9. November 2003

Zum 100. Geburtstag des Graphikers und Malers Hans Fronius

In einem am 16. Oktober im Haus des Deutschen Ostens, München, gehaltenen Vortrag würdigte der Schriftsteller Hans Bergel die Persönlichkeit und das Werk des vor hundert Jahren geborenen Graphikers und Malers Hans Fronius (1903 – 1988). Er wies dabei auf die analytische Idee hin, die hinter jeder Fronius-Arbeit steht, sowie auf das Dramatische und Tragische als Grundhaltung des gesamten Werks – zwei Aspekte, die in der Rezeption und Interpretation dieses Werks bisher zu kurz kamen. Mit Arbeiten über Fronius während den letzten drei Jahrzehnten wiederholte Male hervorgetraten, bot Bergel, der dem Künstler persönlich nahe stand, eine ausführliche Übersicht, die wir erheblich verkürzt veröffentlichen.
Wer sich dem Gesamtwerk des Graphikers und Malers Hans Fronius nähert, wird feststellen, dass er es mit einer Aussage von doppelter Gewichtigkeit, Gesichtigkeit und auch Absicht zu tun hat. Da ist auf der einen Seite der Zeichner, Radierer, Litograph, Holzschneider und Maler: der Künstler Fronius, auf der anderen Seite der Philosoph, Zeitkritiker und Literaturkundige: der Intellektuelle Fronius. Auf der einen Seite der Mann, der die Welt und das, was er in ihr sieht und beobachtet, mit den Mitteln der bildenden Kunst gestaltet und veranschaulicht, auf der anderen der Mann, der über die Welt und das, was er in ihr sieht und beobachtet, mit dem analytischen Blick des Kulturphilosophen befindet.

Dennoch ist das graphische und malerische Werk dieses Mannes, der zu Europas bedeutenden bildenden Künstlern des 20. Jahrhunderts zählt, das, was es zu sein vorgibt: künstlerische Aussage - hier die einer von sinnenhafter Unmittelbarkeit beseelten Vollnatur, die in jeder Arbeit die Grenzsituation und immer die äußerste Gipfelung des Ausdrucks suchte. Als Dramatiker und Tragiker, der er war, konnte Hans Fronius auch nicht anders.
Hans Bergel während seines Fronius-Vortrages in München. Foto: Udo Acker
Hans Bergel während seines Fronius-Vortrages in München. Foto: Udo Acker


Trotzdem ist festzuhalten, dass kein Blatt die Werkstatt des Hans Fronius verließ, das nichts weiter gewesen wäre als allein Zeichnung, Radierung, Holzschnitt oder Gemälde. Nein, jede Arbeit spricht als vordergründige Sichtbarkeit und als hintergründiger Gedanke zum Betrachter, zum ästhetisch Sensuellen tritt erkennbar das programmatisch Abstrakte, ohne dass die beiden einander im Wege stehen. Denn zeit seines Lebens ist der bildende Künstler Hans Fronius vom Denker Hans Fronius begleitet worden, und der Mensch der unbändigen Freude an der zeichnerischen Linie und der farbigen Ausbreitung Hans Fronius war deutlicher als die meisten bildenden Künstler des Jahrhunderts, bevor er zur Kohle, zum Bleistift oder zum Pinsel griff, der Sezierer, der die Dinge, die er zeichnete und malte, denkerisch zerlegte und mit bohrenden Fragen an die Welt heranging, die er mit sehhungrigem Blick nicht allein schaute, sondern mit untrüglichem Verstand auch durchschaute.

Wer dies im Umgang mit der Kunst des Hans Fronius einmal begriff, hält einen Schlüssel zur Eigenart des gesamten Werks in der Hand.

Lassen Sie mich die Behauptung am Beispiel aus einem Themenbereich der Fronius‘schen Graphik und Malerei veranschaulichen, das ohnehin der besonderen Erwähnung bedarf: anhand eines Blattes aus der Reihe der Städtebilder.
Wenn Hans Fronius Toledo malt oder zeichnet, wird diese eigenwillige, von Ereignisschichtungen seit der vorchristlichen Zeit bis ins 20. Jahrhundert herauf pausenlos umwitterte spanische Stadt auf dem vom Tajo umflossenen Granitberg in seinem Verständnis nicht nur zum Abbild einer Anhäufung von Brücken-, Befestigungs- und Schlossarchitektur. Vielmehr verdichtet Fronius Toledo - über dessen lange Geschichte er bis ins Detail Bescheid wusste - zum symphonischen Furioso einer Bildkomposition, deren Faszination darin liegt, dass hier über, die ästhetische Erfassung eines Stadtbildes hinaus zugleich auch die historische Vision der Stadt glückte.

Auch in den Städtebildern ist Fronius der Gestalter der doppelten Vision: des künstlerischen Erschauens und der unbestechlichen gedanklichen Durchdringung und Hinterfragung des Gegenstands. Das gilt natürlich ebenso für seine Bilder mit dem Thema Paris - dem er sich in Monotypien, Radierungen, Kohlezeichnungen näherte - oder mit dem Thema Sankt Petersburg, dem er eine großartige Lithographie widmete; sie ist in dem Zusammenhang, den ich hier anspreche, besonders erwähnenswert.

Die Lithographie mit dem Titel "Petersburg" aus dem Jahr 1973 gibt den Blick frei auf eine der Lagunen der berühmten, Anfang des 18. Jahrhunderts errichteten Stadt - des russischen Venedig an der Ostsee. Rechts und links der in die Bildtiefe erstreckten Lagune die für diese Stadt charakteristischen barock-klassizistischen Hausfassaden. Der perspektivische Blick geht über das leuchtende Lagunenwasser in den Bildhintergrund und mündet dort in einem kleinen weißen Fleck, der in der Schwärze, die über den Himmel, die beidseitigen Häuserreihen und die mehrtürmige Kirche an deren Ende ausgebreitet ist, als das Zentrum der Bildanlage erscheint. Das Bild strahlt mit der dunklen Dichte seiner Atmosphäre dämonische Suggestivität aus, es ist ein Bild von jener Stimmungsballung, zu der es den Dramatiker Hans Fronius immer drängte. Von seiner abgründigen Rätselhaftigkeit fühlt sich der Betrachter zum Gefühl hingetrieben, es sei hier, hinter den Fassaden der Gebäude über dem Wasser der Stadtlagune, soeben Unheimliches geschehen oder würde sich in den nächsten Augenblicken ereignen. Als Hans Fronius mir im Werkraum seines Hauses in Perchtoldsdorf bei Wien das Blatt schenkte, sagte er dazu: "Ich kann mir vorstellen, dass in einem dieser Häuser der Student Rodion Raskolnikoff in Dostojewskijs Roman 'Schuld und Sühne' den Doppelmord an den zwei alten Frauen beging - die Gestalt hier rechts unten könnte Raskolnikoff nach dem Mord sein..." In der Tat sah Fronius in den Gribojedow-Kanal, den er auf diesem Blatt festhielt, alles Bedrückende und Bedrohliche hinein, von dem Raskolnikoffs Handlung in typisch dostojewskijscher Manier durchtränkt ist. Das Düstere und Unheimliche teilt sich auch denjenigen Betrachtern des Bildes mit, die Fjodor Dostojewskijs Roman nicht kennen.

Hier werden zunächst jene beiden Komponenten deutlich sichtbar, die mir für die Kunstauffassung des Hans Fronius bezeichnend erscheinen: Die Faszination durch das Bild an sich, das keiner Erläuterung bedarf, um zur Wirkung zu kommen, ist die eine Komponente seiner Kunst; der literarisch sezierende Gedanke - die ins Bild einfließende Dostojewskij-Erzählung um den unglückseligen Raubmörder Raskolnikoff - ist ihre andere Komponente.

Mit dem "Petersburg"-Bild ist aber auch der nächste Punkt in der Betrachtung dieses Werks erreicht: die Rolle der Literatur, die Bedeutung von Textvorlagen im bildnerischen Opus des Hans Fronius. Die Literatur als eine der Möglichkeiten künstlerischer Erfassung dessen, was uns umgibt, was uns ausmacht und welches die Antriebe und Umstände unseres Lebens sind, beginnt relativ früh und auf eine verblüffende Weise in die graphische Auseinandersetzung des Hans Fronius mit der Welt einzudringen und mit ihr zu Einheit zu verschmelzen. Zwar schon 1930 zeichnete der 27-Jährige unter dem Titel "Der Mord" den Augenblick der Tat des Raskolnikoff mit Tusche-Feder in einer an Rembrandts lapidaren Zeichenstrich erinnernden Meisterschaft. Zwei Jahre später entstand das Tusche-Pinsel-Blatt "Beim Schlachthaus" zu Anton Tschechows "Der Taugenichts", ja, schon 1922 hatte der Neunzehnjährige mit dem Holzschnitt "Wozzek" zu Georg Büchners revolutionärem Bühnenwerk ein Porträt von psychoanalytischem Tiefblick geschaffen, dessen Wirkung bis heute ungebrochen blieb u.a.m. Aber erst als Fronius das Werk Franz Kafkas für sich entdeckte - eines 1924 verstorbenen Autors, damals in der europäischen Literatur ein Unbekannter, "dessen Werk Fronius früher erreichte als viele seiner Lobredner", schrieb Reinhold Schneider -, erst mit Kafka also beginnt der zeit seines Lebens von belletristischen Texten gefesselte Fronius, Literatur umzusetzen in bildnerische Gestalt. Das Verblüffende ist dabei der Umstand, dass ein namenloser junger Graphiker mit solchem Nachdruck auf den damals namenlosen Kafka hinwies, dass nicht nur Kafkas Prager Nachlassverwalter in Entzücken verfielen, sondern Könner vom Range eines Alfred Kubin oder Johannes Urzidil mit Bewunderung vom genialen psychologischen Gespür des Hans Fronius sprachen. Fronius stellt sich dem Schriftsteller Franz Kafka gleichsam ergänzend zur Seite und gewinnt seinem Text die ungeahnte andere Dimension ab. Das heißt, er weist mit seinen Zeichnungen auf eine Ebene der Textvorlage hin, die dem Leser bei der Lektüre unter Umständen nicht bewusst wurde. Ja, sie war sogar manchmal dem Autor selber bei der Niederschrift des Textes unbewusst - wie ihm z.B. der französische Romancier Julien Green, zu dessen "Leviathan" er Zeichnungen schuf und dem er freundschaftlich verbunden war, freimütig gestand. "Hier", sagte Hans Fronius zu mir, "auf diesem Stuhl, auf dem Sie jetzt sitzen, saß Julien Green, als er mir das sagte."

Diese schöpferische Ergänzung der Texte, von denen sich Fronius angezogen fühlte, ist kraftvoll, vital und ohne Ermattung in seinem gesamten literarisch inspirierten Werk präsent. Ein bemerkenswert umfangreicher Teil des Fronius-Werks! Denn was mit den streckenweise sehr frühen Zeichnungen, Holzschnitten, Radierungen oder Monotypien nach alttestamentarischen oder nach Kafka-Vorlagen begann, reichte dann von Maupassants "Phantastica" und Gustav Meyrinks "Golem" bis zu Ernst Jüngers "Marmorklippen", von Edgar Allan Poes "Morgue" über Balzacs "Scharfrichter" bis zu Bulgakows "Der Meister und Margarita", von Francois Villons "Das Große "Testament" bis hin zu Dino Buzattis "Die Festung", Thornton Wilders "Die Brücke von San Luis Rey" und vielen anderen.

Wer die Literaturtexte betrachtet, von denen sich Fronius angesprochen fühlte, wird eine beziehungs- und aufschlussreiche Feststellung machen müssen, der in der Analyse und Deutung des Werks ebenfalls eine Schlüsselfunktion zukommt: Fronius widmete sich ausnahmslos Texten, die doppelbödig angelegt, die für ihre Rätselhaftigkeit, ihre Abgründigkeit, für ihre Chiffre, ihre Parapsychik bekannt sind. Das ist auffallend und drängt die Frage nach der Herkunft dieser geradezu manischen Hinwendung und damit auch die Frage nach dem Menschen Hans Fronius auf.

Wer also war dieser Mann, den es von Jugend an zum Drama der psychologischen Durchdenkung und Deutung der Dinge bis an jenen Punkt trieb, an dem das Tragische allen Geschehens als letzte Konsequenz menschlichen Seins und Daseins sichtbar wird? Die Frage muss so formuliert werden, weil ja sogar die Landschaftsbilder, die Fronius schuf - etwa die viel diskutierten Donauauen -, mit dem Gestus des Tragischen vorgetragen wurden, genauso wie seine Bildnisse und Genreszenen, erst recht jene - erlauben Sie das unprofessionelle Wort - phänomenalen "Imaginären Porträts", über die noch einiges zu sagen sein wird.

Hans Fronius wurde vor hundert Jahren, 1903, in Sarajewo, der bosnisch-herzegowinischen Hauptstadt geboren. Sein Vater, ein Siebenbürger aus einer bis ins Spätmittelalter zurück durch Wissenschaftler, Rechtsgelehrte und öffentlich tätige Persönlichkeiten hervorgetretenen Familie mit der Wurzel in Schäßburg, dem "siebenbürgischen Rothenburg", war Arzt und hatte sich als Sanitätsrat und Oberstadtphysikus in Sarajewo niedergelassen. Die Mutter entstammte der aus Italien in die Donaumonarchie verschlagenen Familie Passini; in ihrem Stammbaum finden sich jene Maler, Kupferstecher und Aquarellisten, die in Rom und Venedig gelebt und dem Nachfahren Hans Fronius den künstlerischen Genius vererbt hatten. Das bürgerlich noble, dank des Wohlstands auch umhegte Leben der Familie, in dem die ruhige Gediegenheit des Vaters und das ästhetische Stilgefühl der Mutter den Ton angaben, spielte sich in quasi kontrapunktischer Wechselwirkung mit der Urwüchsigkeit der südöstlichen, nicht selten von orientalischen Zügen durchsetzten Buntheit der umgebenden Balkanwelt ab. Gab es auf der einen Seite im Elternhaus die musischen, von der hochgebildeten Mutter ausgehenden Eindrücke und Anregungen feinsinniger Art poetischer, literarischer, musikalischer, künstlerischer Observanz, so auf der anderen die unmittelbare Begegnung z.B. mit einem Akt von Blutrachemord, der sich in den bosnischen Bergen vor den Augen des Kindes ereignete, und schließlich mit jenem Vorgang, den Hans Fronius am allerwenigsten jemals wieder vergessen konnte: Der noch nicht Elfjährige war zufällig Zeuge in allernächster Nähe der Ermordung des habsburgischen Kronprinzenpaares, mit der die Ungeheuerlichkeiten des 20. Jahrhunderts beginnen sollten - der Vater war der erste Mensch, der sich über die einem Attentat im Juni 1914 zum Opfer gefallenen, in ihrem Blut liegenden Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Gattin Sophie beugte. Hans Fronius, der Knabe, stand daneben und sah dem Vater nicht nur zu, sondern ging ihm bei der Hilfeleistung für die Niedergeschossenen auch zur Hand.

Nun kann man darüber rätseln, ob diese Schreckensbilder - zu denen sich bis ins Alter unvergessene gespenstische Alpträume aus schwerer Krankheitszeit und der Schock hinzu gesellten, den der Zehnjährige beim Betrachten des Ölgemäldes "Erschießung der Aufständischen" von Goya erlitt -, ob es also diese frühen Erregungen waren, in denen sich die Ansätze zum lebelangen wachen Hinterfragen und dramatischen Impetus erkennen lassen, oder ob es in der Natur des sensiblen Hans Fronius lag, diesen Weg als Künstler zu gehen. Es bietet sich an, all die genannten Bilder und Erschütterungen als emotionell bestimmende Prägekräfte für den Rest des Lebens anzunehmen: Das visionäre Abtasten jedes Gegenstands auf seine finale Aussage hin, das bei Fronius immer wieder im Tragischen als der letzten möglichen Folgerung mündet, und der Wille, der Bedrohungen Herr zu werden, indem er sie in künstlerische Form zwingt, erfuhren durch sie zumindest eine Vorprägung.

Das Zurückhaltende, Sanfte charakterisierte ihn als Schüler eines Grazer Gymnasiums und, beginnend mit dem Jahr 1922, als Student der Wiener Akademie der Künste. Die Familie war durch den Kriegsausgang 1918 und den Zusammenbruch der Donaumonarchie verarmt. Das Leben in Bescheidenheit wurde Fronius zur zweiten Natur und blieb es auch als die Zeiten des internationalen Ruhms, der finanziellen Sicherheit kamen. Der betuchte Vater eines Studienfreundes bezahlte dem wenig über zwanzigjährigen Studenten Reisen in Europas bedeutende Kunstzentren. Nach Abschluss des Studiums 1930 und einem Referendariatsjahr in Graz ließ sich Fronius als Lehrer im äußersten Südosten Österreichs nieder, im Städtchen Fürstenfeld im Steierischen Hügelland. In die folgenden Jahre fruchtbarer Stille, der ungestörten Konzentration, des Schauenlernens und des Reifens fallen auch die Annäherungen wie Auseinandersetzungen mit den großen Vorbildern - allen voran der Spanier Francisco de Goya, der Größten einer in Europas Kunstgeschichte, dessen kompromisslos direktes Wahrheitsethos in Hans Fronius‘ Werk ebenso einfloss wie die schnörkel- und kompromisslose Handschrift. Alfred Kubin, der aus Böhmen stammende geniale Zeichner des Phantastischen und Monströsen, dessen Arbeiten den Surrealismus vorausahnen ließen, wurde zum Freund und beeinflusste Fronius ebenso. Es war das Gespür für die Hintergründigkeit alles Sichtbaren, was Fronius an dem 26 Jahre älteren Kubin anzog, wobei er niemals dessen Weg des makaber Skurrilen einschlug. Es ging Fronius um mehr als das lediglich Skurrile.

Das erste Fürstenfelder Jahrzehnt legte auf diese Weise den Grundstein für Fronius' spätere Werkreife. Die Fülle der Arbeiten aus dieser Dekade hier auch nur anzudeuten, erübrigt sich. Der Krieg holte den 37-Jährigen an die Front. Der Osten Europas und der italienische Süden waren dabei die Stationen. 1945 kehrte Fronius ins zerstörte Fürstenfeld zur Familie zurück. Er lebte noch anderthalb Jahrzehnte hier, ehe er 1961 nach Perchtoldsdorf südlich von Wien, am Fuß des Wienerwalds, umsiedelte. Er wirkte noch vier Jahre als Kunsterzieher. In Perchtoldsdorf starb er 1988 als 85-Jähriger.

Im Schaffen des einzelgängerischen, in keine kunsthistorische Schablone pressbaren Hans Fronius - war er Expressionist, Impressionist, Symbolist? fragte sein Biograph Wolfgang Hilger - nehmen die Zyklen einen bedeutenden Platz ein. Drei von ihnen seien in dieser grob skizzierenden Ausführung pars pro toto kurz erwähnt.

1973 veröffentlichte der Styria Verlag unter dem Titel "Die letzten Tage von Konstantinopel" den unter Historikern berühmten Augenzeugenbericht des Georgios Sphrantzes über die Eroberung 1453 der damals ersten Stadt der Christenheit Konstantinopel. Hans Fronius schuf 21 großformatige Tusche-Pinsel-Zeichnungen zu dem Ereignis, die dem Sphrantzes-Bericht beigegeben sind. Der unerhörte, von den europäischen Mächten mit der Tatenlosigkeit von Schafen beobachtete und hingenommene Vorgang stellt eine jener Grenzsituationen dar - hier einer historisch definierten -, von deren Anziehungskraft auf Hans Fronius ich sprach.

Einen weiteren Zyklus schuf Hans Fronius zwei Jahre vor seinem Tod, und es ist, als schlösse sich mit ihm ein Lebenskreis. Denn die 32 Kohlezeichnungen dieses Zyklus haben das Attentat von Sarajewo zum Inhalt, das der wenig über Zehnjährige neben dem Vater mit ansah. Gibt es einen klareren Beweis für die Nachwirkung der frühen fundamentalen Erregungen im Leben dieses Mannes? "Die Schüsse von Sarajewo sind mir nie aus den Ohren gekommen", hat der über Achtzigjährige gesagt, als er an diesem Zyklus arbeitete.

Wird der Zyklus über Konstantinopels letzte Tage in jenem Jahr 1453 von der Wildheit im Augenblick des Geschehens bestimmt, so ist der Sarajewo-Zyklus um das Ereignis von 1914 durchdüstert von der Ahnung der bevorstehenden europäischen Katastrophe. Immer hat Fronius in seiner Graphik aus dem Schwarz heraus das Weiß, aus dem Dunkel heraus die Helligkeit erarbeitet, hier, in den Sarajewo-Blättern, tut er es eindeutiger denn je. Und auch hier gipfelte er jede der 32 Sequenzen zu einem für sich stehenden Drama. Die Landschaft um die bosnisch-herzegowinische Stadt, sogar die Helmbüsche der uniformierten Herren wie die pompösen Hüte der Damen jener an der Schwelle des Untergangs angekommenen k.u.k.-Welt werden zu dramatischen Menetekeln, der über das getroffene kaiserliche Thronfolgerehepaar im offenen Wagen gebeugte Arzt mit dem Knebelbart ist ebenso dramatisch inszeniert wie der Aufruhr der Massen auf den Straßen nach dem Attentat.

Schließlich liegt mir daran, einen dritten Zyklus zu erwähnen: Die 61 "Imaginären Porträts" von Hans Fronius, die Wolfgang Hilger 1980 in Buchform bei Styria herausgab, die aber schon 1957 bei Piper als Bändchen mit einem Vorwort des im Jahr darauf verstorbenen Reinhold Schneider erschienen waren. Was Fronius hier von Chopin bis Johannes Brahms, von Nero bis zu Napoleon III., von Pilatus bis Mussorgski oder Karl Kraus, von Danton bis Albert Camus an zeichnerischer Virtuosität wie psychologischer Intelligenz bietet, ist in seiner Genialität deshalb fast erschreckend, weil er alle 61 Schwarzweißbildnisse nicht sosehr nach Vorlagen schuf, sondern aus seinem Gefühl von der Persönlichkeit des Porträtierten heraus - aus der schlafwandlerischen Sicherheit und Unbestechlichkeit im Erspüren der verborgensten Seelenregungen.

Unter Hans Fronius' Zeitgenossen fallen mir zwei Porträtisten vergleichbaren künstlerischen Ranges, wenn auch von fundamental anderer Auffassung ein: Der eine ist der 1995 sechsundsechzigjährig in Hamburg verstorbene Horst Janssen, dessen "Hundert Köpfe", 1994 als Buch im dtv erschienen, zu Weltruhm kamen; der zweite ist der in Wiehl im Oberbergischen lebende 87-jährige Friedrich von Bömches, dessen Ölporträts von Heidegger, Krupp von Bohlen und Halbach, Hermann Oberth, Peter Ludwig, Max Adenauer, Hans Dietrich Genscher und anderen ihn als einen überragenden Bildnismaler unserer Tage ausweisen.

Mit der Erwähnung der "Imaginären Porträts" leitet sich der Schluss dieser Ausführung und der abschließend unumgängliche, über die Kunst hinausgehende Hinweis auf das Kulturverständnis des Hans Fronius von selber ein. Wolfgang Hilger zeichnete eine Anmerkung des alternden Fronius auf - diesen habe die Beobachtung umgetrieben, dass in unseren Tagen "das Menschenbildnis aus der europäischen Kunst verschwinde". Im Gespräch wurde Fronius deutlicher: Das Menschenbildnis gehöre, sagte er, seit der Antike zu "den Kostbarkeiten des abendländischen Kulturverständnisses", seine Preisgabe "ist nicht nur ein Ereignis im Bereich der Künste, sie weist auf einen Bruch in unserer geistigen Grundhaltung hin", wie ich mir am 14. Juni 1981 nach einem längeren Beisammensein in Wien notierte. "Wir bewegen uns auf ein Versiegen unserer abendländischen Kulturquellen zu", sagte Fronius damals, "ohne dass die meisten es bemerken." Und dann fragte er mich, ob ich aus dem 1975 entstandenen Zyklus "Parabeln" die Radierung "Die versunkene Kathedrale" vor Augen habe? Diese Radierung enthält Hans Fronius' Sicht der europäischen Kultursituation gegen Ende des 20. Jahrhunderts wie eine zum Bild geronnene Formel: Eine doppeltürmige gotische Kathedrale - klassischer Inbegriff geistigen Höhenflugs des abendländischen Europa - hat sich gleich einem Ozeandampfer zur Seite geneigt, im Begriff - halb ist es bereits geschehen - zu versinken. Über ihr kreisen vor grauem Himmel einige Raben – sie vervollständigen das nicht nur gespenstische, sondern mehr noch ungeheuerliche Bild. 1978 tauchte im Zyklus "Mit kalter Nadel" die Vision der wankenden Kathedrale abermals auf - und dieses Mal sinkt sie nicht nur zur Seite, sie wird von fahnenschwingendem Mob mit auf die prachtvolle Rosette angelegten Leitern in zerstörerischer Absicht auch noch gestürmt. Die Aussage ist eindeutig: Die Kathedrale steht sinnbildhaft für den gesamten europäischen Kulturbau. Hans Fronius teilte den Kulturpessimismus, ja die Kulturverzweiflung nicht weniger der ernsthaften Geister unserer Epochen.

Und hier haben Sie sehr greifbar, womit ich meine Darlegung begann: In Hans Fronius' Bildwerken äußert sich immer auch eine Idee, ohne jemals die Forderung der Kunst nach emotionaler Wirkungsabsicht zu verletzen. Dass diese Idee beim Dramatiker und Tragiker Hans Fronius zum Menetekel für uns alle geriet, macht den großen Künstler und liebenswerten wie leisen und bescheidenen Menschen in meinen Augen erst recht der Bewunderung wert.

Hans Bergel


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