19. Mai 2005

Norbert Kartmann: Kriegsende und Neuanfang für die Siebenbürger Sachsen

In seiner Festrede zur Eröffnung des Heimattages der Siebenbürger Sachsen betonte der Präsident des Hessischen Landtags, Norbert Kartmann, die besondere Rolle der Siebenbürger Sachsen im Prozess der Integration Rumäniens in die Europäische Union. "Rumänien ist ein Teil Europas und gehört selbstverständlich in die EU", betonte der väterlicherseits aus Siebenbürgen stammende CDU-Politiker. Kartmann ging auf die Bedeutung des Kriegsendes im Allgemeinen sowie die neuen Aufgaben ein, die sich speziell für die Siebenbürger Sachsen in den Nachkriegsjahren ergeben haben. Für sein Engagement für die europäische Integration und die besonderen Beziehungen zu Rumänien wurde Norbert Kartmann mit dem Goldenen Ehrenwappen der siebenbürgischen Landsmannschaft ausgezeichnet. Im Beisein des rumänischen Landwirtschaftsministers Gheorghe Flutur nahm der Bundesvorsitzende Volker E. Dürr die Ehrung im Rahmen der Eröffnungsfeier des Heimattags vor. Lesen Sie im Folgenden Kartmanns Ansprache.
Ich grüße Sie alle herzlich hier im Schrannen-Festsaal, aber auch alle Landsleute, die in den nächsten Tagen zu diesem Treffen hier nach Dinkelsbühl kommen. Zugleich überbringe ich die Grüße des Landtages und der Landesregierung meines Landes Hessen, mit einer kleinen Landsmannschaft, zweifelsohne, aber diese trägt dazu bei, dass wir den größten Anteil im Länderfinanzausgleich bezahlen.

Der hessische Landtagspräsident Norbert Kartmann während seiner Ansprache in Dinkelsbühl. Foto: Josef Balazs
Der hessische Landtagspräsident Norbert Kartmann während seiner Ansprache in Dinkelsbühl. Foto: Josef Balazs
Dinkelsbühl ist für die Siebenbürger Sachsen nicht nur ein Ort, an dem man sich einmal im Jahr trifft. Darüber hinaus ist es der symbolische Kern einer großen Gemeinde, die in Deutschland, in Österreich und in vielen Ländern der Welt Glieder hat, denen eines gemeinsam ist: die Herkunft oder die Abstammung aus dem "Land der Fülle und der Kraft", wie es im Siebenbürgen-Lied heißt.

Siebenbürgen - das ist nicht nur eine Region in Südosteuropa, es ist Heimat. Und gleich, ob es frühere Heimat, gewesene Heimat oder verlorene Heimat genannt werden mag - es ist und bleibt eine Wurzel des eigenen Lebens, die nicht verleugnet werden kann.

Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen ist ein Teil der europäischen Geschichte der letzten neun Jahrhunderte. Und immer war es eine Geschichte des Überstehens von Tiefen und des Bauens von Brücken. Das Motto des diesjährigen Heimattages zieht sich wir ein roter Faden durch diese Jahrhunderte.

Als die ersten Siedler - in dieses Land gerufen - sich dort niederließen, bauten sie eine Brücke, die bis zum heutigen Tage besteht, wenn auch heute unter anderen Vorzeichen - eine Brücke, die selbst die Teilung des Kontinents und die Diktatur der Unfreiheit nicht zu zerstören vermochte. Und immer wieder galt es in diesen über 800 Jahren Tiefen zu überstehen in diesem Teil Europas, der nicht selten politischer Brennpunkt der europäischen Geschichte war.

Am vergangenen Sonntag jährte sich zum 60. Mal der Tag des Endes des 2. Weltkrieges. Die historische Bewertung dieses Tages hat in unserem Land so manchen Disput erzeugt, am heftigsten 1985 mit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. War es der Tag der Niederlage, wie die einen empfinden, oder der Tag der Befreiung, wie die anderen in Anlehnung an diese Rede meinen? Heute, 20 Jahre später, mutet dieser Streit vielleicht seltsam und überflüssig an. Aber er hatte seine tiefere Bedeutung, weil wir daraus gelernt haben, die historische Beurteilung differenzierter vorzunehmen, den unterschiedlichen Empfindungen des Einzelnen mit größerer Toleranz zu begegnen.

Zweifelsohne - für Deutschland bedeutete der 8. Mai der Tag der Befreiung von der Diktatur des Nationalsozialismus, für viele, die die KZ's überlebt hatten war es die Befreiung aus den Fesseln unmenschlicher Gewalt und für viele Völker Europas war es letztlich die Befreiung von den Besatzern.

Und es war auch der Tag der endgültigen Niederlage. Nicht so sehr der militärischen, weit mehr der moralischen Niederlage und es legte sich das Bewusstsein von Schuld und Scham als eine große Last über unser Land.

Jedoch - und dies ist die andere Seite der gleichen Medaille - dieser Tag war für die Völker im Osten und Südosten Europas und für die Deutschen in den Siedlungsgebieten der Beginn von Unfreiheit, Vertreibung, Gefangenschaft und neuer Gewalt. Für die Deutschen in den ehemaligen deutschen Ostgebieten und den deutschen Siedlungsgebieten folgte dem Schrecken des Krieges der Schrecken der Vertreibung. Für sie war es sicherlich nicht ein Tag der Befreiung, im Gegenteil.

Für die Siebenbürger Sachsen war es der Anfang der über viele Jahre bestehenden Zerrissenheit und Trennung von Familien, war es die Verschleppung tausender Frauen in die unmenschlichen Arbeitslager der Sowjetunion und der Beginn der kommunistischen Diktatur. Im Rahmen dieses Heimattages wird mit einer Ausstellung und einer Gedenkveranstaltung an diese Gewalttaten und ihre Opfer gedacht und dies ist ein wichtiger, ein ehrlicher, ein ausgewogener Beitrag zur historischen Aufarbeitung der Vergangenheit.

Und letztlich war das Kriegsende der Anfang vom Ende der Einheit der Siebenbürger Sachsen im Karpatengürtel, denen das gleiche Schicksal widerfahren ist wie den anderen deutschen Volksgruppen in Ost- und Südosteuropa. Der Verlust der Heimat ist eine besonders grausame Folge der Hitler-Diktatur und des daraus entstandenen Krieges.

Und trotzdem - und es wähnt wie ein Wunder - gilt, dass auch diese Tiefe überwunden wurde. Sicher und auch sehr verständlich, es sind sichtbar Wunden und Narben geblieben und werden auch noch bleiben. Wie anders sollte es auch sein, zumal der Verlust der Heimat sich schrittweise vollzog. Die Soldaten, die nicht mehr zurückkehren konnten; die zähe und nervenaufreibende, von einer kommunistischen Diktatur zudem schamlos ausgenutzte Familienzusammenführung; die innere Zerrissenheit vieler bei der Suche nach der richtigen Entscheidung: bleibe ich oder gehe ich; und schließlich der Abschied, die Ausreise und der Neubeginn hier.

Tausendfach haben Männer, Frauen, Kinder, Familien über fast vier Jahrzehnte Tiefen überwunden und überstanden, ohne Brücken abreißen zu lassen. Die persönliche Anmerkung sei erlaubt, dass mich als 1949 hier Geborener nichts so sehr beeinflusst und geprägt hat wie die Teilhabe an dieser Entwicklung durch die Erlebnisse in der Geschichte der eigenen Familie.

Für die Siebenbürger Sachsen ist diese fundamentale Wendung ihrer Geschichte nach dem Krieg der Anfang neuer Aufgaben geworden. Die Pflege der eigenen Kultur und der eigenen Traditionen und die Bewahrung der Erinnerung sind heute die verbindenden Elemente dieser Landsmannschaft. Und sie sind die Pfeiler, auf denen die Brücke gebaut ist, die die Verbindung zur alten Heimat herstellt. Die Überwindung der Teilung Europas eröffnet somit neue Chancen, einen Beitrag zur europäischen Integration zu leisten.

Es ist erst 15 Jahre her, dass der Eiserne Vorhang fiel. Und es wurde in dieser geschichtlich gesehen kurzen Zeit etwas geschaffen, was sich kaum einer vor 1989 auch nur im Ansatz vorstellen konnte. Fast alle Staaten des früheren Ostblocks außerhalb der früheren Sowjetunion mit Ausnahme der Baltischen Staaten zu Recht gehören zum atlantischen Bündnis und zur EU. Und wir schicken uns an, Rumänien und Bulgarien ebenso in die EU zu integrieren. Auch wenn die Bedingungen zur Aufnahme vor allem von Rumänien bis zum heutigen Tage noch nicht in dem erforderlichen Maße erfüllt zu sein scheinen bzw. sind: dieser Prozess ist irreversibel. Und wir wollen Rumänien in Europa haben.

Die Siebenbürger Sachsen mit ihrer besonderen Beziehung zu Rumänien sind prädestiniert, diese Brücke mitzubauen und ihren Beitrag zur Integration Rumäniens in das gemeinsame europäische Haus zu leisten. Der Nachholbedarf in Deutschland bezüglich des Wissens über Rumänien, über die Deutschen, die früher dort gewohnt haben, die Siedlungsgebiete, die Landsmannschaften, ist groß wie auch der Nachholbedarf bezüglich Partnerschaften zwischen Bürgern, zwischen Gemeinden und Städten und Kreisen, zwischen Regionen, zwischen Schulen, Universitäten und Institutionen der verschiedensten Art. Wir, die Siebenbürger Sachsen, können dazu mannigfaltige Anstöße geben.

Geduld und Stetigkeit sind dabei notwendige Tugenden, die auch die Politik einbringen muss, wollen wir diese Länder nicht überfordern und unter falschen Druck setzen. Im Gegenzug muss klar sein, dass es der Erfüllung der gesetzten Bedingungen bedarf, um den Integrationsprozess erfolgreich zu gestalten. Dazu müssen wir viele Brücken bauen.

Der diesjährige Heimattag steht in diesem besonderen Jahr im Zeichen des Rückblicks und im Zeichen der Zukunft, deren Teil wir sind. Eine Zukunft, die der Jugend Europas Chancen bietet wie nie zuvor in der Geschichte dieses Kontinents. Sie wird sie erkennen und wird sie nutzen. Sie muss erkennen, und wir alle, dass das Wesentliche dieses gemeinsamen Europas nicht die ökonomische Frage ist, sondern der Frieden und die Freiheit.

Ich wünsche diesem Heimattag, dass er im Sinne des gewählten Leitbildes "Tiefen überstehen - Brücken bauen" von nachhaltigem Ertrag sein wird.

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