20. Januar 2004

"Mitten in der Krise - ein Kontrapunkt": Ehrenpreis für Hermannstädter Bach-Chor

Mit dem Georg Dehio-Kulturpreis werden Persönlichkeiten und Institutionen für besondere Leistungen in der Erforschung, Bewahrung und Präsentation der deutschen Kultur und Geschichte im östlichen Europa ausgezeichnet. Träger des mit 8 000 Euro dotierten Ehrenpreises 2003, der vom Deutschen Kulturforum östliches Europa, Potsdam, ausgelobt wurde, ist der Bach-Chor in Hermannstadt (Leiter: Kurt Philippi; Organistin: Ursula Philippi). Die Preise wurden in festlichem Rahmen am 4. Dezember im Deutschen Historischen Museum, Berlin, verliehen. Die Laudatio hielt Dr. Ulrich A. Wien (Siebenbürgisch-Sächsischer Kulturrat, Gundelsheim/Neckar) im Beisein der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsministerin Dr. Christina Weiss, sowie des Unterstaatssekretärs Ovidiu Gant vom Departement für Interethnische Beziehungen der rumänischen Regierung. Die Rede wird im Folgenden auszugsweise wiedergegeben.
Mitten in der Krise - ein Kontrapunkt. Gewissermaßen als Leitmotiv möchte ich meine Eindrücke im Blick auf den Hermannstädter Bach-Chor und seine bisherige Geschichte zusammenfassend in diese Formulierung kleiden. Mitten in der Weltwirtschaftsdepression wurde 1931 der Bach-Chor in Hermannstadt begründet. (...) Der in dieser Krisenzeit durch den jungen Hermannstädter Stadtkantor Franz Xaver Dressler erkannte Mangel eines großen Oratorienchors, der sich der Pflege der großen geistlichen Chorliteratur – zeittypisch zunächst mit dem Namen Bach und Händel verbunden – widmen sollte, und der damit in musikalischer Parallelität dem Gemeindeaufbaukonzept des Stadtpfarrers D. Friedrich Müller („Volksmission“) entsprach, dieser Mangel wurde durch die Gründung des Bach-Chors überwunden. Mitten in der Krise – ein Kontrapunkt. Der Bach-Chor war Mitglied der „Neuen Bach-Gesellschaft zu Leipzig“, verfügte über internationale Kontakte und trat in den Folgejahren sowohl in Hermannstadt als auch landesweit auf.

Kurt und Ursula Philippi nahmen den Preis von Staatsministerin Dr. Christina Weiss (2. von rechts) und Dr. Hanna Nogossek, Direktorin des Kulturforums östliches Europa, entgegen.
Kurt und Ursula Philippi nahmen den Preis von Staatsministerin Dr. Christina Weiss (2. von rechts) und Dr. Hanna Nogossek, Direktorin des Kulturforums östliches Europa, entgegen.

Der Chorgründer und –leiter Franz Xaver Dressler, der aus dem böhmischen Aussig stammend vorwiegend in Leipzig ausgebildet worden war, verstand sich als Straube-Schüler. (...) Unter seiner Leitung erarbeitete sich der Knabenchor das gesamte Spektrum der a-capella-Literatur, vornehmlich die Motetten bis hin zu zeitgenössischen Kompositionen. Seiner Bach-Begeisterung folgend, studierte Dressler darüber hinaus mit dem Bach-Chor die barocken Oratorien, Passionen, Kantaten und das häufig aufgeführte Weihnachtsoratorium ein und brachte diese Werke landesweit zu Gehör: eine Pionierleistung, die weit über das protestantische Milieu auf die Musikkultur des ganzen Landes ausstrahlte. (...)

Härteste Bewährungsprobe bestanden

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs sind die Solisten-Importe aus dem Deutschen Reich signifikant. Bemerkenswert sind die Aufführungen der Händel-Oratorien zu alttestamentlichen Stoffen trotz latenter antisemitischer Anfeindungen, wenngleich kritisch anzumerken ist, dass durch Titeländerungen und Textzensuren ideologische Zugeständnisse gemacht wurden. Die Nachkriegszeit war hart: doch trotzdem gelang dem Bach-Chor ein alle Ausgehverbote missachtendes Proben und Auftreten: mitten in der Krise – ein Kontrapunkt. (...) Die Erstaufführung der Hohen Messe (h-moll) von J. S. Bach im Jahr 1949 in Rumänien war nach der Installation der Volksrepublik Rumänien 1947 eine couragierte Demonstration, aber auch von dem Willen geprägt, die eigenen Ziele unbeirrt weiterzuverfolgen. Dressler hat dies büßen müssen. Zur Zwangsarbeit an den Donau-Kanal deportiert und später nochmals monatelang inhaftiert, wurde er jedes Mal schwerkrank entlassen. Die härteste Bewährungsprobe stand allerdings durch das drohende Verbot des Bach-Chors bevor. Nur die Eingliederung 1959 in die Staatsphilharmonie und als Teil der staatlichen Kulturpolitik erlaubte den Fortbestand. Durch Zugeständnisse an die ideologischen Vorgaben, z.T. durch Gegenseitigkeitsgeschäfte konnte der Chor überleben und dank der nationalen wie internationalen Reputation des Dirigenten auch seine ureigenen Ziele verwirklichen. Gegen die menschenverachtende Diktatur, gegen Versuche der Entwürdigung durch Bevormundung, gegen die Unterdrückung geistiger Freiheit gelang den Choristen unter Dressler, immer wieder kontrapunktisch zu musizieren. Zum Abschied 1978 – nach 47 Jahren – wurde sogar Mozarts Requiem aufgeführt.

Ensemble integriert alle Konfessionen und Ethnien

Eine Ära ging zu Ende, doch der Bach-Chor setzte den musikalischen Kontrapunkt fort. Nach verschiedenen Wechseln der Dirigenten – unter ihnen auch schon Kurt Philippi, dirigiert derselbe seit 1985 ununterbrochen den Chor. Doch zur Jahreswende 1989/90 löste der politische Umbruch in Rumänien die fluchtartige Auswanderung der meisten Siebenbürger Sachsen aus. Der Bach-Chor wurde sehr beeinträchtigt und schrumpfte mengenmäßig stark. Wie sollte dieser existenziellen Krise begegnet werden? Gegen die Untergangsstimmung setzte das Ehepaar Philippi einen beherzten, aber bis heute vitalen und überzeugenden Gegenton/Kontrapunkt. Der von Frau Philippi geleitete Kirchenchor fusionierte mit dem nun wieder unabhängigen Bach-Chor. Unter altem Namen, mit den ursprünglichen Zielen, aber mit z. T. völlig neuen Gesichtern wurden Grenzen überschritten. Singfähigen und Musikbegeisterten aus allen Konfessionen und Ethnien steht der Chor offen, und ist zu einer Integrationsinstanz in der sich wandelnden Gesellschaft geworden. Das ist das Verdienst der beiden Musiker Ursula und Kurt Philippi. (...)

Es ist heute eine Selbstverständlichkeit, dass im Bach-Chor Ethnie- oder Konfessionsgrenzen keine entscheidende Rolle spielen. Diese Voraussetzung garantiert auch die Integrationskraft des Ensembles für die Zukunft. Damit hat der Chor eine historische Tradition Siebenbürgens aufgegriffen, die ich in einem Aufsatz mit dem Begriff „Pionierregion der Religionsfreiheit“ gekennzeichnet habe. Diese Tradition weitergeführt und für die moderne Zivilgesellschaft transformiert fruchtbar gemacht zu haben, spiegelt das Identitätsbewusstsein wider, das im Bach-Chor weiterentwickelt wird: durchaus traditionsbewusst in einer pluriethnischen und plurikonfessionellen Kulturlandschaft selbstbewusst, sensibel und offen die Multiplikatorenfunktion einer gewachsenen authentischen Musikkultur wahrzunehmen und darzustellen.

Ulrich A. Wien

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 1 vom 20. Januar 2004, Seite 7)

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