11. Mai 2003

Die siebenbürgische Tradition des Muttertags

Bräuche haben ihre Geschichte. Neben uraltem Brauchtum, das sich bis in die vorchristliche Zeit zurückverfolgen lässt und sich bis in die Gegenwart erhalten hat, gibt es neuzeitliche Bräuche, deren Entstehung und Etablierung sich sozusagen unter unseren Augen vollzieht. Ein solcher "moderner" Brauch ist die Feier des Muttertags am zweiten Sonntag im Mai.
Dieses Fest ist verhältnismäßig jung, d.h. es wurde vor weniger als 100 Jahren in den Vereinigten Staaten begründet. 1907 „erfand“ eine Miss Anna Jarvis den Muttertag, der dann ein Jahr später in ihrer Heimatstadt Philadelphia erstmalig gefeiert wurde. Die Idee hatte Erfolg, und am 9. Mai 1914 verkündete Präsident Wilson den Kongressbeschluss, den zweiten Sonntag im Mai „als öffentlichen Ausdruck für die Liebe und die Dankbarkeit zu feiern, die wir den Müttern unseres Landes entgegenbringen.“

Von Amerika kam der Brauch bald auch nach Europa, nach Deutschland und von dort nach Siebenbürgen. Die Nelke ist in Deutschland das Symbol dieses Tages. Der Brauch wurde vor allem von der Kirche vereinnahmt. Der Gottesdienst am zweiten Mai-Sonntag steht immer im Zeichen des Muttertags. Vorerst war der Muttertag ein Fest der Kinder. Es ist üblich, der Mutter an diesem Tag alle Wünsche zu erfüllen, den Frühstückstisch zu decken, einen Blumenstrauß zu überreichen und ein eigens dafür gelerntes Gedicht aufzusagen ("Zum Muttertag, lieb Mütterlein, wünsch ich dir viele Freud! / Der liebe Gott bewahre dich vor Krankheit und vor Leid! / Ihn lieb ich, weil er dich mir gab und weil er mir erhält / das allerliebste Mütterlein auf weiter, weiter Welt.").

Doch ist der Feiertag auch für die erwachsenen Kinder ein Tag, an dem sie der Mutter ihre Dankbarkeit erweisen. In Siebenbürgen war auch der schöne Brauch bekannt, dass die Geburtstage der Kinder zu Mutterfeiern wurden, an denen das Geburtstagskind seine Dankbarkeit der Mutter zum Ausdruck brachte. Die Nationalsozialisten waren bemüht, aus dem Muttertag einen Tag der "deutschen Mutter" zu machen. Gleichzeitig sollte die katholische Marienverehrung durch eine Mutterverehrung verdrängt werden. Bei Hans Baumann heißt es in einem Gedicht, das allerdings nicht dem Muttertag gewidmet war: "Mütter, euch sind alle Feuer, alle Sterne aufgestellt. / Mütter, tief in euren Herzen schlägt das Herz der weiten Welt."

Als Gegenstück zum Muttertag wurde ebenfalls in den USA 1909 von Mrs. Sonora Dodd in Spokane, Washington, ein Vatertag vorgeschlagen (am dritten Sonntag im Juni; in Deutschland zu Christi Himmelfahrt). Mrs. Dodd war ihrem Vater dankbar, der nach dem frühen Tod der Mutter allein die kinderreiche Familie versorgt hatte. Der Vatertag mit seinem Symbol der Rose hat sich nicht so wie der Muttertag durchsetzen können. In Siebenbürgen war er weitgehend unbekannt. Der Muttertag aber hat sich in den knapp 100 Jahren seines Bestehens auch im Brauchtum Siebenbürgens einen festen Platz erobert.

W. R.


(gedruckte Ausgabe. Siebenbürgische Zeitung, Folge 8 vom 15. Mai 2003, Seite 5)

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