8. Juni 2002

Neue Zugänge zur siebenbürgischen Tradition gesucht

Die Jugend ist Garant für die Dauerhaftigkeit von Tradition, sie erst vermag dem Ererbten einen neuen Sinn und eine neue symbolische Entfaltung innerhalb einer sich verändernden Welt zu geben. Dies stellte die Volkskundlerin Irmgard Sedler, Vorsitzende des Vereins Siebenbürgisches Museum Gundelsheim, in der Festveranstaltung "Mit der Jugend in die Zukunft" des Heimattag am 18. Mai 2002 in der St.-Paulskirche zu Dinkelsbühl fest. Der Festvortrag wird im Folgenden ungekürzt wiedergegeben.
"In der Zeit sinniert der Feuilletonist Ulrich Greiner über allgemeine gesellschaftliche Befindlichkeiten im Zusammenhang mit der zeitprägenden Europäisierung und Globalisierung: „Anstrengung und Leistung“, so schreibt er, „Mobilität und Flexibilität sind die Zauberworte der heutigen Innovationsfetischisten. Tradition ist für sie ein Problem, Überlieferung eine Last, nietzscheanische Selbstüberbietung das Ziel.“ Auf die rhetorische Frage: „In welche Welt erziehen wir unsere Kinder?“ beschwört er, als scheinbar sich logisch aufdrängende Schlussfolgerung, Gegenwelten der Dauer und der emotionalen Zuwendung herauf, wie sie einem nur Erinnerungsräume in engster Verbindung mit Heimat und Herkunft bieten können: „Wahr ist aber auch, dass nicht alle Tugenden an der Front des Wettbewerbs gedeihen... und ... nur der kann sich selbst kennen, der träumen und verweilen darf, der weiß, wo er herkommt. Herkunft ist nie nur biologisch, immer auch kulturell, und wem die geschichtliche Tiefe des kulturellen Raumes verschlossen bleibt, wer die Erzählung nicht kennt, die in der Gestalt von heimatlichen Mythen und Märchen, von Gemälden, Büchern, von Traditionen und Liedern auf uns überkommen ist, der wird im traurigsten Sinne des Wortes seines Glückes Schmied, weil er alleine mit sich selber bleibt“.
Irmgard Sedler hält den Festvortrag in der St.-Pauls-Kirche zu Dinkelsbühl. Foto: Josef Balazs
Irmgard Sedler hält den Festvortrag in der St.-Pauls-Kirche zu Dinkelsbühl. Foto: Josef Balazs


Bei dem faszinierenden Übermaß an dekorativen Trachtenbildern um uns herum, bei den pittoresken Brauchäußerungen und den heraufbeschworenen Heimatbildern von Siebenbürgen, erscheint es uns hier und heute als ein Leichtes, diese Überlegungen zu bestätigen, ja ihnen wissend zuzustimmen, sie mit der eigenen kulturellen Erfahrung der Siebenbürger Sachsen zu untermauern. Mehr noch: Mit Emotionen und Sehnsüchten nach der verlorenen, real-geografischen Heimatregion Siebenbürgen keimt zugleich bei manchem der hier in Dinkelbühl Agierenden auch eine fragile Hoffnung auf eine neu aufzubauende, „heile“ Kulturwelt des Sächsischen auf, die als Insel zeitlos gültiger, kultureller Werte zunächst einmal um ihrer selbst willen erstrebenswert ist, aber auch „unseren Kindern“ in der allgemein zu erwartenden „unsicheren“ Zukunft vielleicht Halt zu geben vermag.

In solchen Traumbildern, an die man nicht die Messlatte des Realisierbaren oder Unrealisierbaren anlegen sollte, liegt zum einen die Motivation zur Mobilisierung bedeutender kultureller Kräfte, zum anderen besteht aber auch die Gefahr, dass sie zu Abziehbildern erstarren, allenfalls fragwürdige Legendenbildung bedienen, oder gar im Bestreben, einen nationalen sächsischen Mythos aufrecht zu erhalten, vermarktet und verschlissen werden. Dieser Ambivalenz im Umgang mit dem sächsischen kulturellen Erbe sollte man sich bewusst bleiben.

Gerade das symbolisch aufgeladene Erscheinungsbild siebenbürgisch-sächsischer Trachten, dazu die im Brauchtum verdichteten Traditionsbilder eines sich allgemeingültig darbietenden, zeitlosen sächsischen Lebensmodells sind in ihrem Zusammenwirken so stark, dass sie einen, seit Generationen schon, nur schwer loslassen. Dieser Hort an Vertrautheit, der das Bild, die Projektion vom Bauerndorf der Jugend unserer Eltern und Großeltern konserviert, verlockt verständlicherweise zu Schwärmerei und Heimattümelei. Wenn diese Traditionen nur noch aus einer anrührenden, dem Heimatverlust entsprungenen, verständlichen Vergewisserung aufrecht erhalten werden sollten, die da sagt: „Dieses hier nimmt uns keiner mehr“, geraten sie leicht ins Abseits. Kritiker haben es dann leicht – wie noch vor wenigen Jahren beim Oktoberfest in München geschehen – über „Operettenauftritte“, über Kostümfeste der Geschichte zu spotten und den Trachtenträgern zu unterstellen, sie seien in eine Welt der Vergangenheit eingesponnen, sie würden „vom kulturellen Abfall“ einer untergegangenen Wirklichkeit leben.

Nur wenn es gelingt die tradierten Lebensmuster der siebenbürgischen Heimat im täglichen Umgang auf ihre zeitgenössische Sinnmäßigkeit zu überprüfen, die Dazukommenden nicht mit längst abgedroschenen Klischees abzuspeisen, sondern ihnen und sich selbst neue Denkräume zu eröffnen, indem man neue Zugänge zum Alten sucht, nur so und nur dann legitimiert sich der Rückgriff auf Tradition und siebenbürgisches Kulturerbe. Nur in kritischer Reflektion des Eigenen, der Zuschreibungen, der Stereotypen, der Selbst- und Fremdbilder des Sächsischen, des Rumänischen und Ungarischen, des Fremden im Eigenen und des Eigenen im Fremden lässt sich die Übersetzung und die Übersetzbarkeit von Tradition für die gegenwärtige Daseinsbewältigung überprüfen und erfahren.

Indem nun die Siebenbürgisch-Sächsische Jugend in Deutschland – gemeint sind hier die Jugendlichen, die sich im verfassten Rahmen der landsmannschaftlichen Vereinigung zu den kulturellen Wurzeln ihres elterlichen Herkunftsgebietes bekennen – in diesem Jahr nicht nur die diesjährige Großveranstaltung in Dinkelbühl organisatorisch verantwortet, sondern sich im Spannungsfeld von Tradition und Zukunft auch selbst zum Thema vieler Veranstaltungen gemacht hat, hat sie dem diesjährigen Pfingsttreffen einen neuen Anspruch auf Tiefe gegeben. Sie hat Künstlern und Politikern, Persönlichkeiten der Wirtschaft und der Wissenschaft diese Problematik nahe gelegt und sie mit ins Boot geholt. Sie hat in Podiumsdiskussionen über neue Zugriffe auf die Tradition und über das neue kulturelle Selbstverständnis der Völker im Vielvölkerraum Siebenbürgen debattiert und argumentiert.

Die Jugend macht das Pfingsttreffen in Dinkelsbühl zu einem Ort des Gedankenaustausches. Mit den eindringlichen Traditionsbildern vor Augen ergibt sich hier die Gelegenheit, vor allem Fragen in Bezug auf diese Bilder zu entwickeln, die erwarteten Rezept-Antworten aus der Perspektive reflexiv gewordener, individueller Lebensläufe und aufbrechender gesellschaftlicher Verbindlichkeiten abzuwägen. So etwa, wenn es um den oft beschworenen Gemeinschaftssinn siebenbürgisch-sächsischer Lebensbewältigung geht.

Heute weiß man, dass neue, bisher noch ungewohnte Zugriffe auf Tradition und Kulturerbe, auf die altüberlieferten Bilder und Symbole immer dann erfolgen, wenn sich soziale und kulturelle Bedürfnisse verändern. Geschieht dieses zudem zeitgleich mit dem Wechsel der Generationen, so ist immer wieder eine andere Jugend der Antragsteller der neuen kulturellen Ansprüche an das Alte, Überlieferte. Das erklärt den scheinbaren Widerspruch, dass erst die Jugend der Garant für Dauerhaftigkeit von Tradition ist, das erst sie dem Ererbten einen neuen Sinn und eine neue symbolische Entfaltung innerhalb einer sich verändernden Welt zu geben vermag.

Wie sehr die Wahrnehmung und Bewertung der Überlieferung, ihre Akzeptanz oder Ablehnung in Zeiten politischer und gesellschaftlicher Umwälzungen dem kulturellen Bedeutungswandel unterliegen, wie wichtig oder unwichtig sie für die jeweilige Jugendgeneration bei der Daseinsbewältigung sein kann, lässt sich im Rückblick auf die jüngste „sächsische“ Vergangenheit – dort in Siebenbürgen wie auch hier in der Bundesrepublik – etwa am Beispiel des Umganges der Jugendlichen mit der Tracht anschaulich verfolgen. Ist doch die Tracht längst zum Inbegriff sächsischer altväterlicher Lebensweise geworden.

Wir kehren dafür in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück. In Rumänien gingen mit dem Tode von Gheorghe-Gheorghiu Dej und dem darauf folgenden Machtantritt Nicolaie Ceaușescus im Jahre 1965 die Zeiten der internationalistisch geprägten Diktatur des Proletariats in einen neuen rumänischen Nationalkommunismus über. Die Wirtschaftspolitik des Landes hatte sich ganz dem Mythos der Industrialisierung, aufbauend auf die Leistung einer neuen Technokratie ländlich-bäuerlicher Herkunft verschrieben. Auch unter den Siebenbürger Sachsen war man sich zu diesem Zeitpunkt über das Unumkehrbare der gesellschaftlichen Entwicklung im Klaren, zugleich auch darüber, dass es aus den Zwängen der neuen Gesellschaftsordnung kaum Ausbruchsmöglichkeiten gab: „Es haben sich unsere Leute an den Kommunismus und an das Rumänische gewöhnt... Damals [in den Sechzigern] haben wir noch Häuser gebaut! Später dann nicht mehr. Und nur wenige dachten damals an Deutschland“, heißt es in der Erinnerung eines Großauer Bauern. Die sächsische Jugend dieser Zeit wuchs in einen als „normal“ empfundenen kommunistischen Alltag hinein, auch sie hatte ihre Zukunft auf die Aufstiegsangebote und -chancen in der neuen Gesellschaft ausgerichtet. Man wollte in die Stadt, gar studieren, die traditionelle Lebensform sächsischer Bauern und Handwerker lockte die Jugend kaum mehr. Die Tracht, das bäuerliche Gemeinschaftsgewand, war in ihren Augen nunmehr der Ausdruck dieser überwundenen, unmodernen Lebensweise, sie verlor bei der zunehmenden Individualisierung der jugendlichen Lebensentwürfe allmählich an normativer Verbindlichkeit. Die zeitmodische Allerweltskleidung verdrängte die Tracht vollständig aus dem Alltag der Jugend, und auch die mittlere Generation „kleidete sich aus“, soweit dies nicht schon vorher geschehen war: „Wir trugen Miniröcke und Trapezhosen, der Pändel war für die Großmütter, der passte nur noch aufs Feld!“ Neue Körper- und Hygieneerfahrungen und die zunehmende Wertschätzung gepflegter Körperlichkeit erleichterten auch den Verzicht der Mütter- und Vätergeneration auf das überlieferte, identitätsstiftende Kleid. Durch die zwangsweise nachlassende Bindungskraft der Kirche und die Verwässerung religiös-tradierter Kulturmuster, auch auf dem Dorfe, verlor die Tracht bei der Jugend auch als Kirchengewand an Wertschätzung. Konfirmationen im Kostüm und Anzug, Hochzeiten im weißen Brautkleid waren kaum mehr die Ausnahme. Dass die Tracht der jungen Generation trotzdem nicht fremd wurde, verdankt sie einem neuen, zeitaktuellen, man staune, auch politisch motivierten Zugang. Bei der aufkommenden, politisch geförderten und bald inflationären atheistischen Ritualkultur der kommunistischen Gesellschaft drängte die kommunistische Propaganda die Tracht, das bäuerliche „Ehrenkleid“ in eine neue, kulturpolitische Rolle. Als Ausdruck „einer im Klassenkampf gereiften ländlichen Arbeiterkultur“ war sie ein „Beweis“ der „Legitimität“ und der angedichteten Tradition einer solchen Festkultur. Die Koppelung dieses Bäuerlichen an das Rumänisch-Nationale und Patriotische bewirkte bei der rumänischen Bevölkerung eine uneingeschränkte Akzeptanz der neuen „Volkskultur“. Doch auch die Siebenbürger Sachsen verstanden die Teilnahme an der neuen „Laienkunstbewegung“ als etwas Positives. Die Festtracht, „das Kirchengewand auf der Bühne“, ließ wohl hin und wieder einen Pfarrer über Brauch und Missbrauch von Tradition sinnieren. Im Allgemeinen aber bereitete es keine Schwierigkeiten, die in Tracht dargebotenen „Kulturaktivitäten“ auf der Bühne im neuen Rahmen als das Erlebnis lokaler, ungebrochen in heimatlicher Überlieferung stehender Festkultur zu bewerten. Die Tracht überlebte somit hauptsächlich als Folklore. Ihre Wahrnehmung geschah verstärkt über das Malerische, Schöne, Wertvolle ihrer Ausstattung.

In den späten Siebzigern und frühen Achtzigern änderte sich die Sichtweise und der Zugang zum Festgewand der Eltern erneut. Bei der kompromisslosen Ideologisierung aller Bereiche des öffentlichen Lebens setzte die gewandelte Ceaușescu-Politik auf den rumänischen Nationalismus als politisches Herrschafts- und Rechtfertigungsinstrument. Der bis dahin nie gekannte Assimilationsdruck in den Achtzigern steigerte das Gefühl der gesellschaftlichen Herabsetzung und der Verdrängung der nationalen Minderheiten aus der Geschichte des Landes. In dem Maße, wie die kommunistische Politik dieser Zeit überhaupt jede Identität zu vernichten trachtete und sich für die Siebenbürger Sachsen die Sinnfrage des Gehens oder Bleibens immer akuter stellte, erfuhren die Mechanismen der privaten und der kollektiven kulturellen Selbstvergewisserung plötzlich eine neue Gewichtung. Dafür bedurfte es wieder einmal eindeutiger Symbole, der Elemente und Bilder von Dauerhaftigkeit. Man suchte und fand sie in den vertrauten und längst verinnerlichten Bildern kultureller Behausung: in der Gemeinschaft, in der Lautung der Mundart, im Dorfbild, das durch die „Systematisierung“ auch schon bedroht war, in der Kirche und in den Trachten. Das Beisammenstehen der Generationen im Schatten der Kirchenburg im sonntäglichen Feststaat zeigte ein echt und überzeugend wirkendes Außenbild, welches mit dem durch Jahrhunderte geformten Inbild sächsischer Kultur- und Schicksalsgemeinschaft völlig übereinstimmte. Dieses auch fotografisch immer wieder festzuhalten, war nur eine logische Konsequenz. Da solche Bildmotive im Alltag kaum mehr zu finden waren, so fügten sie sich bei kirchlichen Festen und hohen Feiertagen, aber auch bei den viel beachteten Brauchveranstaltungen zu einer beeindruckenden Manifestation der kulturellen Dauer. Es waren Bilder einer bewusst vermittelten Schönheit und Ursprünglichkeit, symbolisch aufgewertet wie noch nie, Ausdruck einer zur „Urheimat“ der eigenen Kultur deklarierten Vergangenheit. Dieser vielschichtige, kulturelle Bedeutungszuwachs, den somit auch die Tracht in den Achtzigern erfuhr, blieb nicht ohne Konsequenzen auf den realen Umgang mit der Tracht in den sächsischen Dörfern. Die neue Trachtenbegeisterung zeigte sich im verstärkten folkloristischen Einsatz auf der Bühne (bei Massenfestival Cântarea României), aber, was noch wichtiger war, zunehmend auch an der Wiedereinführung der Tracht als Konfirmations- und Hochzeitskleid, an dem Gebrauch des großelterlichen Kirchenfestkleides in ritualisierten Zusammenhängen der überlieferten Festkultur. In Großau riefen Pfarrer und Presbyter im Frühjahr 1983 öffentlich zur Besinnung auf das altväterliche Trachtenerbe auf. Die neue Wertschätzung emotionalisierte den Umgang mit dem „würdigen Ehrenkleid“. Im Bewusstsein der vollzogenen kulturellen Geste wandelte sich das Trachten-Anlegen zu einer andächtigen Handlung, rückte es oft gar in die Nähe religiösen Empfindens: „Für die Kirchentracht braucht man Zeit. Man zieht die Kleider mit Geduld an, man wirft sie nicht wie mit der Mistgabel auf sich! Wenn die Kirchenkleider in der ‚vederschten Stuw’ schon ausgebreitet liegen, glaubt man sich schon ein wenig in der Kirche.“ (Großau). Aber auch das unbefangene, reizvolle Spiel mit den wechselnden Erscheinungsbildern, wenn man sich umzog „aus der Tracht in die Mode, aus dem Kittel in die Jeans“ (Großpold) – auch dies gehörte mit zum jugendlichen Umgang und der neuen Begeisterung der Jugendlichen für die Tracht.

Tracht und Überlieferung allgemein hatten während der ganzen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Protagonisten zeitweilig aus dem kommunistischen Alltag herauszuheben vermocht, ihnen geholfen, ihr Lebensverständnis auch auf ein Jenseits des erlebten Daseins in der tristen kommunistischen Gesellschaft der Achtziger auszurichten. Als diese Symbole und Embleme kultureller Eigenart in der zweiten Hälfte der Achtziger zudem noch verstärkt das Objekt der Bewunderung durch ausländische Besucher und Touristen wurden, vergrößerte sich auch der Radius ihrer kulturellen Wirkung. Solches weckte Hoffnungen und Erwartungen, die umso ernster erschienen, je mehr die Auswanderung und ein Leben in der Bundesrepublik Deutschland zum Bezugspunkt sächsischer Lebensorientierung wurde. Über das Bildliche der Trachten und Bräuche erhoffte man sich, den beanspruchten Platz in der westlichen Gesellschaft kulturell zu rechtfertigen und sichern zu können. Als dann die Erfahrungen in der postnational geprägten, westlichen Gesellschaft nicht unbedingt den mitgebrachten Erwartungen und der Wertehierarchie eines vorindustriell geprägten sächsischen Denkens entsprachen, führte dieses zu Enttäuschungen, gar zu Sinnkrisen. Ich erinnere nur an die Verbrennungen und Vernichtungen von Trachtengut vor der Auswanderung, an die sich aufdrängende Infragestellung der alten kulturellen Orientierungsmarken.

Es war und ist die Chance einer neuen Generation von Jugendlichen, das siebenbürgische Kulturerbe für sich in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen neu zu entdecken und zu beanspruchen, unterschiedlich in Siebenbürgen, in der Bundesrepublik Deutschland und auch anderswo. Der unbefangene Blick der Jugend birgt in sich die Möglichkeit des wiederum neuen, unbelasteten Zugangs. „Cool“ und „lustig“, „irre schön“, „irgendwie einmal etwas anders“ zu sein in einem Umfeld der Gleichmacherei – das sind Stichproben aus der Wortkaskade erfreulicher Bewertung des Traditionellen aus jugendlichem Munde hier in Dinkelsbühl vor zwei Jahren. Selbst wenn sich das Mitmachen Jugendlicher vordergründig oft auch nur an dieser Freude am „irgendwie anderen“ Unterhaltsamen festmachen lässt, sei es drum, das Treffen in Dinkelsbühl ist eine Großveranstaltung der Unterhaltung und Freude am Beisammensein. Das Spiel mit der Identität bleibt reizvoll, Teilzeitidentitäten (Schulze) sind heute längst erprobt, sie geben Facetten zeitgenössischer Lebens- und Selbsterfahrung wider.

Zugleich aber bietet die Auseinandersetzung mit dem Kulturerbe der Eltern und Großeltern den jungen Menschen auch eine Chance zu einer etwas anderen Selbstbefragung. Bei einem Lebensvollzug im Zeitalter der Europäisierung, wo man immer weniger örtlich gebunden ist und immer seltener auf einen spezifischen Kulturraum zurückgreifen kann, ist die soziale Bindungskraft einer Gemeinschaft, die sich mehr oder weniger manifest auf gemeinsame kulturelle Wurzeln bezieht, in unserem Falle auf die „sächsische Welt“ mit ihrer überschaubaren symbolischen Ordnung und dem vertrauten Kommunikationsinventar, eine gute Orientierung auf der Identitätssuche im Sinne der schon erwähnten doppelten Selbstvergewisserung – das Eigene im Fremden und das Fremde im Vertrauten zu erfassen. Aus dieser Selbstvergewisserung doppelter kultureller und heimatlicher Verortung heraus gelingt dann auch der neue Brückenschlag, den die „sächsisch-deutsche“ Jugend zur alten Heimat mit ihren vielen Kulturen und Völkern leistet. Und dass sie ihn gekonnt leistet, ihren eigenen Zugang auch zu dem heutigen Siebenbürgen gefunden hat – ob über Kirchenburgenbilder und Trachten, über Maisfelderlandschaften, kommunistische Plattenbauten, Mundart oder getragene Doinalieder, in Begegnungen mit Jugendlichen aus Rumänien, Siebenbürgeninteressierten aus ganz Europa oder gar aus Übersee - das beweist nicht zuletzt der heutige Tag mit seiner Vielfalt an Veranstaltungen und den Möglichkeiten menschlicher und kultureller Kommunikation.

Irmgard Sedler

Bewerten:

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.