4. Juni 2002

Von Verdrängung keine Spur

Rede des Stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen, Thorsten Schuller, an der Gedenkstätte in Dinkelsbühl
Bei der Gedenkveranstaltung des diesjährigen Heimattages, die am Mahnmal der Siebenbürger Sachsen im "Lindendom" der Alten Promenade von Dinkelsbühl stattfand, hielt Dipl.-Ing. Thorsten Schuller die feierliche Ansprache. Der Stellvertretende Bundesjugendleiter der SJD thematisierte Inschrift und Funktion des Mahnmals, und betonte vor dem Hintergrund jüngerer Zeitgeschichte die Notwendigkeit der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Flucht und Vertreibung. Schullers Rede wird im Folgenden ungekürzt wiedergegeben.

Die Fackelträger standen Spalier bei Thorsten Schullers Rede am Mahnmal. Foto: Günther Melzer
Die Fackelträger standen Spalier bei Thorsten Schullers Rede am Mahnmal. Foto: Günther Melzer


„Gedenke der deutschen Söhne und Töchter Siebenbürgens, die in zwei Weltkriegen und schweren Nachkriegsjahren ihr Leben ließen. Im Norden, Osten, Süden, Westen. Hinter Stacheldraht. Auf der Flucht. In der Heimat.“ So lautet die Inschrift der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen hier in Dinkelsbühl. Erbaut 1967, zu einer Zeit, da Historiker, Politiker und die deutsche Öffentlichkeit im Allgemeinen noch davor zurückscheuten, das Thema Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den mittel- und osteuropäischen Siedlungsgebieten aufzugreifen.
Zum einen, um sich nicht auf politisch vermintes Gelände zu begeben, zum anderen, um nicht gewissen, umstrittenen Forderungen einiger Landsmannschaften zustimmen zu müssen. Schließlich um sich nicht mit der unangenehmen Wahrheit auseinander zu setzen, dass die Vertreibung ohne das brutale und unmenschliche Vorgehen Nazideutschlands kaum derart eskaliert wäre.
Erst jetzt, mehr als 50 Jahre nach der grausamsten Vertreibungswelle in Europa, erfährt das wiedervereinigte Deutschland über ein Kapitel der Zeitgeschichte, mit dem bis dahin die Überlebenden der Flüchtlingstrecks, die Vertriebenen und in Arbeitslager Deportierten allein fertig werden mussten.
Unsere Landsleute hatten Krieg, Deportation, Enteignung, die Aberkennung sämtlicher Bürgerrechte, und deren zum Teil bis heute noch körperlich oder psychisch spürbaren Folgen zu bewältigen. Eine Vielzahl von Schicksalen, Tragödien und Leidenswege, die keiner der Betroffenen jemals vergessen kann und wird.
In der bundesdeutschen Mehrheit stießen die Überlebenden dieser das menschliche Fassungsvermögen überforderndenden Tragödien jahrzehntelang auf Desinteresse und Ignoranz. Zum Schaden für den seelischen Heilungsprozess der Betroffenen. Neben der Familie und den engsten Vertrauten boten einzig die Verbände Unterstützung an. Menschen mit gleichem Schicksal organisierten sich dort, um gemeinsam das Erlebte zu überwinden und Kraft und Mut für einen Neuanfang zu finden. Die Betroffenen wandten sich Verbänden und Organisationen zu, die Denkmäler und Mahnmäler wie hier in Dinkelsbühl schufen, im Gedenken an alle Frauen, Kinder und Männer, die den Schrecken der Kriege zum Opfer fielen.
Denkmäler, Mahnmäler, in Stein, Metall oder Holz verewigte Geschichte, fassbare Bezugspunkte wie Grabmäler, die Halt bieten können, die einem die Bilder aus der Vergangenheit vor Augen führen, sie aus den Köpfen heraus materialisieren können und helfen, diese zu verarbeiten, und die endlich Nichtbetroffene ermahnen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.
Auf breiter Basis findet inzwischen die bewusste Auseinandersetzung mit der lange verdrängten und in der Vergangenheit als „erzwungene Wanderschaft“ titulierten Vertreibung zwischen 1939 und 1947 von nahezu 50 Millionen Menschen statt. Das nicht nur aufgrund des Endes des Kalten Kriegs und der Öffnung der Grenzen Europas, sondern auch infolge eines Weckeffektes, ausgelöst durch Bilder aus europäischen Krisengebieten.
Eine unbefangene Vergangenheitsbewältigung der Enkel-Generation, die sowohl durch den zeitlichen Abstand als auch emotional weniger belastet ist, hat eingesetzt. Diese Entwicklung steht in ursächlichem Zusammenhang mit der Medienberichterstattung über die Kriege am Balkan, am Golf und jüngst in Afghanistan. Von heute auf morgen gehörten Flucht und Vertreibung, schlimmer noch, „ethnische Säuberung“ nicht mehr nur einer nahezu unbekannten Vergangenheit an.
Die Auseinandersetzung mit diesen Themen verengte sich nicht auf Erzählungen und Denk- und Mahnmäler, auf Geschichten und in Stein oder Metall verewigte Inschriften, sondern bezog vielmehr tagesaktuelle Nachrichten ein. Bei der Opfergeneration rufen die Bilder, die jeden Tag durch die Presse gehen, unvergessliche Erinnerungen wach. Die Nachkommen werden "Augenzeugen" dessen, was gerade die unschuldigen Opfer eines Krieges zu erleiden haben.
Das erst kürzlich erschienene Buch Im Krebsgang von Günter Grass rücke das Thema Flucht und Vertreibung erneut ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Walter Kempowski, Tanja Dückers und Marion Gräfin von Dönhoff sowie eine große Zahl Historiker widmeten und widmen sich in jüngster Zeit dem Schicksal Hunderttausender, wenn nicht Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen am Ende des von Hitler und seinen Vollstreckern geführten Vernichtungskrieges.
Von Verdrängung keine Spur mehr. Die Zeiten, in denen es als ungebührlich galt, nicht allein über NS-Terror, sondern auch über das selbst erlittene Leid zu diskutieren, sind offenkundig vorüber. Durch die Wiederkehr des Verdrängten wurde scheinbar ein gesellschaftlich heilsamer Prozess ausgelöst.
Eine wachsende Zahl junger Menschen hat ihr Interesse entdeckt für die lange ignorierten Zeitzeugenberichte über die alte Heimat und die schrecklichen Ereignisse der Vertriebenen und Flüchtlinge. In einem sich vereinenden Europa wollen die Geschehnisse eingeordnet werden. Das wechselseitige Erzählen der eigenen Geschichte, jenseits von eigener Schuld und Selbstkasteiung, dient der Aussöhnung.
Eine kollektive Verarbeitung und Bewältigung der Vergangenheit über alle Grenzen hinweg muss einsetzen für eine gemeinsame Zukunft in einem friedlichen Europa und über dessen Grenzen hinaus. Damit sich der Neubau von Gedenkstätten wie dieser erübrigt, und damit künftige Generationen verschont bleiben von Krieg, Flucht, Deportation, Enteignung, und Vertreibung aus der Heimat.

Bewerten:

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.