18. Juli 2004

Textbegegnung: Oskar Pastior - Gertrude Stein

Nach seinen Baudelaire-Intonationen und seinem Chlebnikov-Projekt ist nun Oskar Pastiors drittes "translatorisches" Experiment bei Urs Engeler Editor in Basel/Weil am Rhein erschienen: die 24 Szenen "Reread Another" von Gertrude Stein, die in drei Lesarten präsentiert werden - als Druckversionen das englische Original sowie Oskar Pastiors Adaption "Nochmal den Text ein anderer", auf Audio-CD die Hörspielfassung, die der NDR 1994 mit Pastior als Sprecher produziert hat. Buchumfang: 50 Seiten, Gesamtlänge der CD: 42 Minuten, Preis: 24 Euro, ISBN 3-905591-72-3.
"Meine Liebesbeziehung zu ,Gertrunde‘ (so heißt sie, familiär, für mich; denn ,trud‘ wäre Mühsal und Sklavenarbeit) läuft über den Adapter der Textbegegnung", bemerkt Oskar Pastior in "eine[r] Art Nachwort" zu seiner neuen Publikation - denn neben Velimir Chlebnikov und Helmut Heißenbüttel, Georges Perec und Quirinus Kuhlmann, Laurence Sterne und Clemens Brentano, H. C. Artmann und Friederike Mayröcker, den Oulipoten und vielen Autoren des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie zählt auch Gertrude Stein zu jenen "Cousinen des Fernamtes" und "Vettern aus der mündlichen Taiga", "die nicht imstande sind, Sein und Bewußtsein, dies Unding an sich, künstlich zu trennen". Für Pastior kommt es also vor allem darauf an, "wie etwas zu einem Zeitpunkt in der Luft liegt", das heißt auf die "Sprechweise oder Sprachwiese". Und in dieser Hinsicht war die 1874 in Pennsylvania geborene und 1946 in Paris verstorbene Schriftstellerin Gertrude Stein bahnbrechend: Ihr literarisches Œuvre stand im Zeichen revolutionierender Experimente und ihr Pariser Salon wurde ab 1902 zum Treffpunkt für europäische Avantgarde-Künstler wie Picasso, Matisse oder Bracque, später für amerikanische Autoren wie Dos Passos oder Hemingway, deren Stil sie nachhaltig beeinflusst hat. Sie war es auch, die für diese infolge des Ersten Weltkriegs völlig desillusionierten Schriftsteller die Bezeichnung "Lost Generation" prägte.

Gertrude Steins Szenenfolge "Reread Another", die sie 1921 verfasst hat, setzt sich in weitestem Sinn ebenfalls mit dem Ersten Weltkrieg auseinander, und zwar mit jenen Wort-Splittern, die in der beschädigten Bewusstseins- und Sprachwirklichkeit weiterschwären und jede noch so alltägliche Äußerung in Frage bzw. auf den Kopf stellen oder in Stücke bzw. in Luft auflösen. Oskar Pastior assoziiert mit ihrem Text zunächst die (Sprach-)Welt seiner Eltern: "Der gemeine Feldchampignon vor, während und nach dem 1. Weltkrieg schießt darin wie ein Nuss-Puss-Draus-Breughel ins Kraut und hat was ungemein Alltägliches (Staubmantel-Zelluloid-Goldfischiges), weil damals ja auch meine Eltern jung waren. [...] Kein anderer als mein Papa war meiner ersten Lesart Gebirgszug Höhle Unterstand – so 1916, daß am Isonzo schon die nächste (kasematte) Notabiturientengeographie aus dem privaten Album lachte, blau, welche mir Gertrunde aus der Mittelmeer-Sprachhalde säumig-fransig einräumte. " Doch das Wieder- und Wieder-anders-Lesen dreht dann auch die Text-Uhr (Textur) weiter: "Dies alles ist natürlich nachgedrechselt um drei Rucksackzeiten und fünfdrittel Universitäten, anderswie blaustichig", wie Pastior im Nachwort vermerkt.

Naturgemäß folgt also seine "Übersetzung" nur partiell dem Wortlaut des Originaltextes, den er phrasiert, permutiert, perforiert und mit kleinen Selbstzitaten (etwa aus "Die Sauna von Samarkand" bzw. "Stimmen im Badhaus" und "Höricht aus einem Frequenzbereich") oder Kollegenstimmen (etwa Friederike Mayröcker und Joachim Schädlich) pointiert, so dass Pastiors Text eine eigene, andere Sprachzeit mit all ihren beim Wort genommenen Zwickmühlen auffächert. Ein Passus in Szene XX. hält lakonisch fest: "Eine fortgesetzte Geschichte ist eine Geschichte die wenn sie einmal begonnen hat weitergeht. Das kann sehr bald geschehen. " Und Szene XXIV. resümiert: "Mein Kopf kann das nicht behalten wie und an was ich mich erinnern kann und wie es um mich steht und was ich machen soll. Ich habe alles im Kopf. Was bist du für einer. Wer bist du. [...] Nochmal den Text. Ein anderer. " Eine lesens- und hörenswerte Textbegegnung, die zu einem anderen (Sprach-)/(Nach-)Denken anzuregen vermag.

Edith Konradt

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 11 vom 15. Juli 2004, Seite 10)
Reread Another. A Play /Nochma
Gertrude Stein
Reread Another. A Play /Nochmal der Text ein anderer

Urs Engeler
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