17. Juli 2002

Osteuropäische Avantgarde - große Retrospektive in München

Unter dem Titel „Avantgarden in Mitteleuropa, 1910-1930“ zeigt das Münchener „Haus der Kunst“ eine Ausstellung, die zum ersten Mal einen breiten Querschnitt durch teils noch wenig bekannte Bewegungen kreativer Erneuerung bietet.
In Zusammenarbeit mit dem Los Angeles County Museum of Art, dem Center for German Expressionist Studies in Los Angeles (USA) und dem Martin-Gropius-Baus Berlin werden vierzehn Städte und die einst dort beheimateten Künstlergruppen vorgestellt.

Bisher konzentrierte sich das kunsthistorische Interesse bezüglich der Avantgarde meist auf einige Zentren, die im Osten Europas, in Moskau, oder im Westen, in Paris, München, Berlin, Weimar, Dessau lagen. Doch zwischen diesen Zentren spannte sich ein „weitverzweigtes und vielseitiges Netz künstlerischen Austausches, wechselseitiger Inspiration und eigenständiger Entwicklungen, das man mit seinem Nuancenreichtum bisher kaum beachtet“ hat, wie Prof. Hubertus Gaßner bei der Vernissage im „Haus der Kunst“ feststellte.

So waren es die kubistische „Skupina“-Gruppe in Prag, die bereits 1911 aus der deutsch-tschechischen Künstlervereinigung „Die Acht“ hervorgegangen ist, die ungarischen „Aktivisten“ um Lajos Kassák, die polnische Gruppe „Bunt“ in Posen, die „Formisten“ in Krakau, die „Konstruktivistische Internationale“ in Düsseldorf, die „Sturm“-Bewegung in Berlin, die Künstlergruppen um die Zeitschriften „MA“ in Budapest und „Contimporanul“ in Bukarest u.a., die, 1910-1930, eine bunte Vielfalt von Avantgarden anregten und entstehen ließen.

Eine bedeutende Rolle in diesem geistigen und gestalterischen Austausch zwischen ost- und westeuropäischen Künstlern spielte die 1919 von Walter Gropius in Weimar gegründete „Hochschule für Gestaltung“ – damals sprach man in Deutschland noch ein kultiviertes Deutsch und kannte noch nicht das Wort „Design“ –, wo unter anderen Lyonel Feininger, Paul Klee, Oskar Schlemmer, Wassily Kandinsky und László Moholy-Nagy als Lehrer tätig waren und zahlreiche ungarische Künstler wie Alfréd Forbat, Farkas (Wolfgang) Molnár und Sandor Bostnyik mitwirkten; im Entwurfsbüro für Formgestaltung (heute „Design“) von Walter Gropius in Dessau arbeite z.B. der ungarische Architekt István Sebök. So werden auch Möbel, Teile eines Kaffeeservices und sogar ein Teppich gezeigt.

Dieser vielfältigen Entwicklung bereiteten dann zwei totalitäre Regime, die Nationalsozialisten und die Kommunisten, ein rasches Ende, das am 19. Juli 1937 in München durch die berüchtigte Schau „Entartete Kunst“ – sie fand in einem Gebäude gegenüber dem damaligen „Haus der Deutschen Kunst“ statt – als öffentliche Verhöhnung kulminierte. Die „Kunst“ und auch die Architektur der Nazi-Ära, in Form und Ausdrucksweise dem „Sozialistischen Realismus“ sehr ähnlich, wird im Foyer in einer geschichtlichen Dokumentation vorgeführt; und an dieser ständigen Ausstellung sollte man bei einem Besuch im „Haus der Kunst“ nicht vorbeigehen.

Unter den 78 Künstlern, deren Namen heute weltbekannt sind – Ungarn, Russen, Polen, Tschechen, Slowaken, Rumänen, Österreicher und Kroaten – befinden sich auch zwei Siebenbürger, die heute ebenfalls zur Elite der mitteleuropäischen Avantgarden gehören: Hans Mattis-Teutsch (1984-1960), Maler, Bildhauer, Kunsttheoretiker, Dichter, Kunstpädagoge, und sein Schüler Heinrich Neugeboren (Henri Nouveau, 1901-1959), Maler, Komponist, Pianist, Schriftsteller. Beide stammen aus Kronstadt, das damals in Ungarn lag. Seltsamerweise wird im Register des Ausstellungskatalogs, wo alle Künstler mit ihren Werken verzeichnet sind, der eine (Mattis-Teutsch) als „siebenbürgischer Maler“ und der andere (Nouveau) als „französischer Maler rumänischer Abstammung“ aufgeführt. Bei Mattis-Teutsch steht somit „siebenbürgisch“, wie bei anderen Künstlern „polnisch, russisch, rumänisch“ usw., für Nationalität und Staatsbürgerschaft.

Von Mattis-Teutsch, dem berühmtesten siebenbürgischen Künstler der Moderne, sind zehn Arbeiten – drei Ölgemälde, ein Aquarell, eine farbige Skulptur und fünf Grafiken, Leihgaben aus New York, Los Angeles, Budapest, Zürich und München – zu sehen; außerdem werden mehrere ungarische und rumänische Zeitungen und Zeitschriften („MA“, „Contimporanul“) gezeigt, in denen Linolschnitte von ihm reproduziert sind. Heinrich Neugeboren-Nouveau ist mit zwei farbigen Kompositionen vertreten, die sich im Besitz des „Museums der Schönen Künste“, Budapest, befinden. Eine Reihe von Leihgaben, Dokumentarmaterial und Werke „rumänischer“ Künstler, wie Victor Brauner, Maximilian Hermann Maxy, Arthur Segal, Friedrich Kiesler u.a. stammen aus den bekannten Privatsammlungen von Dr. Nicolas Éber, Arch. Michael Ilk und Dipl.-Ing. Georg Lecca.

Was in dieser umfassenden Retrospektive zum erstenmal veranschaulicht wird, sind vor allem die neuen Erkenntnisse und Einsichten in das Phänomen der Avantgarden, denn es hat, wie man nun sehen kann, in der Zeitspanne 1910-1930 eine ganze Reihe von bedeutenden künstlerischen Bewegungen und Knotenpunkten gegeben, die nun als Orte des internationalen Austausches, als Schauplätze der Idiome, Stile, Ideologien und Ausdrucksweisen vorgeführt werden.

Die Ausstellung ist täglich bis zum 10. Oktober geöffnet. Der Katalog, mit 17 verschiedenen kunstgeschichtlichen und -theoretischen Beiträgen und zahlreichen Abbildungen, kostet 14,90 Euro und ist an der Kasse erhältlich.

Claus Stephani


(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 11 vom 15. Juli 2002, Seite 6)

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