12. März 2003

Kleidung in Grenzsituationen

Einen hochkarätigen Vortrag zum Thema "Kleidung der Siebenbürger Sachsen in Grenzsituationen am Beispiel der Russlanddeportation" hielt die bekannte Volkskundlerin Irmgard Sedler am 28. Februar im Rahmen der von Siegfried Habicher betreuten Stuttgarter Vortragsreihe.
Den ursprünglich geplanten Diavortrag über die Urzeln wird die Referentin erst im nächsten Jahr halten. Dankenswerterweise war Irmgard Sedler trotz Krankheit zum „Ersatz“-Vortrag nach Stuttgart ins Haus der Heimat gekommen.

Irmgard Sedler ist wohl die Einzige, die das Kleidungsverhalten der Siebenbürger Sachsen außerhalb ihrer Kirchentracht erforscht hat. In ihrem Vortrag ging sie hauptsächlich auf die Kleidung der Deportierten aus den Landlergemeinden Neppendorf, Großau und Großpold ein. Die deutschen Zwangsarbeiter waren in stacheldrahtumzäunten, militärbewachten Massenquartieren in den ukrainischen Industriestandorten Dnjepropetrowsk und Stalino untergebracht. Herausgerissen aus dem bäuerlich-heimischen Alltag, wurden die Internierten im industriellen Hoch- und Tiefbau, auf den Kolchosen und in den Kohlegruben des Donbas als Arbeitstiere regelrecht verschlissen. Die deportierten Landler und Sachsen erlebten eine Grenzsituation, die von Hunger geprägt war. Ihre traditionelle Kleidung musste den Gegebenheiten angepasst werden. Die meisten Frauen besaßen damals keine richtige Winterkleidung, da man diese als Frau auf dem Dorf gar nicht brauchte. Deshalb hatten sie Männerkleidung in die Deportation mitgenommen, sogar warme Kirchenpelze waren darunter. Später trugen viele Siebenbürgerinnen die dem strengen Winter angepasste Kleidung der Russinnen. Trotz veränderter Kleidungsgewohnheiten blieb unterschwellig die traditionelle landlerische und sächsische Lebensweise wie auch das Selbstbewusstsein erhalten und wurde während der Zwangsarbeit nie grundsätzlich in Frage gestellt. Ein bedeutender Wandel vollzog sich nur im Bereich der Kleidung.

Als sich 1948 die Lage der Deportierten besserte, schlug sich dies gleich auch in der Garderobe nieder. Man ließ sich modische Kleidung, wie die Russinnen sie trugen, schneidern. Es entwickelte sich ein relativ einheitliches Kleidungssystem in den Lagern, das die Frauen nach der Zwangsarbeit mit nach Siebenbürgen brachten. Die vor der Deportation getragenen Alltagskleider wurden, bedingt durch die Arbeit in den Städten, nicht mehr angezogen, die städtische Mode setzte sich auch in den Dörfern durch. Lediglich das „Kirchengewand“ blieb bei der jüngeren Generation erhalten, das aber in den 1950er und 1960er Jahren seine Bezeichnung in den bis dahin eher ungewohnten Ausdruck „Tracht“ änderte.

Der Abend klang bei anregenden Gesprächen und dem von Familie Habicher vorbereiteten Imbiss gemütlich aus.

Rainer Lehni

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