7. Juni 2001

Rede von Dekan Schuller an der Gedenkstätte in Dinkelsbühl

Bei der Gedenkveranstaltung, die während des diesjährigen Heimattages am Mahnmal der Siebenbürger Sachsen im „Lindendom“ der Alten Promenade von Dinkelsbühl stattfand, hielt der Wieslocher Pfarrer und Dekan Hermann Schuller die feierliche Ansprache. Der Seelsorger ging dabei von einem geschichts- und zugleich zukunftsträchtigen Wort des Sachsenbischof Georg Daniel Teutsch aus und schloss mit einer gleichnishaften Geschichte, die zu Friedensstiftung mahnt. Schullers Rede wird hier in vollem Umfang wiedergegeben.
Nach einem bewegten, beeindruckenden und begegnungsreichen Pfingstsonntag sind wir in feierlichem Zug zu dieser Gedenkstätte gekommen, um nochmals inne zu halten und innere Sammlung zu finden. Wir Menschen brauchen solche Orte, die sichtbar darstellen, daß Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen gehören
Die Erinnerung an einschneidende Ereignisse, an Menschen, die durch Gewalt oder verbrecherische politische Machtverhältnisse sowie kriegerische Auseinandersetzungen ihr Leben verloren haben, gehört ebenso zu unserer Lebenswirklichkeit wie die verantwortliche und friedvolle Gestaltung der Gegenwart.
Wir denken an die Väter und Mütter, an die Schwestern und Brüder, an die Nachbarn und Freunde die aus den Kriegen und aus der Verschleppung nicht mehr heim kamen. Wir denken an die namenlosen Gräber von unschuldigen Kindern und Erwachsenen in aller Welt. Wir denken auch an die Verletzungen und das Leid, das sich Menschen im Spannungsfeld diktatorischer Ideologien, aus ganz unterschiedlichen Beweggründen, gegenseitig zugefügt haben.
Die Erinnerung will uns hier den Blick weiten für die millionenfachen Opfer der Kriege und Unrechtsregime. Vor allem die zwei Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, haben alles überboten, was an Grausamkeit und Vernichtung zu erwähnen ist. Allein im zweiten Weltkrieg waren fünfzig Millionen Menschenopfer zu beklagen.
Der Sachsenbischof Georg Daniel Teutsch, sein Denkmal steht vor der evangelischen Stadtpfarrkirche in Hermannstadt, hat den ersten Band seiner Sachsengeschichte mit den Worten geschlossen: „Die Geschichte verflossener Zeiten ist ein Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, die Vergangenheit die Lehrerin der Zukunft. Wer ihre Stimme nicht hört, oder nicht hören will, ist schon gerichtet.“
Beim ersten Lesen oder Hören dieser Aussage, entsteht nicht der Eindruck, dass sie aus dem 19. Jahrhundert stammt. Sie ist aktuell, erscheint aber vielleicht zu einfach für unsere kompliziert gewordene Welt.
Wenn wir diese Aussage allerdings als geschichtsbewusste Menschen, zu denen wir uns zweifelsohne zählen, an einer Gedenkstätte wie hier an diesem Mahnmal hören, erschließt sich uns ihr Wahrheitsgehalt so eindeutig, als könnte es keine andere Erkenntnis für die Gestaltung gelingenden Lebens geben, als allein die Erkenntnis zum Guten. Das Böse hätte keine Chance, wenn aus der Geschichte nur die nötigen Lehren gezogen, und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen genügend gehegt und gepflegt würde. Eine Denkform, die fast zu lebensfremd scheint, um Erfolg zu haben. Wir wissen, dass Vergangenes unwiederbringlich und unveränderbar ist, jedoch Gegenwärtiges und Zukünftiges von dorther beeinflusst und bestimmt wird. Es fällt uns sicher nicht immer leicht dieser These zu folgen. Der Lebensrhythmus des 21. Jahrhunderts ist ein ganz anderer als der der Vergangenheit. Die Gegenwart nimmt uns in einer Weise in Anspruch, dass wir mit unseren notwendigen Planungen weitgehend die Zukunft vorwegnehmen. Dennoch kann unsere Erkenntnis, wenn wir auf die Stimme aus der Vergangenheit als die Lehrerin der Zukunft hören, keine andere sein als die: Nie wieder darf geschehen, was geschehen ist. Nie wieder dürfen Menschen wegen ihrer Herkunft, ihres Glaubens, ihrer Nationalität, ihrer Hautfarbe verfolgt, diskriminiert oder gar zu Tode gebracht werden. Dabei wird keiner in seinem Denken, Glauben und Zweifeln, in seinem Tun und Lassen, der Verantwortung enthoben.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wir haben das Glück in einem Land zu leben, in dem diese Grundaussage die Verfassung bestimmt. Das verpflichtet uns alle, insbesondere auf dem Weg in eine europäische Gemeinschaft. Gleichzeitig bietet diese Aussage die Möglichkeit, die Werte einzubringen, die uns durch unsere Gemeinschaft über Generationen hinweg vermittelt worden sind. Ich denke an den verantwortlichen Umgang mit der Schöpfung, die Ehrfurcht vor dem Leben und den hohen Stellenwert von Ehe und Familie.
Unsere Welt steht vor Fragen, die Ängste hervorrufen können. Angesichts der rasanten Entwicklung der Genforschung und der Biomedizin steht unsere Gesellschaft in einer leidenschaftlichen Debatte um einen ethisch verantwortbaren Umgang mit einem schier maßlosen Fortschritt. Es gilt auch für uns, aus unserem Selbstverständnis heraus eine entsprechende Standortbestimmung zu gewinnen.
Wir durften in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in Frieden leben und in vielen Berufen und Berufungen, erfolgreich Leben gestalten. Viele von uns hatten allerdings die schwere Last einer der schlimmsten kommunistischen Diktaturen zu erleiden. Die Folgen widerspiegeln sich in Familien und einzelnen Biographien, ja sie werfen nachhaltig ihre dunklen Schatten auf unsere Siebenbürgische Gemeinschaft. Die Frage nach Schuld, Vergebung und Sühne gehört auch zur Erinnerung und führt zu einer lebensnotwendigen Vergangenheitsbewältigung. Von daher ist das Motto des heutigen Tages sehr aktuell: „Zusammenhalt üben - Partnerschaft stiften“. Damit werden wir in einen Prozess hinein genommen, der Zeit Geduld und vor allem Versöhnungsbereitschaft erforderlich macht. Von daher ist es möglich aus der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft so zu lernen, dass unsere Gemeinschaft nicht auseinander driftet, sondern trotz Zerstreuung neue Formen von Partnerschaften stiftet.
Der Grundkonflikt zwischen Ost und West ist, Gott sei Dank, schon über zehn Jahre Vergangenheit. Leider gibt es weiterhin sinnlose Kriege, die mit unbeschreiblichem Leid für unschuldige Menschen verbunden sind. Das macht nicht nur nachdenklich, sondern erfordert von allen Menschen eine Neubesinnung auf die tragenden Wurzeln einer weltumfassenden Rechtskultur. Die Hoffnungen richten sich immer wieder auf die Völkergemeinschaft. Noch ist sie nicht stark genug, eine internationale Ordnung des Friedens unter der Herrschaft gültigen Rechts aufzurichten. Die Welt hat noch keinen Frieden gefunden. Bilder von Gewalt, Terror und Tod erreichen uns täglich.
Wir aber, die in Frieden leben dürfen, wollen die Mahnung der Toten nicht überhören. Die Vision einer friedlichen und gerechten Welt darf nicht verloren gehen.
Der zitierte, geschichtsbezogene Denkansatz mit seinem mahnenden, aber auch visionären Charakter, ist in der Deutung jenes Anfangs der Menschengeschichte im Garten Eden verankert, die in das Drama des verlorenen Paradieses einmündet, in dem der Bruder gegen den Bruder aus Neid und Missgunst die Hand erhebt und zum Brudermörder wird. So klingt in schrillen Tönen die Frage durch die Geschichte: „Kain wo ist dein Bruder Abel?“ Die ausweichende und zurückweisende Antwort ist bekannt: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“
Die Vision von einer friedvollen Welt bleibt dennoch erhalten. Dazu erzählt eine rabbinische Geschichte:
Zwei Brüder bestellen gemeinsam ihr Kornfeld. Sie pflügen, sähen und ernten gemeinsam. Sie binden die Garben und teilen sie brüderlich in zwei gleich große Garbenhaufen. In der Nacht denkt der eine Bruder, der keine Frau und Kinder hat: Die gleiche Teilung der Garben ist doch nicht gerecht. Mein Bruder hat Frau und Kinder, der braucht mehr als ich. Als alle schlafen, steht er auf und trägt von seinen Garben zum Haufen des Bruder. Dieser aber wacht später auf und denkt, die gleiche Aufteilung der Garben war doch nicht gerecht. Mein Bruder hat keine Kinder, wer wird im Alter für ihn sorgen? So steht er auf und trägt von seinen Garben zum Haufen des Bruders. In der Früh staunen sie, dass ihre Garbenhaufen, wie am Tag zuvor, gleich groß sind.
So ging das eine Zeit hin und her, bis sie sich eines Nachts mit ihren Garben auf halbem Wege trafen. Sie staunten, waren bewegt und umarmten sich mit Freuden.
Als das Gott sah, sprach er: Gesegnet ist dieser Ort, da hat das Reich des Friedens begonnen.
Die Zielsetzung der heutigen Veranstaltung reicht nicht so weit. Möge aber der zusammenführende Geist der Pfingsten, nicht zuletzt in Erinnerung an die Toten, es uns gelingen lassen: „Zusammenhalt zu üben und Partnerschaft zu stiften“.

Dekan Hermann Schuller


(Siebenbürgische Zeitung, Folge 10 vom 20. Juni 2001, Seite 6)

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