16. Juli 2002

Zeugnisse siebenbürgischer Erzählkunst

Eine neue Anthologie siebenbürgischer Erzählkunst: Sie will, so ihr Herausgeber Stefan Sienerth, „repräsentative“ Texte „herausragender siebenbürgisch-deutscher Prosaschriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts“ dem Leser zur Hand geben. Und das gelingt ihr zweifellos.
Denn die Auswahl, die der urteilssichere, weil erfahrene Literaturhistoriker getroffen hat, ruft in chronologischer Folge nicht nur wertvollste Proben gedrängt epischer Darstellung ins Gedächtnis, wie sie aus der literarischen Landschaft des Karpatenbogens hervorgegangen sind, sie liefert zugleich auch einen aussagekräftigen Querschnitt durch das, was die dortigen gesellschaftshistorischen Umstände seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an ereignishaften Anstößen, an Reflexionen, Wertvorstellungen und Sprechweisen in den „raunenden Imperfekt“ des Erzählens hineingedrängt haben.

Am Beginn der Anthologie stehen zwei exemplarische Prosastücke des so genannten „Dorfrealismus“: Der kleine Djordje von Traugott Teutsch (1829-1913), eine novellistisch spannungsgeladene Geschichte um den Mord an einem sächsischen Pferdehändler, der schuldhaft in dunkle Geschäfte verstrickt ist, und die ländliche Idylle Plattner Tin, der Märchenerzähler von Johann Plattner (1854-1942), das mundartlich eingefärbte Porträt eines liebenswert urwüchsigen Dorforiginals aus der Reihe der „Stolzenburger Gestalten“, wie sie Plattner reihenweise der Nachwelt überliefert hat.

Ganz anders die sachlich aufs Faktische beschränkte Chronik des Bauerngeschlechtes Millen-Müll von Adolf Meschendörfer (1877-1963): Die über fragwürdigste Manipulationen immer wieder „gewählten“ Vertreter einer Geschlechterdynastie von Zeidner Ortsrichtern scheuen kein auch noch so verbrecherisches Mittel, ihr Besitztum und ihre Macht zu mehren, und führen damit den Mythos von einer Gemeinschaft, „da keiner Herr und keiner Knecht“ sein sollte, ad absurdum. Gegen Stereotypen, in diesem Falle ethnischer Art, schreibt auch Heinrich Zillich (1898-1988) in seiner Erzählung Die Schlucht an, indem er aus dem Impakt zweier Kulturkreise während des Ersten Weltkriegs, des deutschen und rumänischen, menschlich tragisches Geschehen ableitet. Geradezu „klassisch“ dann Die Verfolgung von Erwin Wittstock (1899-1962): In der Meisternovelle führt das starre Festhalten an einem fetischisierten altsächsischen Ordnungsbegriff gnadenlos zum nicht mehr vertretbaren Menschenopfer. Festgefahrene Moralbegriffe gleicher Art treiben die Kuratorstochter Ada Knaatz nach verhängnisvoll befreiender Kunsterfahrung in Verzagen und zerstörerischen Wahnsinn: Paul Schuster (geb. 1930) zeichnet ihren steinigen Weg mit anrührend akribischer Genauigkeit und faszinierender Realitätsnähe in seiner Erzählung Heilige Cäcilia nach. Die Geschichte gehört zu den Glanzstücken der Anthologie.
 Renate Mildner-Müller: Illustration zu Erwin Wittstocks Erzählung „Die Verfolgung“.
Renate Mildner-Müller: Illustration zu Erwin Wittstocks Erzählung „Die Verfolgung“.

An den katastrophalen Folgen des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegsjahre machen gleich zwei Prosastücke ihre Handlung fest: Andreas Birkner (1911-1998) liefert in Schwarzer Schnee ein bewegendes Bild der Notdürftigkeit siebenbürgischen Nachkriegsalltags im Kontrast zu westdeutschem Überflussdenken, Hans Bergel (geb. 1925) leitet in Das Venusherz aus dem Nachkriegsgeschehen der Russlandverschleppung die ödipal tragische Konstellation einer Liebesbeziehung ab, deren letaler Ausgang in den Zeitläuften vorprogrammiert ist.

Das Leben und Überleben unter den Zwängen der realsozialistischen Diktatur in Rumänien thematisieren drei Geschichten: Georg Schergs (geb. 1917) autobiografische Erzählung Das Kartenhaus, in der die Kontinuität familiär-persönlicher Lebenserfahrung der verordneten Einebnung des Individuums erfolgreich entgegengestellt wird, Joachim Wittstocks (geb. 1939) geheimnisumwittertes Herantasten an Existenz und Sinn eines Bußwinkels und Franz Hodjaks (geb. 1944) drastische Geschichte eines regimefeindlichen Totengräbers und Besitzers einer Flickjacke, die das Corpus delicti abgibt für die Verbrechen der Machthaber.

Damit schließt sich der Kreis der im Buch zusammgefassten literarischen Unternehmungen, die Welt, in der Menschen in Siebenbürgen gelebt, gefühlt, gedacht und sich verhalten haben, zu erkunden, auszuloten und in erzählerischen Duktus umzusetzen. Das repräsentativ zu dokumentieren hat Sienerth versucht - und der Versuch hat sich gelohnt: diese seine neue Anthologie von Geschichten aus dem Herkunftsland, dem er entstammt, ist gültig und für die „Randliteratur“, die sie zu veranschaulichen hat, durchaus relevant. Bloß hätte er als Herausgeber in einigen Teilen seines sehr lesenswerten Buchs mehr Sorgfalt walten lassen müssen. Das sei ihm hier ins Stammbuch geschrieben:

Aus der Lektüre ist ersichtlich, dass für diese Ausgabe die einzelnen Texte aus bereits vorhandenen Erst- oder Nachdrucken per Computer eingescannt worden sind. Nun sind Scanner nur zu dem befähigt, was sie von ihrem Programm her „wissen“. Sprachliche Eigenheiten von siebenbürgischen Schriftstellern lassen sie unberührt. Sie erkennen und bearbeiten Vorlagen nach dem ihnen eingespeicherten Programm. Das hat Auswirkungen auf den von ihnen erstellten Text. Dieser aber blüht nun in der Neuausgabe nicht nur von falsch oder unnütz eingesetzten Kommata, sondern such von so manchem Fehler. Das reicht von fehlenden Anschlägen wie bei „Alterheim“ .(S. 275) statt „Altersheim“ oder „Altenheim“ bis hin zu lächerlichen Verballhornungen: gleich zweimal etwa wird auf Seite 263 der dem Computer offenbar unbekannte „Bankert“, mit dem die Kantorstochter Ada gesegnet ist, schlicht zum „Bankett“, was beim Leser ungewollte Heiterkeit, im besten Falle Unverständnis auslöst.

Auf dessen Informationslücken, vor allem denen des nichtsiebenbürgischen Lesers, hat der Herausgeber auch in seinem bio-bibliografischen Anhang zu wenig Rücksicht genommen. Bei den Angaben zur Quelle des jeweilig eingescannten Abdrucks wird, möglicherweise auch aus Gründen des Copyrights, das Erscheinungsjahr der betreffenden Vorlage genannt, so dass der Leser etwa bei Erwin Wittstocks 1926 entstandenen und 1927 erstmals erschienenen Novelle Die Verfolgung mit dem falschen Eindruck bleibt, ihr Erstdruck sei 1999 (!!!) erfolgt. Wenn Leserverwirrungen solcher Art bei älteren Texten, so auch bei Adolf Meschendörfers Chronik des Bauerngeschlechtes Millen-Müll (1943 bzw. 1947 statt 1978), noch dahingehen mögen, so sind sie im Falle der Erzählungen von Joachim Wittstock und Franz Hodjak geradezu sinnentstellend: Die erste der Geschichten erschien 1980, die zweite 1984, beide in rumäniendeutschen Verlagen und unter den Bedingungen einer mit Argusaugen über jedes gedruckte Wort wachenden Zensur. Beide Autoren mussten sich damals, um ihre regimekritischen Anliegen deutlich machen zu können, einer ausgefeilten Zwischenzeilentechnik aus verschlüsselten Symbolen und verdeckten Anspielungen bedienen. Wenn nun im Anhang der Anthologie das Erscheinungsjahr der Vorlagen mit 1991, also nach dem Umsturz in Rumänien, angegeben wird, so muss sich der nichteingeweihte Leser, falls er nicht Sienerths Vorwort gelesen hat, fragen, was denn die Verschleierungen in diesen Texten denn für einen Sinn haben, oder er versteht sie gar völlig falsch. Hier hat sich Sienerth, wie auch beim Korrekturlesen, seine Arbeit als Herausgeber einer derart „repräsentativen“ Anthologie zu leicht gemacht.

Nichtsdestotrotz aber sind und bleiben die Prosastücke des Sammelbands Zeugnisse einer beachtenswerten Erzählkunst und Gegenstand immer wieder neu erhellender und auch vergnüglicher Lektüre. Sie sollten Eingang finden ins Leseinteresse vieler Freunde siebenbürgisch-deutscher Literatur, und das um so mehr, als die Geschichten zusätzlich von der Grafikerin Renate Mildner-Müller mit sehr viel Feinsinn und Tiefenverständnis bebildert worden sind. Schon diese Illustrationen wären mit ein Grund, das Buch zu erwerben.

Hannes Schuster


Siebenbürgische Erzählungen. Herausgegeben von Stefan Sienerth. Mit Illustrationen von Renate Mildner-Müller. Verlag Südostdeutsches Kulturwerk, München 2001, broschiert, 304 Seiten, ISBN 3-88356-165-7. Zu bestellen zum Preis von 16,00 Euro im deutschen Buchhandel oder über Herold Druck und Verlag GmbH, Kolpingring 4, 82041 Oberhaching, Telefon: (089) 61 38 71 15.

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 11 vom 15. Juli 2002, Seite 5)
Siebenbürgische Erzählungen
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Südostdeutsches Kulturwerk,
Taschenbuch
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