6. Mai 2005

Zur Erinnerung an Hermannstädter Kinderarzt

Beim Ordnen alter Schriftstücke entdeckte ich einen fast vergessenen Brief, den mein Vater, Dr. Wilhelm Hager (1891-1965), Kinderarzt in Hermannstadt, mir, Kinderarzt in Köln, am 23. Januar 1958 geschrieben hatte. Der Brief schildert die in langen Gesprächen während einer Weihnachtsfeier 1917 im Schützengraben entstandene Freundschaft mit einem russischen Arzt, die trotz jahrzehntelanger Trennung bestehen blieb. Er belichtet auch die besondere ärztliche und menschliche Persönlichkeit des bekannten Hermannstädter Kinderarztes. Am 14. Mai 2005 jährt sich sein Todestag zum 40. Mal. Ich zitiere im Folgenden aus dem - im Gegensatz zu mündlichen Erzählungen - knapp gefassten schriftlichen Bericht.
„... So eben kam eine Karte Gretels (Die Redaktion: Tochter Margarete Mederus, geb. Hager) vom 16.1. aus Moskau, in der sie berichtet, daß es ihr gut geht (...) Dr. Nikolai Nikolaewitsch Elanski nahm mit Dank von Gretel zwei Fotos vom 25.12.1917 in Empfang, die uns gemeinsam vor dem Regimentsunterstand des Hermannstädter K. u. K. Inf. Regt. Nr. 31 in einer Waldstellung vor Chotin in Bessarabien zeigt. Ich war damals Bataillonsarzt des 2. Baons und ging, gekennzeichnet durch die Rotkreuzarmbinde, mit unserem Dolmetscheroffizier während eines Waffenstillstandes (‚sie mußten zum Sowjet wählen‘) in die russische Stellung hinüber, um eine Abordnung ‚des Gegners von Gegenüber‘ im Namen des Regts. zu unserer Weihnachtsfeier einzuladen. Ich bedang mir dabei den ‚Kollegen von Gegenüber‘ aus. Als wir sie abholten, kam ein alter Oberst in abgetragener Uniform (ohne Epauletten) mit Auszeichnungen aus dem russ. japan. Krieg, ein junger Mappeur (Lette aus Riga, der ausgezeichnet Deutsch konnte und eine fulminante Rede für den Bolschewismus hielt (ohne Erfolg) und schließlich ein mit mir etwa gleichaltriger junger russischer Arzt: Dr. Elanski, 208 cm lang, elegant, Lackstiefel - wie von Thöny im Simplicissimus gezeichnet, der gut Deutsch sprach und mit dem ich mich eine Nacht hindurch ausgezeichnet unterhielt. Er war, während ich in Berlin studierte, Assistent bei Prof. Bier, schwärmte wie ich von ihm, las begierig in meiner Feldausgabe der Münchner Med. Wschr., erkundigte sich - so wie ich - nach allem - nach den Professoren, dem Flecktyphus, dem Urlaub - wie halt so an der Front. Nach Festessen und 20erlei polnischen Schnäpsen tanzten die Russen die Kosatschewka – unser kleines Orchester spielte auf - und brauchten keine Augenbinde mehr, als wir sie mit Mühe im Schnee durch unsere und ihre Drahtverhaue nach Hause schleusten.

Er war in jeder Beziehung Arzt, hatte sich im Umsturz behauptet (‚ich bin als Chirurg Schwerstarbeiter, sie brauchen mich bei ihren Messerstechereien, ich habe jetzt sogar drei Pferde mit ehemaligen Offizieren als Wärter‘ ... ‚meine Freunde‘).Ich dachte nicht, daß ich noch etwas von ihm hören würde. Es kam aber anders. 1937 sitze ich auf dem Internationalen Kongreß für das ärztliche Fortbildungswesen in Berlin neben Prof. Stradins-Riga. Wir sprechen von Rußland. Ich erzähle ihm von Elanski und bezweifle, dass er noch am Leben sei. Der springt auf: ‚Nikolai Nikolaewitsch!? Der lebt! Er war mein Konassistent bei Prof. Fedorow - er ist jetzt Dozent an der Petersburger Militärmedizinischen Akademie.‘ Ich frage: Wie war das möglich bei seiner Geisteshaltung? ‚Er hat den weißen Mantel niemals abgelegt und gearbeitet‘. - Die gemeinsame Postkarte haben wir zerrissen, um ihm keine Schwierigkeiten zu machen. Es kommt der 21. Dezember 1944! Ich sitze auf der Tauffeier eines 10 Tage alten Russenkindes, dessen Mutter – Frl. Leutnant - an die Front muß und das aus erklärlichen Gründen von der nach Hermannstadt geflüchteten Klausenburger staatlichen Frauenklinik mir als ‚Nachbarn‘ ins Säuglingsheim des Hermannstädter Kinderschutzvereins übergeben wurde. Ich überwand das russische Mißtrauen mit der Forderung nach Geburts- und Taufschein. Das Kind wurde daraufhin richtig orthodox getauft (!) und das russische Platzkommando lud mich und die Oberschwester, die Hebamme und einen Frauenarzt zum Essen ein - Rum aus Wassergläsern - Gesang - Tanz - Es wurde spät – Mutter ließ mich suchen. Einem dabeisitzenden verwundeten Offizier erzähle ich von Elanski und beschreibe ihn: 208 cm usw. Auch der springt auf: ‚Das ist ja der Chefarzt der Armee Jukow, der so eben hier in Hermannstadt die Militärspitäler eingerichtet hat. Er ist Generalarzt (Divisionsgeneral), er ist aber schon weiter, nach Arad.‘ Auf meinen Feldpostbrief, den mir der Offizier vermittelte - ich wußte schon vom 13. Januar (Anmerkung des Verfassers: Das war der Tag, an dem Zehntausende unserer Landsleute zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt wurden – darunter unsere Schwester Gerda“) - erhalte ich mündlich Antwort: Er wolle mich aufsuchen. - Er kam aber nicht - die Front ging weiter - Es kam der 13. Januar 1945 ...

1951: Mit der ersten rumänischen Ärzteabordnung fährt als einziger Kinderarzt auch mein Direktor (die Einrichtungen des Hermannstädter Kinderschutzvereins waren verstaatlicht und meinem Vater ein rumänischer Direktor vor die Nase gesetzt worden) nach Moskau. Ich schicke Grüße und erfahre Elanskis Adresse. Er ist Univ. Professor, Chef des Fortbildungsinstitutes ‚N. Burdienko‘ (der Chefarzt der russ. Feldarmee im letzten Krieg) an der Chirurg. Klinik in Moskau, Reorganisator der russ. Militärmedizin, Mitverfasser der ‚Kriegschirurgischen Erfahrungen‘ usw., scheinbar auch jetzt in hohem Rang.

Und jetzt liegt, die Karte Gretels vor mir, wo sie schreibt: ‚Lieber Vater! Über meinen Besuch hat sich Elanski sehr gefreut! Er läßt sich schön bedanken, will Dir schreiben. Euer Zusammentreffen hat er genau im Gedächtnis. Er hat mich zu sich eingeladen (aber ich habe wahrscheinlich keine Zeit). Er ruft mich noch an.“

Es gibt also auch so etwas. Ich sehe mir nachdenklich seine kyrillisch gedruckte Visitenkarte an und dazu mit gotischen Buchstaben: „Zur Erinnerung ans Weihnachtsfest in der Bukowina - vom Kollegen.“ - Meine Schwester Margarete Mederus fand Professor Elanski in Moskau, wie sie nachfolgend berichtet: „Während meiner Kindheit in Hermannstadt hatte uns mein Vater des öfteren von der für ihn sehr bewegenden Begegnung mit dem russischen Arzt Dr. Elanski zu Weihnachten 1917 erzählt. Sie verbrachten eine ganze Nacht bei angeregten Gesprächen und stellten fest, dass sie zur gleichen Zeit in Berlin studiert hatten. Sie seien in ärztlicher, menschlicher und weltanschaulicher Beziehung vollkommen konform gewesen. Beim Abschied habe er das Gefühl gehabt, sich von einem guten, ja sehr guten Freund zu trennen. Herkunft und Geisteshaltung Dr. Elanskis berechtigten zu großer Sorge um sein weiteres Schicksal während der russischen Revolution, doch brachten zufällige Begegnungen zu Vaters großer Freude Gewißheit, daß sein Freund überlebt habe. Ein Versuch zu brieflichem Kontakt schien viel zu gefährlich.

Eine Konzertreise mit der Bukarester Staatsphilharmonie nach Moskau bot nun die Möglichkeit, eine persönliche Kontaktaufnahme zu versuchen. Ich war als Absolventin der Bukarester Musikhochschule, nach bestandenem Staatsexamen und Solistenreife, der Bukarester Staatsphilharmonie als erste Geigerin zugeteilt worden und startete mit dieser im Januar 1958 auf eine Konzerttournee nach Rußland, Finnland und Schweden. Zu meiner ständigen Überwachung wurde mir eine regimetreue, kommunistisch orientierte Kollegin an die Fersen geheftet, mit der ich im Hotel zusammen wohnen mußte. In Moskau nutzte ich einen unbewachten Augenblick, verließ das Hotel heimlich über die Feuertreppe - mit Elanskis Adresse und einem Stadtplan von Moskau in der Handtasche - und konnte mich mit meinem Schul-Russisch bis zum Institut Burdienko durchfragen. Als Ausländerin gelang es mir, die ‚Barrieren‘ Pforte und Vorzimmer zu überwinden. Ich hatte großes Glück: Prof. Dr. Elanski war anwesend und empfing mich Als ein über 2 m großer Mann im weißen Arztkittel vor mir stand, gab es für mich keinen. Zweifel: Das war er!

Um mich zu legitimieren, zog ich die beiden Fotos aus meiner Handtasche, die meinen Vater und Elanski vor dem österreichischen Regimentsunterstand am 25.12.1917 zeigten, wies auf Vater und sagte: ‚Ich bin die Tochter dieses Mannes.‘ Sein überraschter Gesichtsausdruck wich schnell herzlicher Freude. Er breitete die Arme aus und einige Sekunden lang hatte ich das Gefühl, von einem Grizzlybären erdrückt zu werden.

Als wir uns nachher in seinem Arbeitszimmer gegenüber saßen, gewann ich den Eindruck, dass er sich genau an jene Begegnung erinnerte. Ich mußte von Vater erzählen, über sein Leben, ärztliche Tätigkeit und Familie. Er zeigte sich immer wieder überwältigt vor Freude und lud mich mit größter Herzlichkeit ein, ihn und seine Frau zu besuchen - so, als ob wir schon lange vertraute, befreundete Bekannte wären und er mich nicht erst jetzt kennengelernt hätte. Wegen meiner politischen Überwachung konnte ich der Einladung leider nicht folgen. Vaters Adresse notierte er sich sorgfältig und wollte ihm bald schreiben, was er dann auch tat. Auch schickte er ihm verschiedentlich Geschenke, z.B. einen Bildband der Tretjakow-Galerie mit Widmung, der heute noch in meiner Bibliothek steht und immer wieder Geigen-Noten für mich. Vater hat er herzlich eingeladen, ihn auf seiner Datscha zu besuchen, doch konnte er keine Reisebewilligung erhalten. So kam es zu keiner persönlichen Begegnung mehr, doch führten sie bis zu Vaters Tod einen regelmäßigen Briefwechsel, der für Vater immer eine große Freude war.“

Der russische Arzt Professor Dr. Elanski hat nicht nur in dem ihm höchst widerwärtigen kommunistischen System sein Leben bewahren können, sondern ist darin dank großer Begabung und unermüdlichem Einsatz zu höchsten wissenschaftlichen Ehren und militärischem Rang aufgestiegen. Auch bei ihm verblasste über Jahrzehnte hin nicht die Erinnerung an eine bewegende Begegnung mit einem Arzt, der einer anderen, damals feindlichen Nation angehörte, aber doch Angehöriger der gleichen humanistischen und ärztlichen Gesinnung war.

Dr. Hans Hager und Margarete Mederus, geborene Hager


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