Jahren auf Bitten der Eltern auch schon getan. Dabei sollte es in diesem Jahr aber nicht bleiben.

Am Donnerstagnachmittag stand der erste Vater, ein guter Bekannter, mit seinem zu konfirmierenden Sohn bei uns im Hof und bat darum, dass ihm mein Vater doch bitte die Haare schneide, er müsse am Sonntag in der Kirche zur Feier des Tages doch ordentlich aussehen. Dann druckste er herum, brachte undeutliches Gestammel hervor, wand sich und entschuldigte sich zig Mal ob seiner Dreistigkeit, schaute ständig unter sich, kaute die Worte und verschluckte sie, flüsterte und brummelte, bis meinem Vater der Geduldsfaden riss: „Was willst du mir sagen, Hannes?“, entlud es sich fast unfreundlich aus ihm, sodass er sich gleich darauf entschuldigte, weil er laut geworden war.

Die Antwort ließ ihn sprachlos und belustigt zugleich sich auf den nächsten Stuhl setzen: „Kannst du mir die Haare auch schneiden und mich am Sonntag mit meinem Jungen fotografieren?“, bat Hannes wie aus der Pistole geschossen und in einem Atemzug, um dann bewegungslos und fast ängstlich meinen Vater anzustarren. Dass das für ihn eine vermessene, ja grenzüberschreitende Bitte war, davon zeugte die atemlose und angestrengte Art, in der er sie vorgetragen hatte.
Obwohl Vater eigentlich zuerst ablehnen wollte und sich schon Gründe dafür zurechtlegte, denn er hatte wirklich und wahrhaftig genug Arbeit und wollte nicht auch noch als Dorffriseur und Dorffotograf vereinnahmt werden, ließ die schuldbewusste und gleichzeitig hoffnungsvolle Miene seines Freundes ihn sich mit dessen Wunsch einverstanden erklären. Er schnitt ihm die Haare – Vater und Sohn sahen danach aus wie Zwillingsbrüder – und sagte sich, dass ja nur eine zusätzliche Fotografie wohl noch zu verkraften sei.

Was dann allerdings geschah, überforderte nicht nur meinen Vater und uns alle anderen aus der Familie, sondern auch manch einen Dorfbewohner, der davon hörte oder das Endergebnis auch selber sah. Alle waren gefühlsmäßig hin- und hergerissen und wussten nicht, wie sich das Ereignende erklären ließ. Die Mehrheit schwankte wieder zwischen knallhart und schonungslos sich zeigender Realität und der Neigung, an eine unklare, gehirnverwirrende und gelenkte Übermacht zu glauben.
War es ein Übermaß an Vertrauen in die Fähigkeiten meines Vaters und grenzenlose Achtung vor seinem Können als Fotograf und Friseur oder war es einfach nur anmaßend und ungebührlich, von ihm so viel zu erwarten.

Am Freitagnachmittag nun öffnete sich unser Hoftor weit und ließ einen Pulk von männlichen Zeitgenossen – wobei ihre zottelige Haarpracht einem sofort ins Auge sprang und einen, wenn auch mit Ablehnung, ahnen ließ, was folgen würde – in unseren Hof. Es standen weitere vier Väter mit ihren Konfirmandensöhnen vor uns. Einer ging vorneweg, die anderen trotteten mit gesenktem Blick hinterher und die Jungen blieben einige Schritte nah aneinander geklebt zurück, nur ab und an nach links oder rechts schauend. Sie beziehungsweise ihr Sprecher verhielten sich ähnlich wie Hannes und sein Sohn einen Tag zuvor. Sie versuchten umständlich, meinem Vater ihr Kommen und ihr Begehr zu erklären, nur dass sie ihm eine viel größere Portion Honig um den Bart schmierten als Hannes. So eine wunderbare Frisur hätten sie auch gerne, es sähe so einmalig aus, ja sogar vornehm, man könnte meinen, einen Herrn hätte man vor sich, und sein Sohn erst. Mit einem so fein geschniegelten Kopf wäre noch nie einer auf einer Konfirmation erschienen, wieviel Lob es doch für meinen Vater gäbe, wenn noch einige Väter samt Nachwuchs sich so außergewöhnlich elegant und gediegen in der Kirche zeigen würden, und die Fotografien würden sie mit Stolz noch ihren Nachfahren zeigen, wenn er denn so gut wäre und sie auch noch fotografieren würde am Sonntag. Sie überschlugen sich fast vor Zuvorkommenheit, wobei man die Geniertheit trotz allem jeden Satz und jedes Wort durchdringen fühlte.
Außerdem hatte jeder etwas mitgebracht, um sich erkenntlich zu zeigen. Der Tisch vor dem hinteren Hauseingang in der Laube, die uns als Sommerküche diente, bog sich fast unter der Last von Wein, Limonade, Marmelade, frischem Gemüse, Eingelegtem. Einer hatte sogar einen selbst gemachten Kuchen dabei.

Nach einer längeren Pause, in der niemand etwas sagte, außer dass sie alle mit starrem Gesicht versuchten das Mienenspiel meines Vaters – welches zuerst Ärgernis, dann aber Belustigung widerspiegelte – zu enträtseln, stimmte mein Vater lachend zu.
Wahrscheinlich war er doch etwas geschmeichelt, auch wenn die Lobhudelei gewaltig war. Erleichterung machte sich allenthalben breit, man redete durcheinander, klopfte meinem Vater kräftig auf die Schulter und suchte sich einen guten Platz mit unverstelltem Blick auf den zu Frisierenden.
Es dauerte den ganzen Nachmittag und den Abend, es entwickelte sich ein fröhliches Beisammensein, man erzählte und lachte viel, ging meinem Vater zur Hand, wo es nur möglich war, ließ jeden mit seiner neuen Frisur hochleben und am Abend brachte jemand eine Wurst- und Speckplatte vorbei und frisches Brot von der Annie.

Fünf Konfirmanden und ihre Väter waren nun für den Sonntag frisiert.
Es wäre ein Wunder gewesen, hätten die anderen Fünf am nächsten Tag nicht auch auf der Matte gestanden. Das Prozedere wiederholte sich: verhaltenes scheues Anfragen, Zustimmung meines Vaters nach einigem Zaudern, Mitbringsel wie gehabt, arbeitsreicher Nachmittag und Abend für Vater und gesellige und wohlschmeckende Zusammenkunft. Die „Kass“, das irdene Schälchen, dessen Aufgabe es war, Münzen nach dem Haareschneiden aufzunehmen, war am Ende dieses Tages gefüllt.

Die Autorin heute. Foto: privat ...
Die Autorin heute. Foto: privat
Am Sonntag tauchten die zehn Väter mit ihren Söhnen, alle mit der gleichen Frisur, zum Gottesdienst anlässlich der Konfirmation auf, alle mit stolz vorgeschobenem Kinn und erhobenem Haupt und einem süffisanten, aber auch glücklichen Lächeln im Gesicht. Natürlich wurden sie von allen wahrgenommen und ernteten manch ein zustimmendes Wort und mein Vater viel Anerkennung. Sogar uns Mädchen, deren Tracht und Erscheinung sonst im Mittelpunkt standen, stellten sie in den Schatten.

Nach dem Gottesdienst fotografierte mein Vater unermüdlich.
Die Geduld und die Präzision, mit der auf vielfältige Art und Weise diese Konfirmation und ihre Hauptdarsteller auf Zelluloid gebannt wurden, das war etwas noch nie Dagewesenes.
Die denkwürdigste Fotografie war aber natürlich die mit den zehn Vätern und ihren Söhnen, alle mit der gleichen Frisur, versteht sich, und mit dem gleichen seligen, beinahe einfältigen Lächeln.

Schlagwörter: Erzählung, Erinnerung, Literatur

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