26. Oktober 2002

Erste Bundesministerin siebenbürgischer Abstammung

Mit ihrer überraschenden Ernennung zur Familienministerin kehrt die "Rote Renate" auf die bundespolitische Bühne zurück. Die mütterlicherseits aus dem siebenbürgischen Frauendorf stammende Renate Schmidt (58) wurde am 15. Oktober von Bundeskanzler Gerhard Schröder als neue Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in die rot-grüne Bundesregierung berufen. Als Bundestags-Vizepräsidentin wurde Susanne Kastner gewählt, die sich seit Jahren im Bereich der deutsch-rumänischen Beziehungen engagiert.
Die nötige Qualifikation für ihre Aufgabe als Familienministerin wird ihr nicht einmal von der Opposition abgesprochen. Als dreifache Mutter und doppelte Großmutter bringt sie bei nahezu allen familien- und frauenpolitischen Themen eine gehörige Portion Lebenserfahrung mit. Zuletzt leitete die stellvertretende SPD-Vorsitzende die Familienkommission des Parteivorstands.

Die neue Familienministerin, Renate Schmidt, stammt mütterlicherseits aus dem siebenbürgischen Frauendorf. Die Aufnahme entstand beim Heimattag 1992 in Dinkelsbühl. Foto: Josef Balazs
Die neue Familienministerin, Renate Schmidt, stammt mütterlicherseits aus dem siebenbürgischen Frauendorf. Die Aufnahme entstand beim Heimattag 1992 in Dinkelsbühl. Foto: Josef Balazs

Seit Jahrzehnten gehört die am 12. Dezember 1943 in Hanau am Main geborene und in Franken aufgewachsene Politikerin zu den starken Frauen der SPD. Nach dem Eintritt in die SPD im Jahr 1972 wurde die Programmiererin und Systemanalytikern in den Betriebsrat des Nürnberger Versandhauses Quelle gewählt. 1980 kandidierte sie zum ersten Mal für den Bundestag und verteidigte den Wahlkreis 230 Nürnberg-Nord dreimal in Folge - was im CSU-dominierten Bayern eine Besonderheit ist. In der damaligen Bundeshauptstadt Bonn gelang Schmidt schnell der Aufstieg in die Führungsriege der SPD-Bundestagsfraktion. Sie arbeitete sich als stellvertretende Fraktionschefin und Vizeparteichefin hoch. Die wortgewaltige Fränkin machte sich vor allem als Vorkämpferin für mehr Kindergartenplätze einen Namen. Ende 1990 wurde sie Stellvertreterin von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, fügte sich aber 1991 dem Wunsch ihrer Partei und nahm das schwierige Amt einer SPD-Landeschefin in Bayern an. Sie sollte die Sozialdemokraten aus dem Dauertief gegenüber der seit 1957 allein regierenden CSU herausführen. Bei der bayerischen Landtagswahl 1994 konnte die SPD immerhin von 26 auf 30,3 Prozent zulegen. Als die SPD jedoch vier Jahre später auf 28,3 Prozent zurückfiel, bahnte sich Schmidts Abschied aus der bayerischen Landespolitik an. Im September 2000 gab sie dann SPD-Landes- und Fraktionsvorsitz auf und zog sich ins Privatleben zurück.

Allerdings profilierte sich die Fränkin auf dem SPD-Bundesparteitag in Nürnberg Ende 2001, als sie die Ergebnisse präsentierte, welche die von ihr geleitete SPD-Familienkommission erarbeitet hatte. Und im März 2002 veröffentlichte Schmidt ein Buch mit dem bezeichnenden Titel "S.O.S. Familie Familie - ohne Kinder sehen wir alt aus", das sich „an einigen Stellen fast wie eine Bewerbung um das Amt der Familienministerin las“, so die Nürnberger Nachrichten. Zudem wurde Renate Schmidt in den letzten Monaten immer wieder als mögliche Nachfolgerin von Bundespräsident Johannes Rau ins Gespräch gebracht.

Trotz eines Schicksalsschlags – ihr erster Mann, Gerhard Schmidt, starb überraschend 1994 - ließ sich die „rote Renate“, die „eine bemerkenswerte Frohnatur mit ansteckendem Lachen und einer Vorliebe für knallrote Kleider und Riesenhüte ist, nicht unterkriegen“ (Der Standard, Wien). Sie zog sich nicht zurück, sondern versuchte ihre Erfahrungen durch politisches Engagement zu verarbeiten. Seit 1998 ist sie mit dem Maler Hasso von Hennings verheiratet.

Zu ihrer siebenbürgischen Herkunft hat sich Renate Schmidt stets bekannt. 1992, 1993 und 1998 beteiligte sie sich an den Heimattagen der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl und zeigte viel Einfühlungsvermögen für ihre Landsleute. Ihre mit großem Applaus bedachte Festrede von 1993 schloss sie mit den Worten: „Jetzt ist Deutschland Ihr neues Vaterland und Siebenbürgen Ihr Mutterland. Wir brauchen Sie alle und Ihre Arbeit und Ihre Ideen für den Fortschritt unseres gemeinsamen Vaterlandes; für den Reichtum der Kultur Deutschlands müssen Ihre Traditionen unseres gemeinsamen Mutterlandes der Siebenbürger Sachsen lebendig erhalten werden, von Ihnen allen und besonders von der Jugend. Und dazu wünschen wir Ihnen viel Erfolg!“

Zu diesem Erfolg kann Renate Schmidt nun wesentlich beitragen. Als Bundesministerin ist sie neben den Bereichen Familie, Senioren und Frauen nämlich auch für die Jugend zuständig. Das könnte ein Glücksfall sein, auch für die siebenbürgische Jugend. Denn in den letzten vier Jahren wurden die Fördermittel für die siebenbürgische Kultur- und Jugendarbeit durch den Bundesbeauftragten für die Angelegenheiten der Kultur und Medien drastisch gekürzt. Das könnte sich insofern ändern, weil die siebenbürgischen Jugendlichen zu dieser Republik gehören und konsequenterweise ebenfalls in den Genuss der Fördermittel für bundesdeutsche Jugendarbeit kommen müssten.

Für Siebenbürgen engagiert

Bemerkenswert aus siebenbürgischer Sicht ist auch die Wahl von Susanne Kastner zur Bundestags-Vizepräsidentin. Die Vorsitzende der deutsch-rumänischen Parlametariergruppe im Deutschen Bundestag und Vorsitzende des Deutsch-Rumänischen Forums e.V. in Berlin setzt sich vielseitig für Siebenbürgen und Rumänien ein. Das Schicksal der Aussiedler ist der 55-Jährigen aus der eigenen Familie vertraut. Die Religionspädagogin aus dem fränkischen Maroldsweisach ist seit 1989 Mitglied des Bundestags. In der letzten Legislaturperiode war sie Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion im Bundestag. Die Süddeutsche Zeitung bezeichnet sie als „natürliche Person, die mit ihrem offenen und ungezwungenen Wesen Sympathie provoziert“. Ob sie ein Vorbild für ihre jetzige Aufgabe habe, wurde Kastner nach ihrer Wahl gefragt. Nein, sagte die Frau aus Bayern, die so gesehen Renate Schmidt auf diesem Stuhl nachfolgt. Sie strebe nicht anderen nach, sondern beziehe ihre Kraft daraus, in sich selbst zu ruhen. Etwaigen Tumulten sieht sie ebenfalls gelassen entgegen: „Mit meinem Wesen sind eventuelle Schwierigkeiten zu beheben“, erklärte sie gegenüber der SZ.

Der 15. Deutsche Bundestag konstituierte sich in gespannter und gereizter Atmosphäre am 17. Oktober in Berlin. Schon die ersten Abstimmungen machten klar, dass das nur knappe Wahlergebnis vom 22. September zugunsten der rot-grünen Koalition sich auf die Arbeitsweise des Parlaments auswirkt. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erhielt einen Denkzettel für seine - in den Augen der Union - parteipolitisch einseitige Amtsführung in der vergangenen Legislaturperiode. Der 58-Jährige erhielt das schlechteste Ergebnis, das je ein deutscher Bundestagspräsident erzielt hat: 357, das sind knapp 60 Prozent der 596 gültigen Stimme. Zu Bundestags-Vizepräsidenten bestimmten die Abgeordneten Susanne Kastner (SPD), Norbert Lammert (CDU), Antje Vollmer (Grüne) und Hermann Otto Solms (FDP).

Der Deutsche Bundestag ist nach der Verringerung der Wahlkreise mit 603 Mitgliedern nicht nur um 66 Sitze kleiner, sondern auch jünger geworden. Eine neue Generation ist angetreten. Noch nie saßen so viele Frauen im Bundestag, ein knappes Drittel der Abgeordneten ist weiblich. Der 70-jährige Alterspräsident des Bundestages, Bundesinnenminister Otto Schily (SPD), warb in seiner Antrittsrede für eine politische Kultur, „die dem Konflikt nicht ausweicht, aber dem Andersdenkenden den Respekt nicht verweigert“. Die Demokratie kenne keine Feinde, sondern nur politische Gegner.

Siegbert Bruss


(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 17 vom 31. Oktober 2002, Leitartikel)

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