14. Dezember 2001

"Wir Sachsen sind halt zäh, ein guter Schlag"

Die älteste Buchautorin Deutschlands, Helene Tietz (93) aus Draas, schreibt ihre von Improvisationstalent, Abenteuergeist und unbeugsamen Selbstbehauptungswillen geprägte Lebensgeschichte. „Meine fünf Leben“ - spannend erzählt von einer junggebliebenen Zeugin ihres Jahrhunderts.
Mit 79 Jahren erkundigte sich Helene Tietz nach den Aufnahmebedingungen für ein städtisches Münchner Altenheim. „Sie sind zu alt!“, sagte der Verwalter, „Sie können wir überhaupt nicht mehr nehmen“.
Heute, 15 Jahre später, lebt die Kriegerwitwe immer noch allein und ohne ständige Hilfe in ihrer kleinen Münchner Wohnung. Sie ist körperlich schwach, aber geistig hellwach. Der Beweis für Letzteres: Helene Tietz – 1907 in Draas/Siebenbürgen geboren – schloss mit 93 Jahren ihre Memoiren „Meine fünf Leben“ ab. Dieser Tage ist die Autobiographie der ältesten deutschen Buchautorin im Verlag „My favourite book“, Düsseldorf, erschienen.
„Wir Sachsen sind halt zäh, ein guter Schlag“, sagt die alte Dame lächelnd zu dem kleinen Wunder, in ihrem biblischen Alter ein Buch verfasst und sofort einen Verleger gefunden zu haben.
Ja, die Sachsen und Siebenbürgen. Voller Liebe erinnert sich die Tochter Karl Stephanis, des Güterdirektors der evangelischen Kirche Siebenbürgens, an ihre Kindheit und Jugend in Hermannstadt und das Sommerglück auf den Gütern. Mit fotografisch genauem Gedächtnis schildert sie prägende Eindrücke vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Kaleidoskop privater, aber auch die gesellschaftliche Realität widerspielgelnder Ereignisse.
Süßlich und altersverklärt ist dieses Buch nicht. „Wenn meine Kinder jammern und Hunger haben, schicke ich sie zum Wasser trinken, dann vergeht ihnen der Hunger“, hört sie die Waschfrau sagen. Der erste Flieger, der in Hermannstadt landet, 1916 die wochenlange Flucht mit hunderten von Tieren vor den ins k.u.k. Reich einfallenden Rumänen – es ist ein reicher Erinnerungsschatz.
Die Hälfte des Buches ist dem Leben in Siebenbürgen gewidmet. Obwohl Liebe und Fernweh die Achtzehnjährige schon 1926 ins brodelnde, Werte umstoßende Berlin der zwanziger Jahre ziehen. Lenchen Stephani hat beim Tanzkränzchen unter lauter jungen „Ochsen“ eine hübschen Dandy entdeckt. Erich Boyer, Waisenkind eines k.u.k. Oberst aus Kronstadt, ist kaum älter als sie und hat den Kopf voller Flausen. Als sie bei der Trauung in der Hermannstäder Stadtpfarrkirche niederknien, sind dem kleinen Reporter des Siebenbürgischen Tageblatts die Löcher in seinen Schuhsohlen peinlich. Er flüstert ihr aber auch zu: „Wenn ich will, werde ich Reichspräsident in Deutschland.“
Vater Stephani lässt sein „Medi“ ungern mit diesem unreifen Buben ziehen. Im Kuhdorf Mica'sasa (Fägendorf) lässt er den berühmten Orient-Express stoppen und überreicht den Hochzeitsreisenden unter Tränen einen Korb mit Früchten. Berlin – Not, 13 Umzüge aus Geldmangel, manchmal nichts zu essen für sich und die Kinder. 1938 lässt sie sich von dem den Nazis und eisiger Überheblichkeit verfallenen Mann scheiden.
Der Zweite Weltkrieg beendet das kurze Glück ihrer zweiten Ehe in München. Der Gatte fällt in Bessarabien, die Bomben zerstören ihr das Dach über dem Kopf. Fast mittellos baut die Witwe in eigener Regie ein Behelfsheim in Oberbayern, baut es unter jahrzehntelangen Entbehrungen nach und nach aus und verkauft es als 63-Jährige. Es zieht sie nach Spanien, ins Land ihrer Kindheitsträume. Mit einem Wörterbuch in der Hand kauft sie ein Grundstück, engagiert Arbeiter und baut sich ihren Traum vom Leben unter Palmen, von Freiheit und Ungebundensein. Sie lernt Hippies und Millionäre, Botschafter und Verrückte kennen. Mit einem schwulen französischen Grafen durchquert sie im hohen Alter Marokko.
Es ist eine Lebensgeschichte, geprägt von Improvisationstalent, Abenteuergeist und unbeugsamen Selbstbehauptungswillen, spannend erzählt von einer junggebliebenen Zeugin ihres Jahrhunderts.

A. B.


Helene Tietz, „Meine fünf Leben“, Verlag „My favourite book“, Düsseldorf 2001, 156 Seiten, 18 Euro, ISBN 3-9807769-8-0, schriftliche Bestellungen an den Verlag “My favourite book”, Humboldstraße 10, 40237 Düsseldorf, und über Internet www.my-favourite-book.com.
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