18. Mai 2003

"Der Unfall" - ein Roman des rumänischen Autors Mihail Sebastian

Mihail Sebastian (1907-1945) war eine der hervorragendsten und geachtetsten Persönlichkeiten der publizistischen und literarischen Welt im Rumänien der Zwischenkriegszeit. Er hatte mit zahlreichen Größen des Geisteslebens jener Zeit, beispielsweise mit Marcel Proust, Mircea Eliade und Emil Cioran vielfältige Beziehungen. Freunden der rumänischen Theaterszene wird Sebastian durch seine in den 60er und 70er Jahren auf zahlreichen Bühnen gespielten Stücke „Steaua fara nume" („Der namenlose Stern") und „Ultima ora" („Die letzte Stunde") in reger Erinnerung sein.
Sebastian, Sohn jüdischer Eltern aus Brăila, geriet Mitte der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts ins Räderwerk des aufkommenden aggressiven Bukarester Antisemitismus: Er verlor seine Redakteursstelle bei einer angesehenen Zeitung und durfte letztendlich nicht mehr unter seinem Namen publizieren. Ihm war die faschistische Diktatur rumänischer Prägung genau so verhasst wie die 1944 beginnende kommunistische. Sein Tod im Jahre 1945 hat Symbolwert: Er starb bei einem von sowjetischen Militärfahrzeugen verursachten Unfall.

Der Roman „Der Unfall" erschien erstmals 1939 in rumänischer Sprache. Vor zwei Jahren kam er erfolgreich in französischer und im Februar 2003 in deutscher Sprache in die Buchhandlungen. Die überaus gelungene Übersetzung ins Deutsche stammt vom bekannten Publizisten und Literaturkritiker Georg Aescht. Auf der Leipziger Buchmesse 2003 stand Sebastians Roman an der Spitze, zusammen mit Werken der Ungarn Sandor Marai und György Konrad.

Sebastians Roman ist eine wunderschöne, zarte und mit wenig großen Worten erzählte Liebesgeschichte eines Bukarester Rechtsanwalts namens Paul mit Nora, einer Lehrerin, die er bei einem harmlosen Straßenbahnunfall kennen gelernt hatte. In kleinen Gesten und mit viel Gefühl, mit ruhigen und zugleich bewegenden Worten wird das langsame Wachsen der Liebesbeziehung zwischen Nora und Paul erzählt. Nora gelingt es, Pauls Welt der Gleichgültigkeit, der Einsamkeit und des Verzagens, verursacht durch ein früheres unglückliches Verhältnis mit einer Künstlerin, in die richtigen Bahnen zu weisen.

Der Roman spielt im mondänen Bukarest der 30er Jahre, dem damaligen „Paris des Ostens", in Snagov und in Balcic am Schwarzen Meer. Im größten Teil des Buches ist allerdings Kronstadt und sein Umland Szenenhintergrund, und besonders der winterliche Schuler, einer der Hausberge Kronstadts, den Nora und Paul bei einem Weihnachtsurlaub erleben. Zumindest jetzt sollte auch der literarisch weniger Interessierte aufhorchen, wenn neben der Beschreibung einer Schmalspurbahnfahrt mit der Tram in den gelb angestrichenen, kleinen Waggons vom Bahnhof bei der Kronstädter Schielfabrik über die Noua und Dâste bis hin nach Hoszufálu, dem heutigen Săcele, das verschneite Kronstadt, die Schwarze Kirche mit einer Aufführung des Bachschen Weihnachtsoratoriums und nicht zuletzt ein Skiaufenthalt am Schuler Handlungshintergrund sind. Dass dabei das Erlebnis des Skiurlaubs der beiden Haupthelden sich zwischen der damaligen SKV- (der „unteren") und der „oberen" Schutzhütte des Touringclubs (TCR), beide am Schuler gelegen, abspielt, hat nicht nur lokalgeographischen Wert. Die Skiübungsversuche des anfangs fahrunkundigen Paul, die Abfahrten durch den tiefen Schnee über Ruia- und Drei-Mädel-Wiese oder auf der „Familienabfahrt", mit Ausblicken auf den Crucur, die Wolfsschlucht oder Rosenau - alle den Kronstädtern wohlbekannte touristische Toponyme - und sogar Slalomwettkämpfe auf der Kanzel - das sind wunderschöne Bilder, vor denen die manchmal fast ekstatische Liebe der beiden sich entfaltet. Eine sich anbahnende Hüttenfreundschaft mit jungen Siebenbürger Sachsen - bezeichnenderweise, allerdings ohne die geringsten kritischen Hintergründe heißen diese Gunther und Hagen - und deren kompliziertes soziales Netzwerk innerhalb einer Kronstädter Fabrikantenfamilie mit dem Namen Grodeck sollten der Vollständigkeit halber Erwähnung finden.

„Der Unfall", ein Roman, der die unendliche Komplexität einer schönen Liebesbeziehung beschreibt, ist ein Buch, das nur empfohlen werden kann. Zu hoffen ist, dass auch Sebastians „Jurnal" (seine Lebenserinnerungen 1935-1944, sie sind erstmals 1996 im Bukarester „Humanitas''-Verlag in rumänischer Sprache erschienen) bald und wie angekündigt bei Claassen in deutscher Übersetzung vorliegen werden.

Hansgeorg v. Killyen



Mihail Sebastian, „Der Unfall". Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Claassen-Verlag, München, 2003, 301 Seiten. 19,90 Euro. ISBN: 3-546-00326-8
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