16. November 2003

Franz Hodjaks Roman der Nachkriegsgeneration bei Suhrkamp erschienen

Der neue Roman Franz Hodjaks, den Suhrkamp vor kurzem herausbrachte - in dem bekannten Frankfurter Verlag sind in den vergangenen Jahren bereits sieben Bücher dieses Autors erschienen - enttäuscht sicher nicht nur die treuen Hodjak-Fans nicht. Eine gebrochene Biografie, so scheint es, kann zum unversiegbaren Quell werden, aus dem sich Welt- d.h. Gesellschaftsein-Sichten von unverwechselbarer Authentizität speisen, die gleichzeitig dazu angetan sind, ein größeres Leserpublikum anzusprechen.
Wenn dem unbestechlichen Blick eines Autors nämlich die wesentlichen Zusammenhänge unter den wirren, auch scheinbar zufälligen und bedeutungslosen alltäglichen Geschehnissen seines Lebens nicht nur nicht verloren gehen, sondern er sie sichtbar zu machen versteht durch Fiktion, ermöglicht er dem Leser jenes höhere Vergnügen, das schon die Griechen kannten: die Katharsis (eine Läuterung durch Mitleid und Furcht in der Tragödie). Dabei entlarvt er gleichzeitig gängige Meinungen, Vorurteile und Klischees als solche und unterhält mit Sprachwitz, ja Denkkapriolen.

Was der Autor beim unvermeidlichen Verknüpfen von Erinnerung an ein Leben unter der kommunistischen Diktatur in Rumänien mit Wahrnehmungen und Beobachtungen während seines Ankommens in der "neuen Welt" Westeuropas und der Jetztzeit denkt, braucht eigentlich - so könnte man meinen - nur aufgeschrieben zu werden und fertig ist der Roman! Erst bei genauerer Lektüre entdeckt der Leser die konsequent beibehaltene ironische Erzählhaltung, gnadenlose Kompromisslosigkeit in der Darstellung eigenen Erlebens, sprachliche Über- beziehungsweise Untertreibung, Sarkasmus, Originalität, ja Ausgefallenheit seiner Bilder, Situationen und Figuren, die durch die Technik des Verknüpfens nicht selten ins Absurde weisen. So wird der Eindruck suggeriert, dies sei die einzig angemessene Form der Schilderung einer ver-rückten Welt, wenn Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit das Ziel ihrer Darstellung sind. Hodjaks Stil wirkt befreiend, enthemmend, mitunter vielleicht sogar therapeutisch, in jedem Falle aber vergnüglich.


Franz Hodjak
Franz Hodjak

Bernd Burger, die Hauptfigur des Buches, verlässt mit Frau und Kind kurz nach der Revolution von 1989 Rumänien mit Staatenlosen-Pässen, um nach Deutschland einzureisen. Die Reise wird jedoch zur Odyssee, denn Bernd Burgers Frau Melitta verfährt sich dauernd, weil sie keine Karten lesen kann oder die Ortsschilder übersieht; nicht zuletzt aber, weil die Grenzen zwischen Lichtenstein, Schweiz, Österreich, Frankreich und Deutschland so wenig markiert sind, dass die Reisenden überraschend immer in einem anderen, als dem angepeilten Land ankommen. Auf Umwegen über Pöchlarn, Interlaken, Vaduz, Friedrichshafen am Bodensee und Colmar erreicht die Familie schließlich das Aufnahmelager für Aussiedler in Hamm, das ursprüngliche Ziel der Reise. Sollte übrigens jemand, der dieser Personengruppe angehört, mit der eigenen Aufnahme traumatische Erinnerungen verknüpfen, könnte ihn Hodjaks Roman zu homerischem Gelächter und endgültiger Heilung verhelfen.

Den Zustand des Staatenlosen, der gerade die alte Identität aufgegeben, die neue jedoch noch nicht erlangt hat, empfindet Bernd Burger teils als ungeahnte Freiheit, teils als unvorhersehbare Verunsicherung. Wie lebt nämlich einer, in dessen Leben es nur Grenzen gegeben hat, dessen einziges Zuhause "die bedrohliche Gewissheit der Angst und der Hoffnungslosigkeit" war und "die Hilflosigkeit das einzige Prinzip, das einem Flügel verleihen kann, mit denen man nicht abstürzt", wenn man als Freiheit im besten Falle die "Narrenfreiheit" kannte und das Glück darin bestand, "Katastrophen abzuwenden"? Und wie soll man leben, wenn eben "Hoffnungslosigkeit nicht mehr die richtige Haltung" ist? Wie sehen, wenn man nur "das Schielen über den Stacheldrahtzaun" gelernt hat? "Mein Pech bestand nicht darin, dass ich immer den falschen Weg gewählt habe, mein Pech war, dass ich stets zwischen zwei falschen Wegen zu wählen hatte", versucht Bernd Burger seiner Frau zu erklären.

In scheinbar abwegigen Gesprächen, Selbstprotokollen und Kommentaren des Protagonisten werden Blitzlichter auf die ganze Misere des Lebens in einer Diktatur geworfen, von der prekären Versorgungslage der Menschen, über Anheuerungsversuche durch Vertreter der berüchtigten Securitate, Rechtssprechung unter Terrorzwang, die grotesken Strategien beim Aufbau potemkinscher Dörfer, die zeitweise auch den Westen für den Diktator einnahmen. Bernd Burgers entwaffnenden Zeitkommentare gelten jedoch in gleichem Maße auch der Gegenwart im Ankunftsgebiet: der Gedankenlosigkeit, die Menschen in der Freiheit kennzeichnet (ob "jemand in der Freiheit den Sinn vom Unsinn unterscheiden kann, in der Diktatur wusste ich, wo der Unsinn sitzt"), der gespenstischen Absurdität einer im Verwaltungschaos erstarrten Gesellschaft, in der Selbstprofilierung oft zum einzigen Handlungsmotiv wird, einer Demokratie der Verwirrung (auch von Begriffen), der Eitelkeit, Selbstüberschätzung und Selbstüberhebung, der schamlosen medialen Selbstentblößung. Bernd Burgers ironisch provokatives Fazit bezüglich der Freiheit lautet daher: Die Sehnsucht ist wichtiger als die Gewissheit. Das Odysseus-Motiv umkehrend preist er widersinnigerweise "die Flucht vor der Ankunft" als "einzige Freiheit, die mir bleibt".

Heimat und Heimatlosigkeit fließen als Motive in Hodjaks Roman wie selbstverständlich ein. Sie laufen jedoch an keiner Stelle Gefahr, im Sinne süßer Rückwärtsgewandtheit oder stolzer Platzeroberung im neuen Umfeld evoziert zu werden, sondern als Phänomene einer Zeit, in der ein denkendes Individuum sich Heimat als geistige Existenzform bewahren beziehungsweise erstreiten muss. Das Ithaka des gestrandeten modernen Odysseus Bernd Burger ist ein Koffer voll Sand, weil die Begriffe aus ihrer Begrifflichkeit ausscheren, "und dann brauche ich viel Sand, der begrifflos ist [...] Die mythischen Zeiten [...] sind längst vorbei und fortan werde ich immer einen Koffer voll Sand mit mir herumtragen, auch wenn ich nicht reise."

Hodjak lässt zwar seinen Bernd Burger erklären, er nehme sich die Freiheit heraus, sich als Individuum zu beschreiben; was dem Autor jedoch dabei gelungen ist, ist die Porträtskizze einer Nachkriegsgeneration, die den gesellschaftlichen und weltanschaulichen Brüchen ihrer Zeit nicht die Erinnerung an das gute Alte und die aus ihm herübergerettete, wie auch immer angepasste Weltanschauung entgegenzusetzen hatte, sondern im besten Falle aus der verordneten Willkür eine selbst erworbene geistige Souveränität, im schlimmeren Falle den Mut der Verweigerung und das Misstrauen gegen jede Art von Ideologie entgegenstellt. Der Roman dieser Generation wurde bis zu diesem Buch noch nicht geschrieben.

Gudrun Schuster




Franz Hodjak: Ein Koffer voll Sand. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 244 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 3-518-41394-5.
Ein Koffer voll Sand: Roman
Franz Hodjak
Ein Koffer voll Sand: Roman

Suhrkamp Verlag
Gebundene Ausgabe
EUR 18,60
Jetzt bestellen »

Bewerten:

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.