25. Mai 2003

Kunstsymposium in Nürnberg bricht mit einem Tabu

"Sehen, hören, schmecken, reden und genießen Sie. Dazu laden wir vom Haus der Heimat, dazu laden uns die Künstler der Gruppe 'd. fleiss & east-west artists' herzlich ein." Mit diesen Worten eröffnete Horst Göbbel, Vorsitzender des Vereins Haus der Heimat, am 29. April in der Ehrenhalle des Nürnberger Rathauses den Höhepunkt einer künstlerisch und menschlich höchst ereignisreichen Woche.
Es war die Woche eines Wagnisses, 14 Künstler aus Ungarn, Frankreich, China, Rumänien, Österreich, Deutschland, thematisch begleitet von Kolleginnen und Kollegen aus den USA und Italien - verbunden durch die Künstlerinitiative der in Stuttgart lebenden Sathmarer Schwäbin Dorothea Fleiss „d. fleiss & east-west artists“ - zehn Tage im Nürnberger Haus der Heimat mit dem komplexen Thema „Flucht und Vertreibung“ künstlerisch zu konfrontieren. Ein Thema, von dem Prof. Dr. Julia Lehner, Kulturreferentin der Stadt Nürnberg, in ihrer Ansprache sagte, es sei ein „ewig altes und zugleich leider immer wieder junges Thema, ein internationales und zugleich nationales, ein hochaktuelles und oftmals vergessenes Thema, vor allem aber ein immer wieder erschütterndes Thema: die Tragödie menschlichen Gegeneinanders.“ Weiter betonte sie: „Wir, die Nachgeborenen und weniger noch die darauf folgende Generation können, trotz medialer Informationen zu allen Schrecknissen der Welt, wir können keine Vorstellung davon gewinnen, was es heißt, gewaltsam aus allen Lebensbereichen gerissen zu werden, aller sozialen Geflechte beraubt zu werden, Liebgewonnenes in ideeller wie materieller Hinsicht zu verlieren, entwurzelt und heimatlos zu sein, als Anwesende gehasst und als Ankommende nicht gelitten zu werden.“
Eröffnung der Künstlerausstellung in der Ehrenhalle des Rathauses Nürnberg.
Eröffnung der Künstlerausstellung in der Ehrenhalle des Rathauses Nürnberg.

Der „Spiegel“ (Nr. 13-16/2002) veröffentlichte im vergangenen Jahr unter dem Titel „Flucht“ eine wahrhaft monumentale Serie über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Damit und mit ansehnlichen Fernsehserien sowie weiteren umfassenden Publikationen seriöser Medien wird in Deutschland ein Tabu gebrochen: Das Tabu, die Verbrechen an Deutschen im Gefolge des Zweiten Weltkrieges beim Namen zu nennen.

Das Haus der Heimat in Nürnberg begrüßt diese Entwicklung und beschreitet mit diesem Symposium neue Wege. Künstler, die von Flucht und Vertreibung nicht betroffen sind, tasteten sich, zum Teil anfangs widerwillig, an das Thema heran. Nach gründlicher Vorbereitung durch Konsultation entsprechender Literatur, durch Vorträge, Begegnungen, Besichtigungen und produktives Schaffen unter einem gemeinsamen Dach ist ihnen Erstaunliches gelungen. Mit ihren Gemälden, Skulpturen, Installationen und Fotografien haben sie nicht nur Ost und West auf künstlerischem Weg näher gebracht, sie haben im wahrsten Sinne des Wortes „Flucht und Vertreibung“ im künstlerischen Schaffensprozess auch in der heutigen modernen Kunstszene „salonfähig“ gemacht.

Dr. Claus Pese vom Germanischen Nationalmuseum schreibt zu einigen Exponaten: „Csaba Lazin aus Rumänien hat einen Einäugigen gemalt, der aus sich heraus und in sich selbst hinein sieht. Vergitterungen und Stacheldraht trennen uns von ihm. Gemalte Chiffren erinnern an Briefe. Der blaue Fries, der über das Gesicht läuft, spiegelt als Hieroglyphen die Schrift wider, die individuell ist wie das Schicksal der Betroffenen. Chunhai Li aus China schafft Arbeiten auf Reispapier mit Tusche aus chinesischer Mineralfarbe. Er malt Symbole des Friedens, in denen Menschen und Tauben vereint sind. Diese ausgesprochen figürlichen Arbeiten verweisen auf fernöstliche Religionslehren und –praktiken. Serban Rosca aus Rumänien hat sich „verstreuten Seelen“ zugewandt: dem Schicksal, das man erdulden muss, und der Hoffnung, die man hat. In der Mittelachse seines Gemäldes fahren die Züge zwischen Vergangenheit und Zukunft. Christine Delbecq aus Frankreich wählt als Motiv Steine und Füße, die für sie Ausdruck des Gleichgewichts im Stehen sind. Vorgeblendete Transparentpapiere schaffen zeitliche Distanz. ‚So weit die Füße tragen‘ ist im Deutschen geradezu sprichwörtlich geworden. Ilona Kiss aus Ungarn hat sich auf die Buchkunst spezialisiert. Die tragische Geschichte ihrer Familie fasst sie in Objekte und nennt sie ‚blauer Engel‘. Das sind sehr persönliche Artefakte. Ion Salisteanu aus Rumänien hat sich dem Thema direkt zugewandt und verweist auf die Folgen von Flucht und Vertreibung.
 Ion Salisteanu, Bukarest: Der lange Weg des Leidens. Nürnberg 2003. Mischtechnik auf Leinwand.
Der lange Weg des Leidens". Nürnberg 2003. Mischtechnik auf Leinwand. 160x100 cm (2 Leinwände je 80x100 cm). Abdruck in Ausstellungskatalog, S. 133.

Das Positive lebt in der Erinnerung fort, wie auch Ordnung und Natur zu einem Ausgleich kommen. Was können Worte ausdrücken, wenn Künstler schaffen? Sie sind zusammengekommen, um sich einem Thema zu widmen. Ihr Wunsch nach Frieden und Heimat ist ebenso allgemein wie international. Kunst kann Brücken schlagen und hat das in diesem Symposium auch getan.“

In seinem Grußwort hielt der Nürnberger Oberbürgermeister Dr. Ulrich Maly, auch gewichtiger persönlicher Förderer des Projekts, fest: „Die Werke der verschiedenen Künstler des Internationalen Kunstsymposiums ‚flucht und vertreibung‘ vermitteln Flucht und Vertreibung aus den unterschiedlichsten Sichtweisen heraus. Die Arbeiten machen deutlich, wie tiefgehend sich die Künstler kreativ mit dem Thema auseinandersetzen. Dadurch schaffen sie einen übergreifenden Bogen der Verständigung und des Verständnisses für das Schicksal der von Flucht und Vertreibung betroffenen Menschen.“

Heute können wir es erst ermessen: Eine sinnvolle, unverkrampfte Beschäftigung mit dem schwierigen Thema „Flucht und Vertreibung“ ist nach wie vor ein Gebot der Stunde. Die Art und Weise, wie die Künstler sich des Themas angenommen haben, sind ein Beweis für die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. Dabei hat nicht nur das Haus der Heimat einen großen Nutzen davongetragen, die Stadt Nürnberg, zu der wir gehören, ist ebenso Gewinner wie die Gruppe „d. fleiss & east-west artists“ und der gesamte Bereich Vertriebene/Aussiedler.
Angelica Zingerle und Ingrid Hutter gestalteten die Eröffnungsfeier musikalisch mit.
Angelica Zingerle und Ingrid Hutter gestalteten die Eröffnungsfeier musikalisch mit.

Der Mensch benötigt Heimat. Aber gerade in Deutschland löst dieser Ausdruck auch nach Ansicht des Philosophen Rüdiger Safranski Alarmsirenen aus. Er meint, man vermute darin Rückständigkeit, Ewiggestriges, ja sogar Revanchismus. Dies sei nach den Verbrechen der Nazis nicht verwunderlich. Sie haben in großem Stil anderen Völkern die Heimat zerstört oder sie daraus vertrieben. Dann haben die Deutschen selbst Vertreibung und Zerstörung erleiden müssen. So habe in diesem Volk das Reden über „Heimat“ seine Unschuld für eine gewisse Zeit verloren. „Aber hoffentlich nur für eine gewisse Zeit, denn inzwischen brauchen wir wieder eine Positivbewertung von Heimat. Für uns gilt der Grundsatz: Je mehr emotional gesättigte Ortsbindung, desto größer die Fähigkeit und Bereitschaft zur Weltoffenheit.“

Wir im Haus der Heimat pflegen beides: Heimatgefühl und Weltoffenheit. Diesmal zehn Tage lang mit Künstlern aus vielen Ländern, die sich auf das Thema „Flucht und Vertreibung“ erfolgreich eingelassen haben. Wesentliche Ergebnisse können im Katalog der Ausstellung – von unserem Landsmann Gerhard Adam qualitativ hochwertig und in Rekordzeit angefertigt – bestaunt werden (zu beziehen für 6,50 Euro im Haus der Heimat, Imbuschstraße 1, 90473 Nürnberg, E-Mail: hausderheimat-nbg@t-online.de). Ebenso in der Ausstellung im Haus der Heimat sowie unter www.hausderheimat-nuernberg.de.

Horst Göbbel


(gedruckte Ausgabe. Siebenbürgische Zeitung, Folge 9 vom 31. Mai 2003, Seite 10)

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