11. April 2004

Spitznamen prägten Siebenbürgen

Spitznamen sind ein Ausdruck von Zwischenmenschlichkeit. Dafür ist in der neuen, materialistisch geprägten Heimat „immer weniger Platz“, bedauert der Kunsthistoriker Günter Ott. Er erinnert an die Spitznamen von Siebenbürger Sachsen, die in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Kronstadt und Hermannstadt wirkten.
Wenn "wir Kölner" uns nach dem Krieg mit unseren Düsseldorfer Freunden zu gemütlichen Plaudereien trafen, gerieten wir öfters in Diskussionen, welcher dieser beiden Rheinmetropolen der Vorrang einzuräumen sei. Dabei erinnerten wir uns nicht selten an jene Auseinandersetzungen, die "wir Hermannstädter" seinerzeit mit "den Kronstädtern" hatten. Der Schriftsteller Dr. Heinrich Zillich schrieb mir einmal, in Kronstadt seien die Kunst und zugleich das große Geschäft, in Hermannstadt dagegen die politische "Fingerspitzfindigkeit" seit langem beheimatet. Um Politik kümmerten wir junge Leute uns kaum.

Was die Bildende Kunst anbetraf, so waren wir stolz auf unsere moderne Malerin Grete Csaki-Copony. Sogleich wurde jedoch gekontert: geboren sei sie im Burzenland. Und mit Blick auf unseren Zeichenlehrer Hans Hermann, der für seine Radierungen heimatlicher Motive bekannt war und auch malte, wurde uns bedeutet, er stamme ja aus Kronstadt wie die anderen berühmten Künstler Henri Nouveau (Heinrich Neugeboren), Hans Mattis-Teutsch, Friedrich Miess, Hans Eder, Harald Meschendörfer, die beiden Morres', der junge Helfried Weiss, die nach Kronstadt übersiedelten Schunns und andere mehr.

Was die Musik anbetrifft, so pochten wir auf unser Städtisches Orchester, auf die Blaskapellen an den Schulen und die weltlichen und Kirchenchöre vom Brukenthal-Chor bis zur "Hermania", deren Opernaufführungen weit über die Grenzen Hermannstadts hinaus Beachtung fanden. Beim Namen Amazulu-Boy gerieten alle ins Schwelgen, die als Tänzer oder Hörer den Bällen oder Tanztees beiwohnten, wo diese Tanzkapelle spielte. Im Übrigen schickte es sich in den Bürgerkreisen, den Töchtern und Söhnen privaten Klavierunterricht angedeihen zu lassen. Die Klavierlehrerinnen waren ausgelastet. Desillusionierend-nüchtern klärte man uns freilich auf, dass die berühmten Komponisten allerdings Kronstädter seien.

Schließlich mussten wir auch zugeben, dass die Kronstädter bei Skiwettkämpfen und Tennisturnieren die Siegerpokale davontrugen. Unser letzter Trumpf waren die Spitznamen, denn da steht Hermannstadt quantitativ wie qualitativ an der Spitze. Freilich zählten wir auch jene Schülerinnen dazu, die, von außerhalb kommend, unser Mädchengymnasium besuchten, da sie ja, außer in den Ferien, in unserer Stadt lebten. Besonders stolz waren wir auf die geborenen Mediascherinnen, denen nachgesagt wurde, sie seien so schön, weil sie in einem Weinland zur Welt gekommen seien. Und so bereicherten neben Zinzi, Maia und Carry auch die aus anderen Orten zugezogenen Baba und Ditzi unsere Liste der Spitznamen.

Die Spitznamen blühten geradezu in unserer Tanzstunde und im "Kranz". Etliche leiteten sich vom Vornamen ab: Gerch, Viky, Gabi, Aga, Gunthi, Gerri, Fredi, Hardi, Gittusch, Josi, Tilli oder Willi. Nicht selten nahm Willi oder Willy den Platz des Taufnamens ein. Nicht nur bei uns in Siebenbürgen, sondern auch in Deutschland (Kanzler Brandt, Schauspieler Forst und Fritsch). Natürlich gab es auch Spitznamen, deren Provenienz schwer oder gar nicht erkannt werden konnte: Dolle, Pullisch, Tunzi, Zippi, Mossi, Sumpi, Nuno, Suk, Fuxi, Kaschi, Picki. Großmütter, Eltern und Geschwister gaben den Kleinkindern die Kosenamen Bubi, Bubse, Stibes oder Stibsi, Hasi, Pippi, Burschi oder Purschi, Medy, Mausi, Titti. Wir pflegten umgekehrt auch unsere Tanten und Onkel mit Spitznamen zu belegen: Trutschi, Bitzi, Binzi, Viky, Gerta, Minikus, Mitzi, Truno, Marei, Mimi, Semerle, Schabsi. Seltener begegneten die männlichen Ausformungen Bunzi, Fredi, Jutzi, Helmi. Ganz selten waren aus dem Ungarischen und Rumänischen entlehnte Namensbildungen: Ein Onkel mit dem Familiennamen Roth wurde (ungarisch) "Pirosch" angeredet; bei der jüngeren Generation floss das Rumänische ein in "Cotofana" (Elster, auch Schwätzer) oder "Mutulica" (still, stumm).

Spitznamen blieben meist bis zum Tode bewahrt, wie aus den Todesanzeigen in der Siebenbürgischen Zeitung ersichtlich - auch bei Persönlichkeiten, die, wie man zu sagen pflegt, es zu etwas gebracht haben. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Begegnung vor vielen Jahren im Gürzenich, dem historischen Konzertsaal und der Stätte der Kölner Karnevalsprinzen-Proklamation. Generalmusikdirektor Prof. Carl Gorvin, in unserer alten Heimat unter dem Namen Carl Egon Glückselig bekannt, leitete ein Konzert des Bachvereins. Infolge der Kriegs- und Nachkriegswirren hatten wir uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Klar, dass wir das Konzert wahrnahmen und den Maestro in der Pause aufsuchen wollten. Mit einem anderen Hermannstädter Freund, dem Leiter der Redaktionen Rumänien und Europa des Deutschlandfunks Köln, Alfred Coulin, fragten wir also in der Pause nach dem Büro des Dirigenten. Plötzlich ertönte vom Flurende eine laute Stimme: "Joi, der Stibsi!" Dieser rief sogleich zurück: "Servus Purschi!" Es folgte die herzliche Begrüßung, bestaunt vom vorüberziehenden Publikum, das stoppte und gaffte, denn so eine ungewöhnliche "Stibsi-Purschi-Konfrontation" hatten wohl selbst die Kölner noch nicht erlebt. Auch die Schwester des Dirigenten Gorvin-Glückselig, die in Deutschland berühmt gewordene Gründgens-Schülerin und Schauspielerin Joana Maria Gorvin, behielt ihren Spitznamen bis an ihr Lebensende. Wer wusste schon, dass sie in Hermannstadt auf den Namen Gerda getauft wurde (den sie keineswegs mochte). Sie zeichnete ihre Briefe an Freunde und Bekannte mit "Pitzu". Wie sie zu diesem Namen kam, ist mir nicht bekannt, anders als beim Spitznamen "Statz" des kleinen Meinrat Karl, der, als er im Stadium war, dem Dienstmädchen den Wunsch vortrug, "Wasser statz Durst" zu bekommen. Im Nu verliehen wir ältere Jungen ihm den Namen "Statz", auf den er noch heute als Rentner in Deutschland hört.

Ein Spiegelbild der großen Palette Hermannstädter Spitznamen bildet das Kollegium der so genannten Professoren, unserer Lehrer am Brukenthal-Gymnasium. Gleichberechtigt neben plausiblen Abstrahierungen stehen auch hier regelrechte Erfindungen. Kartschi (Kartmann), Buchi (Buchholzer) und Lup (Wolf) wurden von den Familiennamen abgeleitet. "Kappa" hingegen gehörte dem Griechisch-, "Pi" dem Mathelehrer. Weshalb der Physiklehrer nach dem althochdeutschen Gedicht "Muspili" benannt wurde, ist bis heute unklar. Eher entsprach die Figur "Pristanda" aus einem rumänischen Lustspiel dem Geschichtslehrer, der nicht ganz ernst genommen wurde. Den ungarischen Namen Miklosch dichteten wir dem Turnlehrer an und Habba dem Französischprofessor, dessen Gattin, Direktorin des Hermannstädter Mädchengymnasiums, von ihren Schülerinnen liebevoll "Putti" geheißen wurde. Weniger schmeichelhaft war "Spirez" für eine ihrer Kolleginnen. Auf Umwegen gelangte man von Reissenberger, unserem Religionslehrer, zu "Ratz". Jener sympathische Dr. med., der uns in die Gesundheitslehre einführte, war unser "Hagerpeppi". Weit über die Grenzen unserer Schule hieß unser Gymnasialdirektor "Burje". In seinem sächsisch gefärbten Deutsch soll er einst geäußert haben: "Die Burjen von Meschen sind eine Sähenswürdigkeit". In der Tat sind unsere Kirchenburgen in Siebenbürgen sehenswert.

Nach bestandenem Baccalaureat (1932) nahmen wir Abschied von unseren Professoren der Brukenthalschule und es ging voller Optimismus zur Berufsausbildung bzw. zum Hochschulstudium. Wir waren ahnungslos, dass ein Jahr später die Nazis ans Ruder kommen und Hitler das Deutsche Reich und Europa ins Unglück stürzten sollte. Inzwischen hat das Gros der Siebenbürger Sachsen die Heimat verlassen. In der neuen, materialistisch geprägten Heimat ist für Spitznamen, die Ausdruck von Zwischenmenschlichkeit waren, bedauerlicherweise immer weniger Platz.

Günther Ott


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Neueste Kommentare

  • 10.02.2016, 13:53 Uhr von elvs: Wunderbarer Artikel! [weiter]

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