10. August 2003

Oskar Pastior - gesammelt!

Nun ist es also so weit! Unerwartet erwartungsgemäß beginnt der Hanser Verlag in seiner Edition Akzente mit der Werkausgabe von Oskas Pastior, und zwar - einem des Autors würdigen "Rösselsprung" gemäß - mit Band 2: "Jetzt kann man schreiben was man will".
Als Herausgeber betreut Ernest Wichner die Werkausgabe von Oskar Pastior, die im vorliegenden Band die "Gedichtgedichte" und „Höricht. Sechzig Übertragungen aus einem Frequenzbereich“ von 1973 sowie „Fleischeslust“ und „An die neue Aubergine. Zeichen und Plunder“ von 1976 nebst in den Gedichtbänden nicht enthaltene Texte der Jahre 1973 bis 1975 vereint – allesamt längst vergriffen, weshalb Pastior in seiner „Nachbemerkung des Autors“ zu diesem „seltsamen Geschehen“ quasi „bei lebendigem Leibe“ festhält: „Ich wandle zur Zeit sehr defizitär durch sehr sporadische Lektüreerwartungen sehr etwaiger künftiger Leser – dem also abzuhelfen soll ich nun sukzessive wieder mit den insgesamten Gliedmaßen versehen werden. Darauf, solange ich dabei bin, freue ich mich.“

Und auch die Leser – beileibe nicht nur künftige und beileibe nicht nur eingeschworene Pastior-Fans – dürfen sich darauf freuen, die hier versammelten Publikationen wieder oder anders oder neu zu entdecken. Denn die Lektüre ist nach wie vor ein Abenteuer im Dschungel des eigenen Kopfes, weil die Texte den Leser genauso unvermittelt und ungebärdig anspringen wie vor drei Jahrzehnten, schaffen sie es doch spielend, neben hergebrachten auch jüngere oder jüngst erworbene Gewissheiten bzw. Gewohnheiten über den Haufen zu werfen und zu einem (Sprach)Nach-Denken anzustiften, dessen aktuelle Relevanz frappierend – und gleichermaßen fordernd ist.

Da sind zunächst die „Gedichtgedichte“, die im Wesentlichen um die Manipulierbarkeit des Textes, also auch des Autors bzw. des Lesers – von wem auch immer und wozu auch immer – kreisen, indem sie sich ihr widersetzen: Statt Texten reihen sich die Beschreibungen von denkbaren Texten, die ihrerseits ad absurdum geführt werden. So etwa im „Lochgedicht“: „aber ach wo beginnt das lochgedicht es beginnt nicht aber ach woraus besteht es es besteht nicht ach aber wie ist es beschaffen das lochgedicht ist sehr einfach beschaffen und womit wird es bedient nun im erweiterten sinne mit poesie“. Wobei Pastior nicht „Pastior“ (seine „Privatsprache“) spräche/schriebe, wenn er die Bedingungen und Bedingtheiten solcher Beschreibungen außer Acht ließe. Das „dreidimensionale Gedicht“ schließt nicht zufällig mit der „anmerkung“: „diese beschreibung erfolgte zwar in einer wenn auch imaginären zirbelföhre aber abends um halb neun auch die übrigen konditionen wurden nur andeutungsweise eingehalten so daß sich auch spätaufsteher außerstande sehen den genauen abweichungsgrad dieser beschreibung zu ermitteln“.

Pastiors vielfältige „Versuchsanordnungen“, wie er seine Texte nennt, suchen den Leser hellhörig zu machen für Differenzierungsmöglichkeiten – auch mit dem „Höricht“, das er gleich dem „Gedichtgedicht“ als neue Gattung entwickelt hat: „Ich höre den Irrtum den du nicht hörst, du hörst den Irrtum den ich nicht hör, wir hören beide den Irrtum den wir beide nicht hören.“ Denn es gilt auf der Hut zu sein vor all den alten wie den neuen Hüten, so genannten Botschaften, die Ideologien, Medien usw. usf. auf Schritt und Tritt zu Markte tragen. Vor allem weil auch die Sprache selbst – allen Versuchen, ihr auf die Schliche zu kommen, zum Trotz – „unentwegt, petersilienähnlich, Idealismus generiert“, wie Pastior in „Fleischeslust“ festhält: „Solche Sanatorienhöfe sind dann die Brutstätten jeglicher Erlaubnis. Man darf sogar vom Tod reden, als seien Grünzeughändler Engel, es ist wie ein See mit ziemlich viel Mitte.“ Ein Grund also, auch die Literatur als „Lebens-Mittel“ wörtlich zu nehmen und deren „Einverleibung“ – etwa in dem Text „Es ist ja nun hinlänglich bewiesen“ – vom Schluss der Beschwörungsformel des zweiten Merseburger Zauberspruchs, sôse gelîmida sîn, bis zu Heinrich Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ als vegetativen Prozess zu hinterfragen – gerade weil, so Pastiors bitter-ironischer Ausgangspunkt, dafür „gesorgt“ wurde, dass „die feinen Unterschiede nicht in den Himmel wachsen“: „Im Metabolismus, der, Leib und Seele also zusammenhaltend, die Trennung von Außen und Innen nicht nur besiegelt sondern auch krönt, redet der Mensch zum Menschen; soße/ gelimitad/ knorz; und Stoffwechsel betreibend verfügen wir über ein universelles Verständigungsmittel, dem zu entsprechen wir aufgerufen sind. [...] Auch Wortsurrogate erhalten das Wissen, ein langwieriges Wintermärchen ... (Unverträglich hingegen sind Medien im Speck. Gesunder Stoffwechsel übt Introspektion. Schon die Idee einer Idee generiert Ideen.)“

Vollends ad absurdum führt „An die neue Aubergine. Zeichen und Plunder“ jeden Versuch einer Interpretation, die ja – bewusst oder unbewusst – immer auch Manipulation bedeutet. Auf jeder Doppelseite stehen links zwei mit gegenläufigen Pfeilen versehene Texte und rechts eine Zeichnung, die wie ein jeweils anderes Labyrinth des Kopfes anmutet, das – um verlegenheitshalber Heinrich von Kleist zu bemühen – die „allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ festzuhalten scheint. Doch das „triadische Modell“, das Pastior vor allem im Hinblick auf spätere „Versuchsanordnungen“ hervorhebt, ist offen für die vielfältigsten „Rösselsprünge“: Die altertümelnd einsetzenden Texte – der erste jeweils mit „derentwegen“ (Folge), der zweite jeweils mit „auf daß“ (Zweck, Absicht) – lassen sich sowohl in ihrer Abfolge vom Anfang zum Ende lesen wie auch vom Ende zum Anfang; liest man nur die ersten Texte, ergibt sich – je nachdem, ob man von vorne oder von hinten beginnt – eine jeweils anders verlaufende, jedoch sich selbst verhaftete, weil in sich selbst kreisende vergangenheitsbezogene Suche nach der verlorenen Ursache (Ur-Sache?); liest man nur die zweiten Texte – von vorne oder von hinten –, gerät man in einen jeweils anders gearteten Strudel von vielfältigsten zukunftsbezogenen Absichten, die sprachlich zerbröseln, sich verkrümeln ... vielleicht ins Labyrinth der Zeichnungen, auf die sie verweisen, vielleicht aber auch ins Dunkel ihrer selbst. Doch man kann beim Lesen auch ganz nach Zufall oder Gusto hin und her springen – die gleich dem menschlichen Hirn selbstreferenziell funktionierende „Kunstmaschine“ arbeitet perfekt und liefert ein jeweils neues, anderes Kunstprodukt. Ein faszinierendes Spiel, bei dem man allerdings eher sich selbst als Pastior auf die Schliche kommt!

Edith Konradt


Oskar Pastior: Jetzt kann man schreiben was man will, Band 2 der Werkausgabe, herausgegeben von Ernest Wichner, Edition Akzente, München: Carl Hanser Verlag, 2003, 344 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 3-446-20277-3.

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 12 vom 31. Juli 2003, Seite 7)
"Jetzt kann man schreiben was
Oskar Pastior
"Jetzt kann man schreiben was man will": Werkausgabe Band 2

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