27. Juni 2005

Europa auf dem Prüfstand

Europa ist in den letzten Wochen wieder in Bewegung geraten. Die Krise der Europäischen Union birgt in sich die Chance, ein neues Schrittmaß zu finden und die Bürger besser einzubeziehen.
Nach dem doppelten Nein der Franzosen und Holländer zur europäischen Verfassung Anfang Juli scheiterte die Sommertagung des Europäischen Rates am 16. und 17. Juli in Brüssel. Der britische Premierminister Tony Blair forderte eine Kürzung der derzeit enorm hohen EU-Agrarsubventionen und beharrte zugleich auf dem "Briten-Rabatt", den sich das Königreich vor Jahren ausgehandelt hatte. Eine starre Haltung im Finanzstreit nahm auch der niederländische Premier Jan Peter Balkenende ein, der die Beiträge seines Landes an die Europäische Union zurückführen wollte.

Die Finanzverhandlungen seien am Egoismus einiger reicher Mitgliedsstaaten gescheitert, kommentierte Günter Verheugen, deutscher Vizepräsident der Europäischen Kommission, die Entwicklungen nach dem Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs. Der EU-Industriekommissar forderte mehr Zurückhaltung bei der künftigen Erweiterung. Über die bestehenden Zusagen hinaus könnten zur Zeit keine weiteren Versprechungen gemacht werden, sagte der SPD-Politiker der "Bild am Sonntag". Die mit Bulgarien und Rumänien bereits geschlossenen Verträge müssten allerdings eingehalten werden. Diese Verträge sehen die Möglichkeit vor, einen Beitritt zu verschieben, falls die Länder noch nicht beitrittsreif seien, betonte Verheugen. Über einen denkbaren Beitritt der Türkei könne frühestens in zehn Jahren entschieden werden.

In Deutschland führte die EU-Krise zu gegenseitigen Schuldzuweisungen der Parteien, die sich bereits für die für September 2005 angestrebten vorgezogenen Bundestagswahlen rüsten. Es müsse Schluss sein mit der überstürzten Erweiterungspolitik und der überbordenden Bürokratie in Europa, sagte Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU). Eine unionsgeführte Bundesregierung würde entsprechend handeln, kündigte Stoiber an. So würden die Gespräche mit der Türkei dann auf eine privilegierte Partnerschaft statt auf eine EU-Mitgliedschaft des Landes zielen. Der CDU-Europaparlamentarier Elmar Brok machte gar Bundeskanzler Schröder für das Scheitern des Gipfels mitverantwortlich, berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Schröder werde in Europa nicht mehr als verlässlicher Vermittler gesehen, sagte Brok. FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt plädierte für einen überarbeiteten und schlankeren Verfassungsentwurf. Darin liege die Chance für einen Neubeginn. Unter einem Rückfall in nationale Egoismen würden alle Staaten zu leiden haben, warnte Grünen-Fraktionschefin Krista Sager.

"Das Projekt Europa ist einmalig", betonte Bundespräsident Horst Köhler. Dass es nicht am Ende sei, gelte es nun deutlich zu machen, mahnte das Staatsoberhaupt.

Die EU-Krise wird immer mehr zur Grundsatzdebatte. Während die Briten keine Vertiefung der Union, sondern "ein anderes Europa" mit mehr Markt, also ein wirtschaftsliberales Modell bevorzugen, setzen sich Europäer mit intellektuellen Format wie Andrei Plesu für ein grundlegendes und klug durchdachtes europäisches Projekt ein. Der ehemalige Kultur- und Außenminister Rumäniens bewertete den französisch-niederländischen "Misserfolg" als Glück im Unglück, "das eventuell die weckende Wirkung einer kalten Dusche für die Brüsseler Technokratie haben kann. Früher oder später musste dieser Schock kommen", schreibt Plesu in der Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien. "Seit geraumer Zeit gaben wir uns damit zufrieden, stille und gelassene Zeugen einer gefährlichen und verderblichen Entwicklung zu sein: Europa ist zur Ideologie verkommen." Ideologie sei eine Form der Bürokratisierung des Denkens. "Dem Lebendigen wird mechanische Regelmäßigkeit aufgezwungen, Reflexion und Überlegung werden durch blinde ‚Zustimmung' ersetzt." Die Großartigkeit der europäischen Idee dürfe sich jedoch nicht von ideologischen Reflexen anstecken lassen, die Europäische Union müsse "ihre organische Frische, Natürlichkeit und menschliche Dimension wiederfinden. Ansonsten läuft sie Gefahr, unter einem Berg von Dossiers und Vorträgen aseptisch zu ersticken."

Der Kulturphilosoph Andrei Plesu zeigt sich zuversichtlich: "Das europäische Projekt wird neu kalibriert, eben weil es sich mit der derzeitigen Krise auseinandersetzen muss. Wachgerüttelt von der Gefahr, wird das europäische Projekt sein Schrittmaß neu bestimmen und zurück zur optimalen Fahrgeschwindigkeit finden - allerdings ausgestattet mit einem höheren Maß an Flexibilität und Weisheit."

Siegbert Bruss

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 10 vom 30. Juni 2005, Leitartikel)

Bewerten:

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.