16. Juni 2003

Über Brücken ins Morgen schreiten

Bei der Gedenkveranstaltung des diesjährigen Heimattages, die am Mahnmal der Siebenbürger Sachsen im "Lindendom" der Alten Promenade von Dinkelsbühl stattfand, hielt Gudrun Wagner die feierliche Ansprache. Die Vertreterin der HOG Agnetheln wies auf die identitätsstiftende Funktion des Dialogs zwischen den Generationen hin und ermunterte die Jugendlichen ihre Eltern und Großeltern über das Gestern zu befragen. Das Erzählen sei einer der wichtigsten Brückensteine. Vor dem Hintergrund jüngerer Zeitgeschichte mit Flucht und Vertreibung sollten "wir Siebenbürger als 'Brückenbauer' zwischen Nationen und Kulturkreisen" vermittelnd wirken. Wagners Rede wird im Folgenden leicht gekürzt wiedergegeben.
Wir bleiben stehen im flüchtigen Heute, dem schmalen Steg zwischen dem weit zurückliegenden Gestern und dem unermesslichen Morgen. Wo wäre eine geeignetere Stelle zum Stehenbleiben, zum Verweilen, als hier, an dem Platz, dessen Steine stumm in die Vergangenheit weisen und doch so viel - auch für das Heute und für das Morgen - zu sagen haben. Sie haben viel mehr zu sagen als die paar Worte, die auf ihnen eingemeißelt sind: „Gedenke der deutschen Söhne und Töchter Siebenbürgens, die in zwei Weltkriegen und schweren Nachkriegsjahren ihr Leben ließen - im Osten, Westen, Süden und Norden, auf der Flucht, hinter Stacheldraht, in der Heimat.“ Was die Steine erzählen, sind konkrete Lebensgeschichten für die, die hier an Familienangehörige denken, deren Grab sie nirgends orten können. Es sind für andere Erlebnisse aus bitteren Zeiten, in denen das eigene Leben in Gefahr war, es ist ein Vergegenwärtigen von Erfahrungen des Verlustes, des Verlorenseins, das manche von denen, die hier stehen, immer noch schmerzhaft in sich tragen.

„Wir gedenken“ - das ist die stumme Botschaft der vielen Kränze, die heute hier niedergelegt wurden. Der Toten gedenken, heißt das Gestern ins Heute holen. Meine Generation, die die Stationen des Gestern, an das diese Stätte erinnert, nur in manchen Punkten aus eigenem Erleben kennt, sollte sich bewusst machen, dass das Gedenken auch etwas mit uns zu tun hat. Auch das, was vor unserer Zeit geschah, ist - nach meinem Verständnis - Teil unserer Geschichte. Es ist Geschichte, die ich aus Büchern und vom mündlichen Erzählen kenne. Es ist Geschichte, die etwas mit Menschen zu tun hat, die mir nahe sind, denen ich mich verbunden fühle. Mit ihnen und mit ihrer Geschichte muss ich mich aussöhnen, um sie annehmen und sagen zu können: „Das betrifft auch mich.“

Oftmals werden wir Siebenbürger als „Brückenbauer“ zwischen Nationen und Kulturkreisen angesehen. Lassen Sie uns gemeinsam dem nachgehen, was Bausteine unserer Brücken sein könnten.

Brücke aus dem Heute ins Gestern

Erinnerung und Versöhnung können dicht beieinander liegen. Wenn Versöhnung geschehen soll, müssen wir mit den Augen des Herzens sehen lernen, müssen im Gegenüber unseren Bruder oder unsere Schwester erkennen. Dann geschieht Versöhnung an Gräbern, an Stätten der Gewalt, des Unrechts, des Leides und Menschen, die Vorurteile und Hass trennte, spüren Ruhe und Herzensfrieden.

Der Weg dahin führt über Brücken, die wir täglich neu bauen müssen. Die Steine, aus denen diese Brücken gebaut werden, sind unterschiedlichster Art und Beschaffenheit. Für einen der wichtigsten Brückensteine halte ich das Erzählen. Fragen und Erzählen kann Menschen verbinden, kann Junge und Alte zusammenführen. Ich möchte uns allen, den Jugendlichen Mut machen, Fragen zu stellen, sich zu trauen, Eltern und Großeltern zu befragen und auch manche Haltung zu hinterfragen, von der sie meinen, sie sei nicht vertretbar, nicht zu verstehen. Wir alle können lernen, Zeichen der Zeit, deren Kinder wir sind - oder waren - zu erkennen, um Verhaltensweisen deuten zu können, ohne voreilig zu urteilen oder gar zu verurteilen.

Ich bin dankbar, dass im letzten Jahrzehnt so viel von Siebenbürgen, über Siebenbürger erzählt wird, überwiegend auch schriftlich, in Literatur, im Aufschreiben von Lebenswegen, in Zeitzeugen-Interviews, in Heimatbüchern der einzelnen siebenbürgischen Ortschaften, in Bild und Filmaufnahmen. So bleibt manches der Nachwelt erhalten. Vieles, wofür es jahrzehntelang keine Worte gab, kommt nun zur Sprache, verbindet, klärt auf. Doch leider erleben wir auch, dass es trennt, zerreißt, zerstört. Da sind wir alle gefragt, im Gespräch zu bleiben, um Verständnis und Verständigung zu ringen, miteinander und füreinander Brücken zu bauen.

Zum Fragen und Erzählen als ein wesentlicher Brückenstein kommt für mich das Betrachten, das Anschauen hinzu. Gegenständliche Spuren der Vergangenheit, gesammelt und präsentiert in Museen, erschließen uns den Blick, sind eine Türe, die geöffnet werden will, um Räume zu erkunden, die es im Alltag nicht mehr gibt. So kann ich - gleich anderen Stimmen - in der ganzen Diskussion um den Erhalt des Siebenbürgischen Museums in Gundelsheim dem Begriff "Museales Schaufenster" nicht viel abgewinnen. "Schaufenster" werden von außen betrachtet, sind nicht zugänglich, schließen aus. Wir brauchen Räume, die uns aufnehmen, in denen wir uns als ein Teil dieses Raumes begreifen, uns mit dem, was wir uns darin erschließen, identifizieren. Das ist in der Einheit, die die unterschiedlichsten siebenbürgischen Institutionen in Gundelsheim bilden, gewährleistet. Es liegt auch am Einsatz und Interesse jedes und jeder einzelnen von uns, dass das weiterhin so bleibt.

Erzählen und Fragen, Zuhören und Anschauen können zum Verstehen führen, Verstehen kann zum Versöhnen, und so ergeben sich tragende Brückensteine, die das Vergangene lebendig machen, die Möglichkeit bieten, seine Spuren zu bedenken, manches von gestern im Heute und Morgen zu verwerten. Erzählen, Zuhören, Anschauen führt zu den Wurzeln, die uns halten und tragen. Die Wurzeln zu spüren, sie sich bewusst zu machen, erleichtert das Brückenbauen.

Wir sind in den unterschiedlichsten Funktionen täglich gefordert, Brücken zu bauen. In Belangen unseres kleinen siebenbürgischen Kreises, in der Vernetzung miteinander, im Einsatz für gemeinsame Ziele. Doch auch über den siebenbürgischen Tellerrand hinaus - unermüdlich auf dem Weg dessen, was Integration umfasst, was Aufeinanderzugehen heißt. Die Steine dieser Brücken heißen: Begegnung, Offenheit, Toleranz. Sie mindern Fremdsein. (...) So kann aus einem eingangs fremden Ort durch Gemeinschaft ein Stück Heimat geschaffen werden.

Die Brücken, an denen wir bauen, sollten bis dorthin reichen, von wo wir herkommen - bis hin in den geographischen Landstrich Siebenbürgen, hin zu den Menschen, die dort leben. Der liegt für viele von uns im Gestern, doch gibt es dort auch ein Heute und ich glaube daran, dass es auch ein Morgen gibt. (...) Die Brückensteine, die wir hierfür brauchen, heißen Nachsicht, Geduld, Hoffnung, Respekt, Mutmachen, Augen- und Zungenmaß im Besserwissen aus der Ferne.

Gedanken und Worte erfahren Erdung im Tun. So sind wir aufgerufen, Brücken zu bauen, deren tragende Pfeiler und feste Steine im Heute immer wieder lebendig werden, Brücken, die Begegnung, Händereichen ermöglichen, die uns mit dem Gestern verbinden und vertrauensvoll ins Morgen schreiten lassen."

Gudrun Wagner


Fotos von dem Fackelumzug und Feierstunde an der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen

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