11. Januar 2010
Russlanddeportation: Vom Umgang mit unserer Lebensgeschichte
Knapp siebzig interessierte Personen nahmen an der Tagung teil, zu welcher der Heiligenhof für den 13. bis 15. Dezember 2009 nach Bad Kissingen eingeladen hatte. „Die Russlanddeportation der Rumäniendeutschen – 60 Jahre seit der Rückkehr der Verschleppten“ stand diesmal auf der Tagesordnung. Erschienen waren Zeitzeugen und Betroffene, Kinder und Enkelkinder von Verschleppten und viele Interessierte, die mehr über die Hintergründe sowie das Geschehen dieser großen historischen Zäsur der Rumäniendeutschen wissen wollten.
Man wollte vor allen Dingen die Zeitzeugen „ungefiltert und direkt“, wie ein Teilnehmer es ausdrückte, hören. Das neue Buch der Nobelpreisträgerin Herta Müller „Atemschaukel“ hatte selbstverständlich das Interesse noch einmal gesteigert und Fragen nach dem Umgang mit unserer persönlichen Lebensgeschichte geweckt.
Der erste Abend, welcher der persönlichen Vorstellung der Anwesenden diente, zeigte gleichzeitig, wie wichtig es für die Biografie der Kinder- und Enkelgeneration ist, zu erfahren, wie sich alles zugetragen hat. Denn an den Brüchen, mit denen ihre Eltern und Großeltern im Leben zurechtkommen mussten, haben heute auch die Kinder und Enkel teil. Diese Geschichte ist Teil unserer eigenen persönlichen Lebensgeschichte. Die bekannte Berliner Rezitatorin Bettina Schubert lieferte mit ihrer professionellen Lesung aus Herta Müllers Roman „Atemschaukel“ allen Zuhörern, viele waren auch aus Bad Kissingen erschienen, eine Erlebnisstunde der besondern Art. Auch der Dokumentationsfilm von Günter Czernetzky „Wunden“ führte noch einmal die Aktualität des Themas vor Augen.
Tagungsleiter Gusti Binder war es gelungen, ein hochkarätiges Team zu gewinnen, welche die Tagung zu einem wahren Erlebnis machte.
Prof. Dr. Georg Weber und Dr. Renate Weber, Universität Münster, konnten als Herausgeber des dreibändigen Standardwerkes „Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945 – 1949“, Köln/Weimar/Wien 1995, aus dem Vollen schöpfen. Anhand von vier Themenblöcken berichteten sie anschaulich über: - den Entstehungszusammenhang des Forschungsprojektes - die zeitgeschichtlichen Hintergründe sowie den Verlauf der Verschleppung - die quantitative Dimension, d.h. Zusammensetzung der Deportierten und - den Versuch einer Rekonstruktion der Deportation im Spiegel der Erinnerungen.
Der Abschnitt Entlassung der Deportierten nahm dann zum Schluss einen breiteren Raum ein und verdeutlichte gleichzeitig die Bemühungen der evangelischen Heimatkirche in Hermannstadt um die Ankunft in der Heimat.
Mit Blick auf die Anordnung und Durchführung der Deportation wies Prof. Dr. Weber auf die Tatsache hin, dass dem Forscherteam keine Einsichtnahme in die einschlägigen Protokolle zu dieser Frage gewährt wurde. Bestimmte Bremsen bleiben damit im Zusammenhang weiterhin angezogen. Darum wäre im Blick auf die Wahrheitsfindung eine totale Offenlegung der diesbezüglichen Akten wichtig.
Über die quantitative Dimension der Deportation führte er aus: Mitte Januar 1945 wurden 30 336 Siebenbürger Sachsen in die damalige Sowjetunion deportiert. Das waren 15% der Deutschen Siebenbürgens bezogen auf die Volkszählung von 1941. Mehr als die Hälfte waren Frauen. Deportiert wurden arbeitsfähige Männer und Burschen zwischen 17 und 45 Jahren sowie Frauen und Mädchen zwischen 18 und 35 Jahren. Die vorgegebene Zahl wurde mit zehn Prozent über- oder unterschritten. Nach zwei Wochen Bahnfahrt in Viehwaggons endeten die Transporte im Donezbecken bzw. Ural. Die Deportierten wurden hier in 85 Lager verteilt, die allerdings häufig nicht vorbereitet waren, die Verschleppten menschlich aufzunehmen. Sie mussten menschenunwürdige Wohn- und Lebensverhältnisse in Kauf nehmen. Dazu gehörte auch die schlechte und unzureichende Ernährung im Blick auf die ungewohnten physischen sowie klimatischen Anforderungen und Arbeitsbedingungen.
Schon im Herbst 1945 wurden die ersten Kranken und Arbeitsunfähigen entlassen: 3 548 Personen. Die Sowjets ließen sich „bei ihrer Entscheidung über Verbleib in den Lagern oder Entlassung allein vom Arbeitswert der Internierten leiten“. 1946 wurden 1 546 Personen in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) über Frankfurt an der Oder entlassen und 861 Personen nach Rumänien; 1947 wurden 2 950 Personen in die SBZ entlassen und 402 nach Rumänien. Die Entscheidung wohin, wurde in Russland allein von den Russen getroffen.
Im Jahre 1949 befanden sich noch ein Drittel der Deportierten in den russischen Lagern. Von 1949 gingen dann alle Züge nach Rumänien. Ab Oktober 1949 wurden die Arbeitslager in der Sowjetunion aufgelöst, und das letzte Drittel der entlassenen deportierten Siebenbürger Sachsen kehrte relativ gesund nach Siebenbürgen zurück: 8 486 Personen. Dazu gingen 182 Personen freiwillig nach Deutschland. Sieben Siebenbürger Sachsen blieben in der Sowjetunion.
Dazu bemerkte der Referent: „Alle Rückkehrer fanden in Rumänien eine andere Gesellschaftsstruktur vor als die, die sie 1945 verlassen hatten. Etwas emphatisch formuliert: Sie kehrten heim in die Fremde, was nicht selten auch für den engeren Familienkreis galt. Ihre politische, wirtschaftliche und soziale Integration in diese Gesellschaft war wenig ermutigend.“ Knapp 12 % der Deportierten starb während der Deportation in Russland (3 076 Personen, mehr Männer als Frauen).
Dr. Irmgard Sedler, Kornwestheim, ging auf das Kleidungsverhalten der Deportierten ein und wies darauf hin, dass die erlebte Grenzsituation sich auch auf die Mentalität der Deportierten und ihre Kleidung ausgewirkt habe. Das Althergebrachte reichte nicht aus. Aufgrund des Ortswechsels musste sich auch das Kleidungsverhalten ändern. Es diente nunmehr dem unentbehrlichen Lebensschutz (Fufaika, Filzstiefel…) Im Lagerleben verlor das herkömmliche siebenbürgische Gewand seine Bedeutung und musste dem Überlebenswillen der Deportierten angepasst werden.
Der bekannte Germanist Michael Markel, früher Klausenburg, stellte in seinem Vortrag Literatur zur Deportation vor: als Erinnerungs- und Gelegenheitsliteratur, die versucht, das Unfassbare zu verarbeiten um damit eines Tages Frieden zu schließen. Oder als Versuch, unter Ausnahmebedingungen anhand eines Krippenspiel („Christi-Geburtstagsspiel von 1947“) Menschen in der Schicksalszange wieder sprachfähig zu machen. Es wurden die einschlägigen Bücher von E. und J. Wittstock, R. Biemel, B. Ohsam und R .Wagner vorgestellt, die alle um den gleichen Schicksalsturm kreisen, allerdings indem sie das Thema unterschiedlich gestalten. Dem Roman Herta Müllers „Atemschaukel“ wurde, wie könnte es anders sein, die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Alles sehr aufschlussreich, anregend und weiterführend im Sinne der Einladung: Nimm und lies, es lohnt sich allemal.
Das Podiumsgespräch mit Zeitzeugen, das Prof. Dr. Andreas Möckel, Würzburg, moderierte, brachte ungefiltert zum Ausdruck, wie tief das Erlebte und Erlittene dieser Jahre Menschen geprägt und verändert hat. Gewohnte Maßstäbe des Lebens veränderten sich oder wurden zurechtgerückt; Kleines wurde klein und Großes groß. Der Mensch als Freund/in wurde entdeckt, aber auch der Mensch als „Feind“ musste ertragen werden. Für viele wurden die Jahre zur praktischen Universität des Lebens.
So ein Podiumsgespräch, in dem Lebens- und Leidensgeschichten erzählt werden, hat deshalb auch eine therapeutische Wirkung. Für die Erzählenden und für die Zuhörer. Heute wird viel darüber gesprochen: Die Kultur des Erinnerns, des Erzählens und des Zuhörens pflegen und zur Lebenskunst erheben wäre allemal eine heilende Zukunftsaufgabe um aus dem „Verbitterungstrauma“, in dem viele stecken, herauszufinden.
Diese Tagung auf dem Heiligenhof bot dazu Anlass und machte einen vielversprechenden Anfang. Im Namen der dankbaren Teilnehmer
Der erste Abend, welcher der persönlichen Vorstellung der Anwesenden diente, zeigte gleichzeitig, wie wichtig es für die Biografie der Kinder- und Enkelgeneration ist, zu erfahren, wie sich alles zugetragen hat. Denn an den Brüchen, mit denen ihre Eltern und Großeltern im Leben zurechtkommen mussten, haben heute auch die Kinder und Enkel teil. Diese Geschichte ist Teil unserer eigenen persönlichen Lebensgeschichte. Die bekannte Berliner Rezitatorin Bettina Schubert lieferte mit ihrer professionellen Lesung aus Herta Müllers Roman „Atemschaukel“ allen Zuhörern, viele waren auch aus Bad Kissingen erschienen, eine Erlebnisstunde der besondern Art. Auch der Dokumentationsfilm von Günter Czernetzky „Wunden“ führte noch einmal die Aktualität des Themas vor Augen.
Tagungsleiter Gusti Binder war es gelungen, ein hochkarätiges Team zu gewinnen, welche die Tagung zu einem wahren Erlebnis machte.
Prof. Dr. Georg Weber und Dr. Renate Weber, Universität Münster, konnten als Herausgeber des dreibändigen Standardwerkes „Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945 – 1949“, Köln/Weimar/Wien 1995, aus dem Vollen schöpfen. Anhand von vier Themenblöcken berichteten sie anschaulich über: - den Entstehungszusammenhang des Forschungsprojektes - die zeitgeschichtlichen Hintergründe sowie den Verlauf der Verschleppung - die quantitative Dimension, d.h. Zusammensetzung der Deportierten und - den Versuch einer Rekonstruktion der Deportation im Spiegel der Erinnerungen.
Der Abschnitt Entlassung der Deportierten nahm dann zum Schluss einen breiteren Raum ein und verdeutlichte gleichzeitig die Bemühungen der evangelischen Heimatkirche in Hermannstadt um die Ankunft in der Heimat.
Mit Blick auf die Anordnung und Durchführung der Deportation wies Prof. Dr. Weber auf die Tatsache hin, dass dem Forscherteam keine Einsichtnahme in die einschlägigen Protokolle zu dieser Frage gewährt wurde. Bestimmte Bremsen bleiben damit im Zusammenhang weiterhin angezogen. Darum wäre im Blick auf die Wahrheitsfindung eine totale Offenlegung der diesbezüglichen Akten wichtig.
Über die quantitative Dimension der Deportation führte er aus: Mitte Januar 1945 wurden 30 336 Siebenbürger Sachsen in die damalige Sowjetunion deportiert. Das waren 15% der Deutschen Siebenbürgens bezogen auf die Volkszählung von 1941. Mehr als die Hälfte waren Frauen. Deportiert wurden arbeitsfähige Männer und Burschen zwischen 17 und 45 Jahren sowie Frauen und Mädchen zwischen 18 und 35 Jahren. Die vorgegebene Zahl wurde mit zehn Prozent über- oder unterschritten. Nach zwei Wochen Bahnfahrt in Viehwaggons endeten die Transporte im Donezbecken bzw. Ural. Die Deportierten wurden hier in 85 Lager verteilt, die allerdings häufig nicht vorbereitet waren, die Verschleppten menschlich aufzunehmen. Sie mussten menschenunwürdige Wohn- und Lebensverhältnisse in Kauf nehmen. Dazu gehörte auch die schlechte und unzureichende Ernährung im Blick auf die ungewohnten physischen sowie klimatischen Anforderungen und Arbeitsbedingungen.
Schon im Herbst 1945 wurden die ersten Kranken und Arbeitsunfähigen entlassen: 3 548 Personen. Die Sowjets ließen sich „bei ihrer Entscheidung über Verbleib in den Lagern oder Entlassung allein vom Arbeitswert der Internierten leiten“. 1946 wurden 1 546 Personen in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) über Frankfurt an der Oder entlassen und 861 Personen nach Rumänien; 1947 wurden 2 950 Personen in die SBZ entlassen und 402 nach Rumänien. Die Entscheidung wohin, wurde in Russland allein von den Russen getroffen.
Im Jahre 1949 befanden sich noch ein Drittel der Deportierten in den russischen Lagern. Von 1949 gingen dann alle Züge nach Rumänien. Ab Oktober 1949 wurden die Arbeitslager in der Sowjetunion aufgelöst, und das letzte Drittel der entlassenen deportierten Siebenbürger Sachsen kehrte relativ gesund nach Siebenbürgen zurück: 8 486 Personen. Dazu gingen 182 Personen freiwillig nach Deutschland. Sieben Siebenbürger Sachsen blieben in der Sowjetunion.
Dazu bemerkte der Referent: „Alle Rückkehrer fanden in Rumänien eine andere Gesellschaftsstruktur vor als die, die sie 1945 verlassen hatten. Etwas emphatisch formuliert: Sie kehrten heim in die Fremde, was nicht selten auch für den engeren Familienkreis galt. Ihre politische, wirtschaftliche und soziale Integration in diese Gesellschaft war wenig ermutigend.“ Knapp 12 % der Deportierten starb während der Deportation in Russland (3 076 Personen, mehr Männer als Frauen).
Dr. Irmgard Sedler, Kornwestheim, ging auf das Kleidungsverhalten der Deportierten ein und wies darauf hin, dass die erlebte Grenzsituation sich auch auf die Mentalität der Deportierten und ihre Kleidung ausgewirkt habe. Das Althergebrachte reichte nicht aus. Aufgrund des Ortswechsels musste sich auch das Kleidungsverhalten ändern. Es diente nunmehr dem unentbehrlichen Lebensschutz (Fufaika, Filzstiefel…) Im Lagerleben verlor das herkömmliche siebenbürgische Gewand seine Bedeutung und musste dem Überlebenswillen der Deportierten angepasst werden.
Der bekannte Germanist Michael Markel, früher Klausenburg, stellte in seinem Vortrag Literatur zur Deportation vor: als Erinnerungs- und Gelegenheitsliteratur, die versucht, das Unfassbare zu verarbeiten um damit eines Tages Frieden zu schließen. Oder als Versuch, unter Ausnahmebedingungen anhand eines Krippenspiel („Christi-Geburtstagsspiel von 1947“) Menschen in der Schicksalszange wieder sprachfähig zu machen. Es wurden die einschlägigen Bücher von E. und J. Wittstock, R. Biemel, B. Ohsam und R .Wagner vorgestellt, die alle um den gleichen Schicksalsturm kreisen, allerdings indem sie das Thema unterschiedlich gestalten. Dem Roman Herta Müllers „Atemschaukel“ wurde, wie könnte es anders sein, die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Alles sehr aufschlussreich, anregend und weiterführend im Sinne der Einladung: Nimm und lies, es lohnt sich allemal.
Das Podiumsgespräch mit Zeitzeugen, das Prof. Dr. Andreas Möckel, Würzburg, moderierte, brachte ungefiltert zum Ausdruck, wie tief das Erlebte und Erlittene dieser Jahre Menschen geprägt und verändert hat. Gewohnte Maßstäbe des Lebens veränderten sich oder wurden zurechtgerückt; Kleines wurde klein und Großes groß. Der Mensch als Freund/in wurde entdeckt, aber auch der Mensch als „Feind“ musste ertragen werden. Für viele wurden die Jahre zur praktischen Universität des Lebens.
So ein Podiumsgespräch, in dem Lebens- und Leidensgeschichten erzählt werden, hat deshalb auch eine therapeutische Wirkung. Für die Erzählenden und für die Zuhörer. Heute wird viel darüber gesprochen: Die Kultur des Erinnerns, des Erzählens und des Zuhörens pflegen und zur Lebenskunst erheben wäre allemal eine heilende Zukunftsaufgabe um aus dem „Verbitterungstrauma“, in dem viele stecken, herauszufinden.
Diese Tagung auf dem Heiligenhof bot dazu Anlass und machte einen vielversprechenden Anfang. Im Namen der dankbaren Teilnehmer
Dr. August Schuller
Schlagwörter: Deportation, Bad Kissingen
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- 13.01.2010, 20:02 Uhr von Karin Decker: Ja, das ist alles gar nicht „selbstverständlich“, dass es auf einmal möglich ist, auch über das ... [weiter]
- 13.01.2010, 17:22 Uhr von Scheibi: Danke an Herta Müller, dass Sie mit dem Roman "Atemschaukel" der Sprachlosigkeit unserer ... [weiter]
- 13.01.2010, 15:46 Uhr von Regine ( Jini ): Lieber pedimed, alles was Du über "Lückenfüller" schreibst stimmt sicherlich: Im Seminar wurde über ... [weiter]
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