2. November 2003

Neues Buch von Joachim Wittstock: filigran und skeptisch

Wenn man Joachim Wittstocks Erzählweise in seinem jüngsten Buch „Scherenschnitt“ mit einem Eigenschaftswort bezeichnen müsste, so würde „filigran“ am besten dazu passen.
Wie ein Geflecht feiner Edelmetalldrähte, wie ein Netz aus Goldfäden und Perlchen, in diesem Falle, wie eine Textur aus sorgfältig ausgewählten Bildern in erlesenen und manchmal etwas altertümlich wirkenden Worten - umtrieben von der Sorge um höchste Präzision. Ähnlich wie Nathalie Sarraute verfolgt Wittstock lupenhaft die leisesten Veränderungen, um daraus entlarvende Schlussfolgerungen zu ziehen.

Ein zweites Wort passt zwingend zu Wittstocks Erzählweise, und zwar „skeptisch“. In der ersten Geschichte, „Scherenschnitt“, erklärt eine Kustodin, die durch die Räume des Weimarer Belvedere führt, den Unterschied zwischen der Malerei vor und nach der französischen Revolution. Vor der Revolution seien vorwiegend Portraits entstanden, aus denen die Personen mit vollem Blick herausschauten, danach hätten Künstler in höherem Maße Profile und Scherenschnitte geschaffen.

Erstaunliches offenbart sich dem Erzähler, einem Alter Ego des Autors, und seiner Frau: Die Kustodin, die während ihrer Erklärung im Profil zu sehen ist, nimmt selber fast unmerklich die Gestalt eines Scherenschnitts an: „Ihr Kopf samt den nicht unschön geschwungenen Haarwellen schien flacher zu werden und plattete zu einer schmalen Scheibe ab. Diese Wandlung war allerdings - trotz Tageslicht - nicht ganz deutlich auszumachen.“

Die Verflachung der Kunst „nach der französischen Revolution“ wird als Erklärungsmuster für die Zeit nach dem Umsturz in der DDR und der „rumänischen Revolution“ übernommen. Die filigran beschriebene Begebenheit nährt die Skepsis des Autors gegenüber seiner Zeit, die er weder als vor- oder nachrevolutionär, sondern am liebsten als „bürokratisch“ einstufen würde.

Bei seinem zweiten „nachrevolutionären“ Besuch in Weimar begegnet der Erzähler einem sonderbar veränderten Zeitgenossen, einem gewissen „Zeitge“, dessen Kopf sich in eine Scheibe verwandelt hat. Diesen verwegenen Zustand hat er den „nachrevolutionären Zeiten“ zu verdanken, „in denen man sich mit den billigen Produkten der Ausschneide-Kunst zu begnügen hat“.

„Ausschnitte“ - aber bei weitem nicht flache - sind auch die anderen Geschichten in Wittstocks Band. Das beobachtende Auge des Erzählers verfolgt kleinste Gesten, um ihre Folgen aufzudecken. So beschreibt der Autor, wie sich aus einer zufälligen Menschenansammlung zwanglos eine Gruppe, ja ein Zug im Gleichschritt mit Marschrhythmus bildet. Sich fügen, nicht aufzubegehren und sich durchzuschlängeln sei die „Lebensstrategie jener Jahre“ gewesen, und unterschwellig stellt der Autor dabei die Frage nach der Schuld.

Tradition, Mitläufertum, sei es während der Diktatur des Proletariats oder während des Faschismus, und nicht zuletzt die Klischees im Kopf sind Themen des lesenswerten Bändchens, das mit einem traurig klingenden Fazit endet: „eingeschüchtert, schier verstummt, bevor wir überhaupt zu sprechen begonnen haben, treten wir ab“.

Edith Ottschofski


Joachim Wittstock. „Scherenschnitt. Beschreibungen, Phantasien, Auskünfte“, hora Verlag, Hermannstadt, 2002, 180 Seiten. Zu beziehen für 9,50 Euro, zuzüglich 4,50 Euro Versand, beim hora-Verlag, Str. N. D. Cocea 9, RO-550370 Sibiu, Telefon/Fax: (00 40) 269 - 21 18 39, E-Mail: office@hora-verlag.ro.
Scherenschnitt. Beschreibungen, Phantasien, Auskünfte.
Joachim Wittstock
Scherenschnitt. Beschreibungen, Phantasien, Auskünfte.

hora Verlag

180 Seiten
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