7. Dezember 2003

Oskar Pastior: "In liebeloher Zulieblichung"

Wie ein "Freiheitsrausch" sei "die Arbeit an und mit Chlebnikov" gewesen, bemerkt Oskar Pastior im Rückblick auf seine 25 Jahre umspannende Auseinandersetzung mit den Texten des russischen Futuristen: von den Übersetzungen für die 1972 von Peter Urban herausgegebene Chlebnikov-Werkausgabe bis zum 1997 im Pastior-Gedichtband "Das Hören des Genitivs" gewissermaßen "nachgereichten" Text "getoengedroehn um den verstand".
Nun versammelt eine neue Publikation alle Texte Oskar Pastiors „von und mit und zu“ Velimir Chlebnikov sowie die entsprechenden russischen Originaltexte – nebst einer CD, auf der Pastior im O-Ton zu hören ist: „Mein Chlebnikov“, erschienen bei Urs Engeler Editor in Basel/Weil am Rhein 2003, Preis: 24,00 Euro, ISBN 3-905591-70-7.

Der russische Naturwissenschaftler und Dichter Velimir Chlebnikov (1885-1922) zählt zu den Bahnbrechern der russischen Avantgarde, die am Anfang des 20. Jahrhunderts nichts Geringeres anstrebte als eine radikal neue, von Künstlern gestaltete und gelenkte Gesellschaft. Chlebnikov allerdings verknüpfte seine künstlerischen mit wissenschaftlichen Verfahren. Als Mathematiker suchte er unter anderem nach einer historischen ,Weltformel‘, mit Hilfe derer zukünftige Ereignisse berechnet werden könnten, und fand heraus, dass die Zahl 317 und deren Vielfache eine gewisse Regel-, also auch Gesetzmäßigkeit in der Abfolge geschichtlicher Vorgänge aufzeigen könne. Mit der gleichen verblüffenden Akribie und Experimentierlust widmete er sich als Dichter der Entwicklung einer transmentalen/transrationalen ,Weltsprache‘, die primär nicht bedeutungsbezogen sein sollte. Er operierte zunächst mit Wortstämmen, dann konzentrierte er sich auf Laute, nämlich auf die Konsonanten, deren „Wahrheit“, dh. universell gültige Beschaffenheit, er mit mathematischen Begriffen und Zeichen zu erfassen und theoretisch zu begründen strebte. Sein Schüler Wladimir Majakowskij bemerkte anerkennend, dass Chlebnikov „ein ganzes Periodensystem des Wortes“ geschaffen habe. Trotzdem sollte sein Werk, wie schon Majakowskij feststellen musste (vgl. Chlebnikov, Werke 1), ein Fall für ,Insider‘ bleiben: „Chlebnikovs Ruhm als Dichter ist unermeßlich viel geringer als seine Bedeutung. Von den hundert, die ihn gelesen haben, nannten ihn fünfzig einfach einen Graphomanen, vierzig haben ihn als Unterhaltung gelesen und sich gewundert, warum sie von all dem keine Unterhaltung hatten, und nur zehn (die Futuristen-Dichter, die Philologen des ,Opojaz‘) kannten und liebten diesen Kolumbus neuer poetischer Kontinente [...]. Chlebnikov ist kein Dichter für den Gebrauch. [...] Chlebnikov ist ein Dichter für Produzenten.“ Er starb wenige Monate vor der Gründung der UdSSR, zu deren Zeiten es ihn als Persona ingrata offiziell nicht gegeben hat.

Oskar Pastior begegnete Chlebnikovs poetischem Werk 1969, als Peter Urban auch an ihn appellierte, am Übersetzungsprojekt mitzuwirken – mit Ergebnissen, die wiederum bahnbrechend waren: sowohl für die Chlebnikov-Rezeption als auch für die literarische Produktion der beteiligten deutschen Autoren. Im Nachwort zu „Mein Chlebnikov“ hält Pastior fest: „An Chlebnikov – ich war gerade nach Berlin gekommen – reizte mich gerade die Unmöglichkeit, seinen Wortgeflechten mit einer Sinn-Klang-Rhythmus-Übertragung beizukommen – als Herausforderung, seine poetische Methode, die er als ,Sternensprache‘ universell theoretisiert, aber den Ableitungs-, Kombinations- und Flexionsmöglichkeiten der russischen Sprache entnommen hatte, auf die im Deutschen anders angelegten Möglichkeiten zu übertragen.“ (S. 103 f.).

Die Lösungen, die Pastior findet, sind von Text zu Text verschieden und auch für den Leser/Hörer eine Herausforderung, da sich Pastiors Verfahrensweisen nicht ohne weiteres nachvollziehen lassen. Etwas müheloser ist ein Zugang zu jenen Texten finden, in denen Pastior wie Chlebnikov mit Wortstämmen experimentiert, etwa „lach“ im Text „Allerleilach“: „ich bin zum Verlachen ins Lachen verlacht, ins lache Gelächter über lacherlei Lachnis“ (S. 49); oder „mach“ im Text „M-Satz“: „Macht mag Macht, Macht macht Macht, Macht macht Macht möglich, Macht macht machtmachende Macht möglich, Machthaber mächtig. Die Mächtigeren. Entmachtende Macht. Entmachtung?“ (S. 61). Der umfangreichste Text, der von einem Wortstamm ausgehend morphologische und syntaktische Möglichkeiten sprachschöpferisch umsetzt, trägt bei Pastior den Titel „Lieb-Satz“ und füllt etwas mehr als drei Druckseiten: für „Liebler liebhaftiger Erliebnisse. – Ad libitum.“ (S. 51). Am Rande sei hier noch eine ebenso bezeichnende wie skurrile Anekdote wiedergegeben, die Majakowskij überliefert hat: Nachdem Chlebnikov seinen sechsseitigen „lieb“-Text verfasst hatte, konnte der nicht veröffentlicht werden, weil in der Provinzdruckerei das L nicht reichte!

Relativ einfach auszumachen ist auch die Palindromstruktur, die Pastior in „Rätsel, Nebel, Manie ...“ vom entsprechenden Chlebnikov-Text übernimmt: „Ton tut not. [...] Spring, Knirps!“ (S. 71); oder Chlebnikovs theoretische Erklärung des L, mit der Pastiors „Protokoll vom El“ unter anderem operiert: „Das Lot im Schnürlregen und im Rinnsal./ El als der Weg eines Punkts aus der Höhe,/ aufgehalten im Wall einer Fläche./ Die Sohle, das Fleisch, die Plane, das Land.“ (S. 13). Doch bleiben für den Leser/Hörer so manche „fragen an den ergaenzenden verstand“ offen – „sinnsinn in jedwedem binding/ sinn ist ein anderer/ – als was?“ (S. 91). Unbenommen bleibt hingegen jedem der Spaß, sich anhand von Pastiors Texten an jene Sprach-Freiheit heranzutasten, die jenseits unserer allzu begriffsstutzigen bzw. begriffsschwangeren Alltags-gepflogenheiten zu entdecken ist: „in liebeloher Zulieblichung“ sozusagen.

Edith Konradt


(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 19 vom 30. November 2003, Seite 7)
Mein Chlebnikov: Russisch Deut
Oskar Pastior
Mein Chlebnikov: Russisch Deutsch

Urs Engeler
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