12. Januar 2001

Wahrhaftigkeit vor der Geschichte: Chance für die Zukunft

Nur die Einsicht auch in die Tiefpunkte unserer Vergangenheit kann Ansatz sein für Neuanfänge. Zum aktuellen Thema "deutsche Leitkultur" äußert sich Horst Göbbel, stellvertretender Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland und Vorsitzender des Verbandes der Siebenbürgisch-Sächsischen Heimatortsgemeinschaften.
"Die Deutschen haben nichts mehr, was ihnen ‚heilig' ist. Sie sind nicht selbstbewußt. Sie dürfen es nicht sein. Die medialen Schulmeister hämmern es ihnen ein: Deutsche Bestimmung sei es, sich bis ans Ende aller Tage dafür zu schämen, jenem Volk anzugehören, das den schrecklichsten Völkermord der Geschichte auf dem Gewissen hat. Stolz darf ein Deutscher allenfalls darauf sein, daß er sich dieser Verantwortung stets bewusst ist." Diese deutlichen Worte waren kürzlich in einem Leitartikel von Stefan Dietrich in der angesehenen Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen.
Und weiter hieß es dort: "‚Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein.' Wer sich heutzutage öffentlich zu diesem Satz bekennt, schließt sich selbst aus der Gesellschaft der sogenannten ‚Anständigen' aus... Über den Satz: ‚Ich bin stolz, ein Amerikaner zu sein', rümpft in Amerika niemand die Nase. Vielmehr fällt dort jeder auf, der sich nicht zu diesem Stolz bekennt. Dabei ist Amerikaner zu sein sowenig eine Leistung wie das Deutschsein. Stolz sein können Amerikaner darauf, dass sie sich als Nation ein Maß an Selbstachtung bewahrt haben, das sie befähigt, anderen offen und unverkrampft gegenüberzutreten, wie es die Deutschen nicht können."
So weit Stefan Dietrich. Liest man seinen Artikel, kann man ihm zustimmen oder auch nicht. Eines ist jedoch klar: Unser Selbstbewusstsein der Deutschen ist seit den Tagen der NS-Gewaltherrschaft und seit dem Zweiten Weltkrieg stark angeschlagen. Andererseits kann ein Volk nur dann wirklich befreit auftreten, befreit leben, befreit seine Zukunft gestalten, wenn es wahrhaftig mit seiner Geschichte umgeht, wenn es beide Seiten, die hellen und die dunklen Seiten gleichermaßen erkundet, sich zu eigen macht, darüber reflektiert und die nötigen Schlussfolgerungen zieht.
Dies gilt uneingeschränkt auch für uns Siebenbürger Sachsen. Dürfen wir stolz darauf sein, Siebenbüger Sachsen zu sein? Nun, so leicht fällt es uns in dieser Zeit und in dieser Gesellschaft kaum, diese Frage eindeutig mit: "Ja, ich bin stolz, Siebenbüger Sachsen zu sein", zu beantworten. Wenn man schon beim Benützen des Begriffs "deutsche Leitkultur" Gefahr läuft, als ewig Gestriger apostrophiert zu werden, sollte man sich tatsächlich überlegen, ob man derart vollmundig antwortet. Aber eines dürfte dennoch möglich und notwendig sein: sich auch öffentlich als dazugehörig zum siebenbürgischen Sachsentum, zu seiner Geschichte, zum deutschen Volk überhaupt zu bekennen. Der Historiker Michael Kroner weist im eben erschienenen Band 8 der Schriftenreihe "Geschichte der Siebenbüger Sachsen und ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen" nach, dass in der wissenschaftlichen Forschung der Siebenbürger Sachsen die Geschichtswissenschaft den ersten Platz einnimmt. Es gebe kaum ein Volk von bloß solch geringer Größe, schreibt er, das der Erforschung seiner eigenen Vergangenheit so viel Aufmerksamkeit geschenkt habe. Dieses besonders enge Verhältnis zu ihrer Geschichte soll gleichzeitig erzieherisch wirksam werden: jeder Siebenbürger Sachse, der ungeschminkt weiß, woher er kommt, hat bessere Chancen zu erkennen, wohin er geht, wohin er gehen sollte, wie er Zukunft gestalten könnte.
Der Psychotherapeutin Astrid Friesen - sie stammt von Vertriebenen ab - ist aufgefallen "dass bestimmte Massenverbrechen, wenn sie nicht von, sondern an Deutschen begangen wurden, alles in allem mit einem Tabu belegt sind". Von ihnen sei "in der Öffentlichkeit kaum die Rede, erst recht nicht von Schadensersatzforderungen; Filme, Literatur, praktische Politik machen einen Bogen" um derartige Verbrechen. "Darunter fallen etwa die Tieffliegerangriffe, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges am hellichten Tag Jagd auf wehrlose Menschen machten, (...) darunter fallen die Städtebombardements (Dresden macht wegen seiner besonderen Entsetzlichkeit teilweise eine Ausnahme), und darunter fallen vor allem die Massenvertreibungen, die in aller Öffentlichkeit stattfanden und Millionen von Menschenleben forderten. Wenn diese Taten doch einmal thematisiert werden, dann wird sofort dergestalt aufgerechnet, daß ihnen die deutschen Verbrechen entgegengehalten werden." So beginnt Wolfgang Schuller die Rezension eines Buches von Astrid Friesen in der gleichen Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Wie oft geschieht ähnliches nicht auch im privaten Bereich? Entweder wird über einstige Verbrechen geschwiegen, oder man muss damit rechnen, dass jemand entgegnet, etwa den Juden sei millionenfach viel Schlimmeres angetan worden. Astrid Friesen wurde - und das ist ebenfalls bezeichnend - von deutschen Autoren eher skeptisch zur Kenntnis genommen, als sie die seelischen Folgen, die solches Verhalten für die Opfer der Vertreibung mit sich bringt, untersuchte; von israelischen Kollegen hingegen wurde sie darin ermuntert, zu forschen und zu dokumentieren, u.a. weil Offenheit heilend wirken könne.
Nehmen auch wir Siebenbürger Sachsen uns daran ein Beispiel: Sprechen wir offen, sprechen und schreiben wir vorurteilslos auch über die Verbrechen, die an deutschen Flüchtlingen, an deutschen Deportierten in die Sowjetunion am Ende des Zweiten Weltkrieges und während der Jahre danach verübt wurden. Nennen wir die Verbrechen der kommunistischen Diktatur nach 1947 in Rumänien beim Namen. Ebenso aber auch die Leistungen all derjenigen, die dort entscheidend daran mitgewirkt haben, dass wir Siebenbürger Sachsen unserer deutschen Sprache und unserer jahrhundertealten siebenbürgisch-sächsischen Grundwerte - etwa unseres Durchhaltevermögens, unserer Anpassungsfähigkeit, Toleranz, unseres Gemeinsinns - auch unter den widrigsten Bedingungen totalitärer Unterdrückung nicht verlustig gegangen sind. Tabuisierung schadet, Offenheit und Wahrhaftigkeit können uns voranbringen, können uns helfen, selbstbewusster zu leben.
"Ohne Heimat ist der Mensch ein elendes Ding, eigentlich ein Blatt im Wind. Er kann sich nicht wehren. Ihm kann alles passieren. Er ist ein Freiwild. Er kann gar nicht genug Heimat haben. Es gibt immer zu wenig Heimat. Zuviel Heimat gibt es nie. Aber jeder muss wissen, dass nicht nur er Heimat braucht, sondern andere auch. Das schlimmste Verbrechen, vergleichbar dem Mord, ist es, einem anderen die Heimat zu rauben oder ihn aus seiner Heimat zu vertreiben." So 1998 Martin Walser in "Ein springender Brunnen". Er trifft mit diesen Worten den Kern einer Problematik, die der deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts in einem essenziellen Lebensbereich innewohnt. "Das schlimmste Verbrechen, vergleichbar dem Mord, ist es, einem anderen die Heimat zu rauben oder ihn aus seiner Heimat zu vertreiben" - ein Schicksal, sofern es Schicksal überhaupt gibt, das neben zahlreichen Völkern im 20. Jahrhundert, etwa den Armeniern, Türken, Griechen, Polen, Juden oder Kosovo-Albanern, Deutschland wesntlich mitgeprägt, aber Deutsche auch erlitten haben. Ein Schicksal, das noch längst nicht seine Lösung gefunden hat.
Vertreibung oder Deportation von Menschen sind nicht Naturkatastrophen. Vertreibung oder Deportation setzen politischen Willen und entsprechendes Handeln voraus. Wohl in keinem anderem Industriestaat der Welt wurden in diesem Jahrhundert wie in Deutschland Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft durch demographische Verschiebungen größten Ausmaßes geprägt. Millionen Menschen gerieten in Bewegung, verließen ihre angestammte Heimstatt, flohen, wurden vertrieben, siedelten aus. Suchten und fanden größtenteils im zerstörten Nachkriegs- oder im vom Wirtschaftswunder überraschend rasch wiederaufgebauten Deutschland der zweiten Jahrhunderthälfte eine Bleibe, neue Heimat. Jede Entwicklung dieses Ausmaßes hat ihre eigene Vorgeschichte. Eine entscheidende Ursache dafür liegt in der menschenverachtenden, rücksichtslosen Umsiedlungs- bzw. Deportations- und Vernichtungspolitik der Nazis.
In diesen historischen Strudel wurden auch wir Siebenbüger Sachsen mit hineingerissen. Wir gehörten nach 1945 in Siebenbürgen ebenso zu den Verlierern und Verachteten wie unsere Brüder und Schwestern im ursprünglichen Mutterland. Wir haben hier neu begonnen und sind dank günstiger rechtlicher, politischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen jahrzehntelang sehr gut vorwärtsgekommen. Wahrhaftig sein, bedeutet in diesem Fall, nicht nur an die Lasten, an die Tiefpunkte unserer siebenbürgisch-sächsischen Geschichte im 20. Jahrhundert zu erinnern, sondern auch an die kraftvoll wahrgenommene Chance des Neuanfangs in diesem Land, das uns heute Heimat bietet. Getreu dem Motto: "Heimat ist dort, wo wir gemeinsam unterwegs sind", haben wir hier die Chance, aus der Kenntnis unserer Geschichte heraus unsere und die Zukunft unserer Mitmenschen in Deutschland und in Europa mitzugestalten. Nehmen wir diese Chance kraftvoll wahr. Auch und gerade zu Beginn eines neuen Jahres, zugleich neuen Jahrhunderts, ja sogar eines neuen Jahrtausends.

Horst Göbbel

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